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Von der Barmherzigkeit zur Unterdrückung, vom Almosen zum Arbeitshaus: die erste vergleichende Darstellung eines der ältesten und zugleich aktuellsten Probleme der Menschheit in Europa von der Reformation bis zur Französischen Revolution.

Produktbeschreibung
Von der Barmherzigkeit zur Unterdrückung, vom Almosen zum Arbeitshaus: die erste vergleichende Darstellung eines der ältesten und zugleich aktuellsten Probleme der Menschheit in Europa von der Reformation bis zur Französischen Revolution.
Autorenporträt
Der Autor: Robert Jütte, geboren 1954; Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft, Dr. phil.; seit 1990 Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart; lehrt seit 1991 gleichzeitig als Honorarprofessor an der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin und Wissenschaftsgeschichte, vergleichende Stadtgeschichte, Alltags- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Medizin und Judentum. Zahlreiche Buchveröffentlichungen auf den genannten Gebieten.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der Stuttgarter Historiker, so Marion Lühe, hat hier eine Studie vorgelegt, die zwar wissenschaftlich nur wenig Neues bietet, dafür aber höchst lesbar ist. Ihre Besonderheit liegt zudem in dem "hervorragenden Überblick", den sie durch eine europäische Perspektive gibt. Die Rezensentin vollzieht in ihrer Besprechung die Hauptlinien der von Jütte dargestellten Entwicklung nach: sie reicht vom ursprünglich positiven Verhältnis zu den Armen als "Stellvertreter Christi" und Auslöser mildtätiger Handlungen bis zur Trennung von schuldhaft und schuldlos Armen, deren einer Teil zunehmend staatlicher Aussonderung, Zwang und Strafe anheim fällt, während der anderer Teil in den Dunstkreis staatlicher Fürsorge (die ihren pädagogischen Eifer bis heute nicht unterdrücken kann) gerät. Dabei weise Jütte zudem nach, dass sich die Sozialpolitik in katholischen Ländern weniger von denen der protestantischen unterschied und unterscheidet, als bisher angenommen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2000

Alles Strolche
Robert Jüttes europäische
„Sozialgeschichte der Armut”
„Sie leben fern der Kirche, gotteslästerlich, wider Gott”, heißt es in einer Flugschrift aus dem frühen 17. Jahrhundert über die Armen. Wer ihnen Almosen gibt, verursacht mehr Schaden als Nutzen, denn „es scheint, dass man dadurch nur eine Bande von Schwächlingen, Kneipengängern, Sittenstrolchen, Gaunern, Räubern und Dieben am Leben erhält, mit anderen Worten: ein ganzes Nest des Lasters. ”
Im Mittelalter hatten die Armen noch als untrennbarer Teil einer gottgegebenen Ordnung gegolten, als Stellvertreter Christi, die den Reichen einen Anreiz für Barmherzigkeit und Demut boten, als Objekte und Auslöser für mitleidige Handlungen – eine Einstellung, die sich zu zu Beginn des 16. Jahrhunderts grundsätzlich wandelte. Im Europa der Frühen Neuzeit richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmend auf die Bedrohung, die Arme für die politische und soziale Ordnung darstellten.
In seiner „Sozialgeschichte der Armut” hat Robert Jütte detailliert den tief greifenden Wandel der Wahrnehmung der Armen und der Armut in Europa zwischen Reformation und Französischer Revolution nachgezeichnet. Als die Zahl der Fürsorgeempfänger um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stetig anwuchs, begann man, in der Gesetzgebung zu unterscheiden zwischen Bedürftigen, die ohne eigenes Verschulden in Not geraten waren, und „unwürdigen Armen”, die selbst die Verantwortung für ihr Elend trugen. Während Witwen und Waisen, Alte und Gebrechliche, Kranke und Kriegsversehrte als unschuldige Opfer ihre Lebensumstände galten und stets auf staatliche wie kirchliche Unterstützung hoffen durften, wurden arbeitsfähige Arme als „Müßiggänger” geächtet und kriminalisiert.
Die veränderte Einstellung gegenüber der Not leidenden Bevölkerung spiegelt sich auch in der Sozialpolitik der frühneuzeitlichen Regierungen in ganz Europa wider. Im Unterschied zur älteren Forschung, die die Neuorganisation der Fürsorge in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts auf die Reformation zurückführte, betont Jütte die Gemeinsamkeiten protestantischer und katholischer Wohlfahrtspolitik. Sowohl in Territorien, die sich der Reformation anschlossen, als auch in überwiegend katholischen Gemeinwesen wuchs der Einfluss des Staates in der Fürsorge, löste eine zentral organisierte, rationalisierte Armenhilfe traditionelle Formen der privaten Mildtätigkeit und spontanen Almosengabe ab.
Hier wie dort ergriff man strengere Maßnahmen gegen das Betteln, wurden arbeitsfähige Arme bestraft, ausgewiesen, deportiert und in so genannten Besserungsanstalten einem strengen Arbeitszwang unterworfen. Die Gründung des Amsterdamer Zuchthauses im Jahr 1589 stellte einen Meilenstein in der Geschichte des neuen sozialpolitischen Programms dar, das seit den Arbeiten von Michel Foucault – vor allem der großen Studie über „Überwachen und Strafen” – als das „große Einsperren” bezeichnet wird.
Fürsorge und Unterdrückung
Gerade in Zeiten von außerordentlichem Mangel und Not verließ man sich jedoch nicht allein auf die Unterstützung durch staatliche und kirchliche Institutionen. Jütte betont die Bedeutung, die vielfältige soziale Netzwerke und gegenseitige Hilfeleistung unter Verwandten, Nachbarn, Freunden und Berufsgenossen in einer Zeit hatten, die keine Sozialversicherung kannte. Anhand zahlreicher Quellenbeispiele schildert er die Überlebensstrategien der „gewöhnlichen Armen”, denen als letzter Ausweg häufig nur der Weg in die Kriminalität blieb. Immer wieder gewährt er konkret Einblick in den Alltag der von Armut bedrohten Menschen, beschreibt ihre karge Ernährung, die schäbige Kleidung, die heruntergekommenen Wohnviertel, die dunklen, stickigen Zimmer, in denen ganze Familien hausen.
Das Hauptinteresse des Stuttgarter Historikers gilt indes der Entwicklung der Armenpflege zu einem machtvollen Instrument in den Händen der Obrigkeit, um Unruhen in der Bevölkerung in den Griff zu bekommen und soziale Disziplin durchzusetzen. Immer deutlicher zeigte sich in der europäischen Sozialpolitik des 17. und 18. Jahrhunderts die Ambivalenz von Fürsorge und Unterdrückung, Hilfe und Strafe, Zuckerbrot und Peitsche, mit der man abweichendem Verhalten der Unterschichten zu begegnen trachtete. Eingehend befasst sich Jütte mit den verschiedenen Strategien, die im Prozess der sozialen Ausgrenzung von Bettlern und Landstreichern Anwendung fanden – sie reichten von Verleumdung und Beschimpfung über das Tragen demütigender Abzeichen bis zu Brandmarkung, öffentlicher Auspeitschung und Zwangsarbeit.
Ein Anhang mit Kurzbiografien wichtiger und prominenter Sozialreformer, eine ausführliche Zeittafel zur Reform der Armenpflege und eine Auswahlbiografie beschließen das Buch, das sich ausdrücklich an einen breiteren Leserkreis wendet. Jüttes Darstellung enthält zwar nur wenig neue wissenschaftliche Erkenntnisse – dies räumt auch der Autor selber ein –, doch sie bietet in ihrer vergleichenden europäischen Perspektive einen hervorragenden Überblick über ein Phänomen, das nichts an Aktualität eingebüßt hat.
MARION LÜHE
ROBERT JÜTTE: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut. Aus dem Englischen von Rainer von Savigny. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2000. 324 Seiten, 68 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Mich fasst Verzweiflung, o Jammer und Not
Robert Jütte sorgt sich um die Armen / Von Jürgen Schmidt

Ich war hungrig, und ihr gabt mir zu essen, ich war durstig, und ihr gabt mir zu trinken; ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt, ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet." Wer nach dieser Regel gelebt hatte, konnte am Tag des Jüngsten Gerichts damit rechnen, auf der Seite der Gesegneten zu stehen. Das karitative Verhalten der mittelalterlichen Menschen war tief von dieser im Matthäus-Evangelium überlieferten Vorstellung geprägt: Im Bettler sah man das "Mittel zum Seelenheil der Reichen". Die Zunahme der Armen in den europäischen Ländern und eine veränderte Wahrnehmung der Armut drängten die caritas nach 1500 in den Hintergrund und schufen ein neues System der Fürsorge.

Robert Jütte hat diesen spannenden Wandlungsprozess in europäischer Perspektive beschrieben. Der Autor breitet sein Material in klassisch sozialgeschichtlicher Tradition nach Themen gegliedert aus. Das Erzählerische tritt zurück, im Vordergrund stehen Argumentation und strukturelle Analyse. Hierzu gehört auch ein vorsichtiges Abwägen, das zu differenzierten Aussagen nach folgendem Muster führt: "Die Wohngebiete in den Städten der Frühen Neuzeit waren nicht streng nach sozialen Gesichtspunkten getrennt, wenngleich es in einigen Städten eine Art Konzentration der Armut in den Vororten gab."

Faszinierend ist der Einblick in den Bedeutungswandel des Armutsbegriffes. Um 1500 sah man in einem armen Menschen jemanden, der am Rande des Hungertodes stand. Im siebzehnten Jahrhundert wurden diejenigen, die sich in die Obhut von Spitälern und Asylen begaben, als arm bezeichnet. "Und erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde ein klarer Trennstrich zwischen Armut einerseits und Mittellosigkeit andererseits gezogen, zwischen der Masse der werktätigen Armen und denen, die so mittellos waren, dass sie zum Lebensunterhalt auf Almosen oder die Fürsorge angewiesen waren." Mit dieser Ausdifferenzierung ging eine fundamentale Umdeutung einher: Auf der einen Seite standen jene ehrwürdigen Armen, denen aufgrund ihrer körperlichen Gebrechen das Recht zukam, Almosen zu empfangen, während man in den übrigen Armen Müßiggänger sah, die zu faul zum Arbeiten waren. Jütte verweist im Gegensatz zu der älteren Forschung darauf, dass die unterschiedliche Behandlung der Armen keineswegs allein auf die protestantische Arbeitsethik zurückzuführen sei, sondern sich auch in katholischen Ländern der Umgang mit den Armen und Bettlern änderte.

Kriegsversehrten, von Krankheit Gezeichneten, Witwen, Waisen und im Alter Verarmten wurde das Recht zugebilligt, von öffentlichen Institutionen unterstützt zu werden. Selbst diese relativ klar umrissene Bevölkerungsgruppe lässt sich zahlenmäßig nicht genau fassen. Traf lebenszyklisch bedingte Armut mit einer Teuerungs- oder Erntekrise zusammen, stieg die Zahl der Bedürftigen rapide an. Kriege und ihre Folgen taten ein Übriges. Jütte schätzt, dass in den europäischen Städten fünf bis zehn Prozent der Einwohner sich nicht selbst ernähren konnten. Auch wenn man diesen ehrbaren Armen Unterstützung angedeihen ließ, befand sich ihr Leben in einer prekären Schwebe. Bewarben sich zu viele Arme um die knapp bemessenen Unterstützungsleistungen, mussten sie damit rechnen, abgewiesen zu werden.

Jütte streicht daher die Bedeutung des sozialen Netzes heraus. Nur wer die individuelle Überlebensstrategie beherrschte, familiäre, nachbarschaftliche und freundschaftliche Hilfe zu verknüpfen, konnte in der Armut überleben. Dass diese Menschen dennoch in erbärmlichen Umständen lebten, zeigen die von Jütte spärlich zitierten Beispiele. Diese individuellen, plastischen Aspekte der Armut stehen allerdings nicht im Vordergrund. Jütte beschäftigt sich vielmehr ausführlich mit den organisatorischen Umgestaltungen. Zwei Modelle zeichneten sich ab: ein zentralistisches, in dem der Pfarrgemeinde mehr und mehr ihr Einfluss auf die Fürsorge entzogen wurde und die Stadt oder gar der Staat die Aufgaben koordinierten, sowie eine dezentrale Lösung, die den Pfarreien die Armenfürsorge ließ. Träger letzterer Organisationsform waren die Spitäler. Am Ausgang des Mittelalters gab es in Europa mehr als 15 000 solcher Einrichtungen. Sie wurden in den folgenden Jahrhunderten durch weitere Institutionen wie kommunale Leihhäuser ergänzt.

Sämtliche hier beschriebenen Hilfeleistungen blieben auf die ortsansässigen bedürftigen Armen beschränkt. Die übrigen Armen und Landstreicher, in deren Verhalten "sich das doppelte Problem der geografischen und sozialen Mobilität im Europa der Frühen Neuzeit spiegelt", wurden dagegen kriminalisiert. In England und Frankreich wurden durchziehende Bettler willkürlich verhaftet und in die neu gewonnenen Kolonien deportiert. Sozialpolitisch neue Wege betrat man schließlich mit der Errichtung von Arbeitshäusern, in denen durch Freiheitsentzug und Arbeitszwang die ehrlosen Armen auf den rechten Weg gebracht, aber auch unterstützt werden sollten. Mit dem Amsterdamer tuchthuis, das ein Modell für viele weitere solcher Einrichtungen abgab, wurde das Zeitalter des "großen Einsperrens" (Foucault) eingeläutet.

Wie es sich für eine Studie über Armut gehört, gibt sich Jütte bescheiden. "Nur Weniges wird völlig neu sein", schränkt er ein. Das trifft für das Fachpublikum sicher zu; da Jütte seine Synthese aber für einen breiten Leserkreis schreiben wollte, ist diese Bescheidenheit gar nicht nötig. Die Fachleser hätten sich hingegen die eine oder andere Ergänzung und Präzisierung gewünscht. In welcher Beziehung stehen die sehr gut beschriebenen Widerstandsformen und Verhaltensweisen der Bettler mit den von E. P. Thompson dargestellten Gerechtigkeitsvorstellungen einer moral economy des späten achtzehnten Jahrhunderts? Die Interpretation der Lebensweise der unwürdigen Armen unter dem Gesichtspunkt der Entstehung einer Subkultur bleibt inkonsistent. Schreibt Jütte bereits in der Einleitung, "dass sozial an den Rand Gedrängte eine Art Subkultur schufen", nimmt er im entsprechenden Kapitel diese These weitgehend zurück. Ein beachtenswerter biografischer Anhang zu wichtigen Sozialreformern der Frühneuzeit, eine ausführliche Zeittafel sowie ein Register runden den Band ab.

Robert Jütte: "Arme, Bettler, Beutelschneider". Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Aus dem Englischen von Rainer von Savigny. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 2000. X, 320 S., 13 Abb., geb., 68,- DM.

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