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Eine jüdisch-deutsche Familie 1967 in Hamburg. Ein sensibel-sinnliches Zeitbild, zugleich ein berührender Entwicklungsroman über die dreizehnjährige Ich-Erzählerin.
Sensibel erzählt die renommierte Publizistin Viola Roggenkamp die fiktive Geschichte einer jüdisch-deutschen Familie 1967 - ein berührender Entwicklungsroman über die 13-jährige Ich-Erzählerin Fania Schiefer.
Fania findet sich weder in ihrer deutschen Muttersprache noch in der deutschen Vaterstadt zurecht. Während der Vater, mit dessen Hilfe Mutter Alma und Großmutter Hedwig die Nazizeit überlebten, unter der Woche als
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Produktbeschreibung
Eine jüdisch-deutsche Familie 1967 in Hamburg. Ein sensibel-sinnliches Zeitbild, zugleich ein berührender Entwicklungsroman über die dreizehnjährige Ich-Erzählerin.
Sensibel erzählt die renommierte Publizistin Viola Roggenkamp die fiktive Geschichte einer jüdisch-deutschen Familie 1967 - ein berührender Entwicklungsroman über die 13-jährige Ich-Erzählerin Fania Schiefer.

Fania findet sich weder in ihrer deutschen Muttersprache noch in der deutschen Vaterstadt zurecht. Während der Vater, mit dessen Hilfe Mutter Alma und Großmutter Hedwig die Nazizeit überlebten, unter der Woche als Vertreter unterwegs ist, wacht Alma über die Familie, in der übergroße Nähe und der Wunsch nach Trennung vereint sind. Das Beziehungsgeflecht gerät durcheinander, als in Israel 1967 der Sechs-Tage-Krieg ausbricht und die Nachrichten über den Schah-Besuch sowie die ersten Berliner Studentendemos in die scheinbare Familienidylle platzen.

Autorenporträt
Viola Roggenkamp, in Hamburg geboren, aus deutsch-jüdischer Familie, Studium der Psychologie, Philosophie und Musik. Sie reiste und lebte mehrere Jahre in verschiedenen Ländern Asiens und in Israel. Als Schriftstellerin und Publizistin lebt sie heute wieder in Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2004

Goethe unter der Bettdecke
Bilder im Ohr: Viola Roggenkamps Debütroman

Viel vorgelesen zu bekommen gilt als entwicklungsfördernd. Ein herrlicher Zeitvertreib ist es außerdem. Was aber, wenn ein Kind lieber immer weiter zuhört, statt selbst mit dem Lesen anzufangen? Was, wenn es geradezu süchtig ist nach den Geschichten, die ihr die ältere Schwester abends vorliest?

Vera und Fania schlafen in einem Bett, auf der alten Schlafcouch der Eltern; Vera auf der Seite der Mutter, Fania auf der des Vaters. Fania liebt den Tag und seine hellwachen Ereignisse, ihre Schwester die Nacht mit ihren Träumen. Vera behauptet, sich an jeden Traum erinnern zu können: Damit und mit Spekulationen über "Bobbi", den fabelhaft schicken Deutschlehrer Wilhelm Bobbenberg, verbringt sie die Tage. Für Fania dagegen ist Lehrer Bobbi ein sehr reales Schreckgespenst. Denn Fania kann nicht richtig schreiben, oder vielmehr: Sie schreibt, doch ihre Wörter sind krumm und schief, ihre Aufsätze stets voll von roter Korrekturtinte. "Sprechen" etwa buchstabiert sie "schbrächn", und schon wollen Lehrer und Mitschüler sich ausschütten vor Lachen. Vera dagegen ist in Deutsch Klassenbeste; zu Hause sitzt sie und liest und ißt dabei und findet sich anschließend zu dick. Vera ist siebzehn und "in der Entwicklung". Fania ist dreizehn und wartet sehnsüchtig darauf, auch einen Busen und ihre Tage zu bekommen.

Es sind zahlreiche Werke über die Schoa geschrieben worden; genug wird es niemals geben können. Bücher über deutsch-jüdisches Leben nach 1945 dagegen gibt es nur sehr wenige, während etwa im angelsächsischen oder osteuropäischen Raum auch moderne jüdische Biographien häufig dargestellt wurden. Nun schildert die Journalistin Viola Roggenkamp in ihrem ersten Roman den Alltag einer deutsch-jüdischen Familie Mitte der sechziger Jahre in einer lädierten Villa in Hamburg-Harvestehude, und sie tut dies auf so behutsame, souveräne und eindringliche Weise, daß man "Familienleben" schon nach wenigen Seiten nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Nicht das Spektakuläre, das Außergewöhnliche oder Aufsehenerregende ist Thema dieses Romans, sondern das ganz normale, tägliche Leben, erzählt von der temperamentvollen dreizehnjährigen Fania. Ihre Perspektive geht nicht nach außen, sondern nach innen, denn auch Viola Roggenkamp schreibt aus der Mitte, nicht als Beobachterin vom Rand: Darin liegt die Stärke ihres Buchs. Fania schildert uns den Familienalltag wie eine beschwingte Theateraufführung, wo jeder seinen Platz und seine Rolle hat; sie selbst ist Teil davon, fühlt sich aber zugleich isoliert. Denn noch gehört sie nicht zu den Frauen, deren Beschäftigung mit Pumps, Nagellack und Lippenstift sie mit unbeteiligter Neugier beobachtet, und erst recht nicht zu den Erwachsenen, die Zigaretten rauchen, häufig über Geld reden und merkwürdige geschlechtliche Bedürfnisse haben. Vera steht ihr am nächsten, doch je mehr sich die Schwester zu einer jungen Frau mit eigenen Geheimnissen entwickelt, desto fremder erscheint sie Fania.

Als berückende Besucherin von einem fremden Stern erscheint bisweilen auch die Mutter, das quirlige, aufregend weibliche Zentrum der Wohngemeinschaft, die aus den Eltern Alma und Paul Schiefer, ihren Töchtern Vera und Fania sowie der Großmama Hedwig Glitzer besteht, Almas Mutter. Alma umzingelt ihre Schäfchen mit Liebesbeweisen; da wird immerzu geküßt und umarmt, gelacht und geweint, gesorgt und gezweifelt, jede Emotion geteilt. Doch was zunächst wie beneidenswerter Gefühlsüberschwang anmutet, ist in Wahrheit ein feinstgesponnener Kokon, der die Familienmitglieder vor der Außenwelt beschützen soll, die Töchter aber zusehends einengt. Je mehr aber Fania von der Geschichte Almas und ihrer Mutter, von den Gefahren, Entbehrungen und dem Leid des Kriegs preisgibt, von der Ablehnung der jüdischen Schwiegertochter durch Pauls Eltern, desto deutlicher wird, daß die Kußrituale einfach Almas Art sind, sich ihrer Familie zu vergewissern: eine Überlebensstrategie. Religiöse Bräuche, Gebete gar spielen für sie keine große Rolle; Pakete, die zum Pessach-Fest aus Israel eintreffen, sollen die Nachbarn allerdings lieber nicht sehen, findet Alma. Und besteht darauf, Weihnachten mitzufeiern, mit Tannenbaum und Gans, weil es so ein "schönes Fest" ist.

Die Spannungen erwachsen ebenso aus dem Umfeld der Schiefers wie aus der Familie selbst. Alma reibt sich an der Omnipräsenz ihrer Mutter; Vera lehnt sich immer mehr gegen die schöne, dominante Alma auf; Fania wiederum ist unglücklich, weil Vera unwiederbringlich von ihr weg in die Welt der Großen driftet. Alma ist besessen von dem Wunsch, das Haus zu kaufen, in dem sie wohnen, doch es fehlt an Geld. Und als Vera ausgerechnet mit dem Nachbarn Hainichen schäkert, wiegt für Alma weitaus schwerer, daß dieser Nazi war, als daß er verheiratet ist.

Durch die Großmutter und ihre Freundinnen, das "Theresienstädter Kränzchen", lernt Fania jüdische Riten und jiddische Ausdrücke kennen; von der Mutter hört sie, welches Entsetzen das Judentum über Familienmitglieder, Freunde, Verwandte und Bekannte gebracht hat. Und sie versteht, welch verstörende Kraft allein von bestimmten Worten ausgeht: "Juden. Es ist ein gutes Wort, ich mag es, Juden, und bei uns im Haus und im Garten darf es sich frei bewegen. Wie es aber aus dem Mund dieser Frau kommt, starren wir darauf, und Harald Schiefer sagt zu seiner Frau, nein Gudrun, so ist das ja nun nicht, was gewesen ist, ist gewesen." Auch, daß das Gewesene keineswegs vergangen ist, begreift Fania, die sich zu jedem Wort ein Bild vorstellt, auf ihre Weise: " . . . und auf einmal war da Frau Hainichen, und ich bin in sie hineingerannt. Sie wird denken, ich bin meschugge, meschugge denkt sie nicht, sie denkt verrückt." Sie selbst ist einigermaßen entschieden, was ihre Identität angeht: "Müßte ich wählen, würde ich immer ihre Seite wählen, jüdisch zu sein ist besser, als nicht jüdisch zu sein, besonders wenn man deutsch ist, und das sind wir außerdem." Vera bringt es auf den Punkt: "Kennst du das Gefühl, die anderen wissen gar nicht, daß es uns gibt. Sie gehen davon aus, daß es uns gar nicht mehr geben kann. Und wenn sie von uns hören, haben sie es im nächsten Moment wieder in sich ausgelöscht. Wir brauchen uns damit gar nicht vor ihnen zu verstecken, wie Mami es immer von uns verlangt. Wir könnten so oft sagen, wie wir wollten, daß wir jüdisch sind. Es hört uns niemand."

Während eine hervorragende Ausstellung im Frankfurter Haus Gallus derzeit - unter Polizeischutz - an den Auschwitz-Prozeß vor vierzig Jahren erinnert, erscheint Viola Roggenkamps Roman fast wie eine Ergänzung zur rechten Zeit, just als die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen in formelhafter Rhetorik und wohlfeilen Gesten zu ersticken droht. Denn auf der Suche nach den eigenen Wurzeln wird Fania unversehens zur Chronistin mehrerer Generationen: "Ein Berg von Geschichten. Ich trage die Schichten ab. Meine Mutter ist eine Geschichtenerzählerin, sie malt mir Bilder ins Ohr. Ich halte mein Herz an, um ihres schlagen zu hören, ich taste mich lautlos durch ihr heimliches Leben."

Diese tastende Bewegung ist es, die den Roman über viele kleine und größere Ereignisse hinweg zusammenhält. Viola Roggenkamp hat einen langen Atem. Ihre Fania erzählt wie jemand, der einmal tief Luft holt und dann loslegt, ohne Punkt und Komma zu einer Suada ansetzt, die nichts Klagendes hat, aber vieles berichtet, was den Leser nachdenklich zurückläßt. Nicht zuletzt ist "Familienleben" dabei ein zeitgemäßes Monument des jüdischen Erzählstils. Das Blumige, Ausufernde des Jiddischen, dieser jahrhundertealten Sprache, die auf ihrer Wanderschaft durch das Hebräische, Slawische, Aramäische, Altfranzösische und Altitalienische und natürlich das Deutsche immer beschreibungssüchtiger und wortmächtiger wurde, blitzt hier in manch berückender Passage auf. Und wie eine Verneigung vor dem jiddischen Witz wirkt der feinsinnige Humor, mit dem Viola Roggenkamp ihre Figuren schildert. Indem sie jene Erzähltradition aufgreift, die ihre Kraft aus dem fortwährenden Weitergeben von Erinnerung bezieht, schafft sie einen eigenen, atmosphärisch dichten Kosmos.

Dennoch soll nicht verschwiegen werden, daß dieser schöne, sinnliche und einnehmende Roman auch Schwachstellen hat, zumal gen Ende. Auf den letzten fünfzig Seiten verläßt die Autorin ihr bis dahin sicheres Gespür für Takt und Tempo. Zum Schluß läßt sie Fania ihre Sexualität entdecken. Daß dies mit der Mutter einer Schulfreundin geschieht, die ihr gerade die schwüleren Stellen aus den "Wahlverwandtschaften" vorliest, ist noch nicht das Schlimmste. Wenn die glaubwürdige, natürliche Erzählerin Fania zum Schluß völlig konstruiert wirkt, liegt das an Viola Roggenkamps hemmunglosem Gebrauch von Klischees - und an Sätzen wie diesen: "Sie ist keine Jüdin, die Jüdin bin ich, das weiß sie nicht. Ich will sie verführen, ich bin die Jüdin, die verführt, ich will sie küssen."

Die Goethe-Lektion hat Folgen. Nachts liest Fania heimlich unter der Bettdecke die "Wahlverwandtschaften" zuende und kann mit dem nächsten Aufsatz erstmals vor dem gefürchteten Deutschlehrer bestehen. Mit der ersten eigenen Lektüre beginnt ihr Abschied von der Kindheit.

Viola Roggenkamp: "Familienleben". Roman. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2004. 437 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2004

Mit Küssen gefüttert
In „Familienleben” erzählt Viola Roggenkamp von jüdischen Überlebenden im Nachkriegsdeutschland
Mit dem Küssen unter Familienmitgliedern ist es so eine Sache. Der eine mag es und genießt es, dem anderen ist es ein wenig peinlich, der dritte verabscheut es. Noch nie wurde in einer Romanfamilie so viel und so heftig geküsst wie bei den Schiefers. „Küsse”, berichtet die dreizehnjährige Erzählerin mit dem märchenhaften Namen Fania, „kursieren bei uns zu Hause als tägliche Währung. Wir fangen gleich morgens nach dem Aufstehen damit an, noch vor dem Frühstück, es gibt Küsse, die werden durch die Luft geworfen, zur Beschwichtigung, zur Beruhigung, zum Zeichen des Einverständnisses und zum Wiederfinden aus der Verlorenheit, meine Eltern füttern uns mit Küssen, und wir füttern sie, wir lecken ihnen ihre Unruhe aus dem Gesicht . . .” Vera, die vier Jahre ältere Schwester, übt mit Fania den Zungenkuss im Beisein ihrer Schulfreundinnen. Das Übermaß an oraler Intimität und physischer Nähe erfüllt in dieser Familie die lebenswichtige Funktion, Geborgenheit zu stiften und Ängste zu stillen, die im Dunkeln lauern.
Alma Schiefer, die Mutter, und Hedwig Glitzer, die Großmutter, sind Jüdinnen. Paul Schiefer, der Vater, Handelsvertreter für Brillengestelle, hat seine Frau und seine Schwiegermutter unter nicht näher erläuterten Umständen vor dem Holocaust gerettet. In einer maroden Villa im Hamburger Stadtteil Harvestehude spielt sich das „Familienleben” ab, das im gleichnamigen, autobiographisch inspirierten Roman der Journalistin Viola Roggenkamp wie auf einer Bühne vorgeführt wird: Ein Stück aus dem bundesdeutschen Nachkriegsalltag, fremd und doch vertraut, mit bekannten Requisiten ungewohnter Beleuchtung.
Wie die Überlebenden und ihre Kinder unter uns lebten, wie sie die selbstgefällige Zeit des Wirtschaftswunders wahrnahmen, wie sie ihre Identität kultivierten, von neuem suchten oder verleugneten, wie ihre Umgebung sich zu ihnen verhielt, davon hat in dieser Form bislang niemand berichtet. Die Perspektive der Dreizehnjährigen wirkt zwar gekünstelt, weil sie von der Gedanken- und Gefühlswelt der reifen Autorin durchsetzt ist und aufgetrieben wird wie ein Kuchenteig von der Hefe, aber sie begünstigt den Blick auf das Konkrete, sinnlich Fassbare, das Leben also, und entbindet vom Drang zu historischer Analyse und politischem Kommentar, dem ein sich erinnernder Erwachsener in der Erzählerrolle wohl nur schwer entgehen könnte.
In Fanias Welt kommt beinahe bilderbuchmäßig alles zusammen, was die Widersprüche und Spannungen in der Existenz einer jüdisch-deutschen Familie der sechziger Jahre zu illustrieren vermag. Das nicht ganz ehrenwerte Haus, dessen Erdgeschoss die Schiefers bewohnen, gehört einem ehemaligen SS-Mann, der mit Fanias Schwester anbandelt und dann auch noch die Tochter der im Keller lebenden Flüchtlingsfamilie schwängert. In der Dachwohnung haust eine alte Dame, die einst Paul Schiefer wegen Rassenschande angezeigt hat. Großmutter Hedwig hütet die Traditionen ihres Glaubens und trifft sich mit Freundinnen aus dem Altersheim zum „Theresienstädter Kaffeekränzchen”, während Mutter Alma, kettenrauchende Rebellin mit einem Faible für hautenge Kleider und leuchtendes Lippenrot, aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten ist und sich ihren Krabbensalat schmecken lassen möchte, obwohl er nicht koscher ist. Debatten über die Frage, was und wer jüdisch sei und warum, machen einen wesentlichen Teil der Familienkommunikation aus, in der leidenschaftliche Streitereien eine ebenso große Rolle spielen wie jene besitzergreifenden Zärtlichkeiten.
Dann ist da noch Pauls dumpfdeutsche Verwandtschaft, die sich ihre antisemitischen Gehässigkeiten nicht verkneifen kann, und da ist Almas lesbische Cousine Rosa, die Gerechtigkeit für die Ägypter im Nahostkonflikt fordert und in die DDR umsiedeln will, weshalb sie von Alma für „gestorben” erklärt wird. Der Handlungsreisende Schiefer, ein gutmütiger, defensiv auftretender Mensch, leidet still unter den Bemerkungen spießbürgerlicher Brillenkunden, während seine Gattin, von wunderbar cholerischem Temperament, sich im Warenhaus mit unfreundlichen Verkäuferinnen und pöbelnden Hausfrauen anlegt.
Im klebrigen Kokon
Der Familienroman soll mithin auch ein deutsches Sittenbild malen, und zwar eines von Anno 1967. Doch obwohl Sechstagekrieg und Schahbesuch, Studentenunruhen und Farah-Diba-Frisuren vorkommen und einmal sogar die Beatles Erwähnung finden, sind die atmosphärischen Valeurs jenes Umbruchjahres nicht eingefangen. Die detailfreudige, zum Teil reportergenaue Erinnerungsarbeit der Autorin transportiert das Kolorit der fünfziger Jahre, das in den Beginn der Sechziger herüberspielte (bezeichnenderweise jene Zeit, in der Viola Roggenkamp selbst so alt war wie ihre Ich-Erzählerin) und legt es wie einen zarten Grauschleier über ein Milieu, dessen Farbigkeit und Unkonventionalität im damaligen Deutschland geradezu exotisch angemutet haben muss.
Wer übertriebene Küsserei unter Verwandten nicht schätzt, wird sich freilich in diesem Harvestehuder Erzähltheater nicht recht wohl fühlen. Denn so, wie in der Villenwohnung die schöne Alma ihre eifersüchtige, überschwängliche Zuneigung gleich einer Klammer um ihre Lieben legt, umklammert Fania den Leser mit ihrem unentwegten, atemlosen Jungmädchenpathos und nötigt ihn immer wieder, ihr an Orte zu folgen, an denen der Mensch mit seinen Verrichtungen sonst lieber allein bleibt. Das Buch zieht uns mitten hinein in ein feuchtwarmes Biotop, einen ummauerten Garten voller Schlingpflanzen, einen mitunter etwas klebrigen Kokon, dem man sich entweder widerstandslos überlässt oder dem man alsbald sich zu entwinden trachtet, um Erstickungsanfälle zu vermeiden.
Denn der Roman, der Aufschlussreiches und Anrührendes aus einer jüdisch-deutschen Privatsphäre der Nachkriegsära mitzuteilen hat, ist leider auch ein Pubertäts-Epos von der kitschgefährdetsten Sorte. Die Suche nach der jüdischen Identität wird hier mit sexuellem Erwachen und weiblicher Selbstfindung zu einer Melange aufgekocht, die besonders dann schwer zu ertragen ist, wenn sie in einem hohen poetischen, zuweilen gar pseudo-alttestamentarischen Ton sich verströmen will und doch nur in angestrengte Metaphern fließt. Auf die ebenso schwüle wie unglaubwürdige Liebesszene zwischen Fania und der Mutter ihrer Schulfreundin hätte man gut verzichten können.
Dass danach nicht nur die sehnsüchtig erwartete Menstruation einsetzt, sondern auch eine geheimnisvolle Rechtschreibschwäche über Nacht verschwindet und die Dreizehnjährige einen brillanten Aufsatz über die „Wahlverwandtschaften” abliefern kann, weil ihre erotische Mentorin ihr auf der Chaiselongue daraus vorgelesen hat - das ist denn doch zuviel an feministischer Mythenpflege, und wenn tote Dichter sich wehren könnten, dann müsste der alte Goethe jetzt eine Szene hinlegen wie die allzeit aufbrausende Alma Schiefer.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
VIOLA ROGGENKAMP: Familienleben. Roman. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2004. 437 Seiten, 23 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Rezensentin Angelika Overath zeigt sich angetan von Viola Roggenkamps Roman "Familienleben", sie beschreibt ihn als "Entwicklungsroman und Sittenbild aus den sechziger Jahren". Im Mittelpunkt stehe das Alltagsleben der deutsch-jüdischen Familie Schiefer, deren Elterngeneration den Holocaust überlebt hat. Die Geschichten dieser Generation, so die Rezensentin, sind allerdings schon geschrieben worden. Das Neue an Roggenkamps Geschichte sei die Perspektive der Nachgeborenen, der "Kinder, die mit den Traumatisierten leben", die in deren "fremde Angst" eingeübt werden, bis sie von ihr mehr geprägt sind, als von "möglichen eigenen Erfahrungen", von denen sie aus Angst "künstlich abgeschirmt" werden. Am stärksten und gleichzeitig am literarischsten findet die Rezensentin das Buch, wenn Roggenkamp "das Detail ernst nimmt", wenn sie die Genauigkeit eines Reporters an den Tag legt. Am schwächsten und unglaubwürdigsten werde der Roman, wenn die Autorin zu sehr literarisch werden wolle, etwa in Fanias Traumfantasien, die der Rezensentin "beliebig" und aufgrund ihrer alttestamentlichen Sprache schon fast "komisch" vorkommen. Völlig unstimmig sei jedoch die Liebeszene zwischen Fania und einer Freundin ihrer Mutter. Auch leidet der Roman für die Rezensentin unter einer "prinzipiellen Schieflage": Einerseits schreibe die Autorin aus der Perspektive einer Dreizehnjährigen, andererseits aber wolle sie ein differenziertes Bild der Zusammenhänge geben und mische ihre eigene, reifere Stimme in die von Fania, die damit stellenweise unglaubwürdig werde. Alles in allem jedoch findet Overath den Roman "spannend" und "voller Alltagswitz".

© Perlentaucher Medien GmbH
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