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Alfred Irgang ist Sammler. Allerdings sammelt er nicht Briefmarken oder Antiquitäten, sondern schlichtweg alles, was ihm in die Hände fällt: alte Zeitungen, neuwertige Zahnprothesen und andere Dinge, die ahnungslose Vertreter der Wegwerfgesellschaft der Müllabfuhr überantworten. Entsprechend sind auch seine Wohnung und diverse Kellerabteile bemerkenswert angeräumt, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten mit der Hausverwaltungführt, ihn aber nicht daran hindert, weiter auf die Jagd nach Kostbarkeiten zu gehen. Weiß nicht ein achtlos entsorgtes Damenmieder ebenso viel zu erzählen wie ein…mehr

Produktbeschreibung
Alfred Irgang ist Sammler. Allerdings sammelt er nicht Briefmarken oder Antiquitäten, sondern schlichtweg alles, was ihm in die Hände fällt: alte Zeitungen, neuwertige Zahnprothesen und andere Dinge, die ahnungslose Vertreter der Wegwerfgesellschaft der Müllabfuhr überantworten. Entsprechend sind auch seine Wohnung und diverse Kellerabteile bemerkenswert angeräumt, was zu beträchtlichen Schwierigkeiten mit der Hausverwaltungführt, ihn aber nicht daran hindert, weiter auf die Jagd nach Kostbarkeiten zu gehen. Weiß nicht ein achtlos entsorgtes Damenmieder ebenso viel zu erzählen wie ein Biedermeiersekretär?Am Stammtisch, der eine Runde von Wissenschaftern und Kunstsinnigen zusammenführt, breitet er gern seine Schätze aus, was naturgemäß auf wenig Gegenliebe stößt. Als ihn ein "Arbeitsunfall" ans Spitalsbett fesselt, wittern sie die Chance zur Zwangsbeglückung.Mit feiner Ironie erzählt Evelyn Grill von einer sich gut wähnenden Gesellschaft, in der die Devise "leben und leben lassen"von der Gier nach Vereinnahmung eines Unangepassten zu Grabe getragen wird.
Autorenporträt
Evelyn Grill, geboren in Garsten, lebt als freie Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau. Zuletzt erschienen: Wilma (1994), Hinüber (1999), Ins Ohr (2002), Winterquartier (2004) und im ResidenzVerlag Vanitas oder Hofstätters Begierden (2005). Der Roman Vanitas wurde für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2006

Es ist alles so deprimierend
Sammelwut: Evelyn Grills Archiv des abgebrannten Lebens

Sie ist keine große Stilistin und keine Meisterin der raffinierten Form, aber sie bezieht ihre Selbstgewißheit aus dem Besitz eines bedeutsamen Stoffes. Sie schaut nicht rechts, nicht links, läßt ihre Prosa zügig voranschreiten, zielstrebig bewegt sich diese auf ein Ende zu. Ihr Konzept ist klar und stimmig. Evelyn Grill, Jahrgang 1942, erzählt eine Geschichte, mit Nebensachen gibt sie sich nicht ab. Sie schmückt Szenen nicht aus, sie meidet Umwege, betritt nie eine Seitengasse, die von der Hauptstraße des Erzählten ablenken würde. Alles, was ins Buch kommt, dient als Belegmaterial, um den Charakter von Alfred Irgang zu beschreiben. Was ihm, der eigentlichen Hauptfigur von der traurigen Gestalt, nützt oder schadet, erweckt ihr brennendes Interesse.

Evelyn Grill betritt die Bühne als gefühllose Sängerin von Leidenschaften, die in den Untergang führen, läßt aufhorchen mit der schaurigen Ballade des Unglücks, das über die Menschen verhängt ist. Kein Schicksal, das einfach hinzunehmen man genötigt wäre, hält die Figuren in seinem Klammergriff; alles, was geschieht, ereignet sich nach dem ausdrücklichen Willen aller Beteiligten. Das Drama des einzelnen, der mit dem Kollektiv in Konflikt gerät, spielt sich wieder einmal ab, und Evelyn Grill wacht darüber, daß alles seinen schlimmen Lauf nimmt.

Diese Autorin ist vernarrt in ihre Figuren, aber besessen von Alfred Irgang. Ihn läßt sie nicht aus dem Blick. Sie hegt und pflegt die anderen nur, damit sie ihrem Auftrag, Alfred Irgangs Weg vom Unheil ins Verderben zu begleiten, gar zu unterstützen, mit Eifer nachkommen. Sie agieren als Vollzugsbeamte einer Tragödie, die die Autorin schon längst für die Jammergestalt des Alfred Irgang vorgesehen hat, des großen Verweigerers gesellschaftlicher Verpflichtungen. Irgang leidet nicht unter Sammelwahn, sondern bezieht aus ihm höchsten Genuß. Im Wahn hat er seine wahre Heimat gefunden. Gegen ihn sehen die brav in ihrem Alltagsleben aufgehenden Universitätsprofessoren, Studentinnen, Schriftstellerinnen und Sozialpädagoginnen armselig aus.

Im Schreiben der Evelyn Grill treffen zwei Qualitäten zusammen. Sie arbeitet als heitere Satirikerin und als finstere Diagnostikerin des depressiven Zeitalters. Es herrscht Stillstand in der Gesellschaft, nirgends ein Aufbruch, weit und breit keine Utopie in Sicht. Das verbindet ihren Roman mit einem Teil der Literatur der jüngeren Generation, die kaltblütig ans Beschreiben der Welt geht. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, allesamt verkriechen sie sich in die kleine, übersichtliche Welt des Privaten, wo sie noch etwas gelten. Evelyn Grill straft die Gefolgsleute des Zeitgeistes mit Häme und umsorgt den Außenseiter mit der Zuneigung ihrer verstärkten Wahrnehmung.

Die Plappermäulchen und der von seiner Obsession Heimgesuchte, sie können zusammen nicht kommen, der Graben ist viel zu tief. Sie sitzen gemeinsam am Tisch des Nobelrestaurants "La Grotta", sie reden sogar miteinander, aber sie verstehen sich überhaupt nicht. So liefert Evelyn Grill Stimmungsbilder aus der Mördergrube des Herzens, wo niemals Frieden mit dem anderen geschlossen wird. Alle sind sie Sammler. Der eine sammelt alles, was ihm in die Finger kommt. Er durchstöbert die Mülltonnen und funktioniert seine Wohnung zum Basislager alles Ausgemusterten um. Er mietet sich Keller an, wo er das Unnütze hortet, keinen Joghurtbecher wirft er jemals weg, sondern er ordnet ihn, fein säuberlich beschriftet mit dem Datum des Verbrauchs, unter all seine Vorgänger ein. So entsteht ein Archiv des abgebrannten Lebens. Die verbrauchte Lebenszeit spiegelt sich im wachsenden Berg des Abfalls. Welch erschreckender Gedanke! Wir, die wir unseren Müll entsorgen, entfernen damit auch die stummen Zeugen der unwiederbringlich verlorenen Zeit aus unserem Blick. So bleiben wir unbehelligt von der Last der Vergangenheit. Der Sammler des Unrats aber ist der Hüter des Unschicklichen. Schon während seines Studiums kam Alfred Irgang auf keinen grünen Zweig, weil er aus dem Stadium des Sammelns von Material nie herauskam. "Er hätte eine Anlage zu einem Wissenschaftler gehabt, wenn er nicht beim Sammeln stehengeblieben wäre."

Dieser Mann ist die literarische Kontrastgestalt zur Schriftstellerin Evelyn Grill. Sie verfügt über einen ausgeprägten Begriff dafür, was der Aufzeichnung wert ist. Der Hauptfigur des Romans fehlt diese Fähigkeit zu differenzieren; alles, was ihm unterkommt, bedeutet ihm gleich viel. Er wertet nicht, erkennt keine Hierarchie der Dinge an. Irgendwo unter all dem Müll muß sich noch ein Beckmann-Gemälde befinden. Er schätzt es nicht höher ein als ausgebrannte Glühbirnen und leere Konservendosen. Die anderen sammeln Gutpunkte. Sie lassen nichts unversucht, um Irgang auf den rechten Weg zu bringen. Er, der aus gutbürgerlichem Haus stammt, verzettelt sein Leben, meinen sie, er existiere parasitär vom Erbe seiner Eltern. Seine Freunde setzen alles daran, ihn zu einem ordentlichen Mitbürger umzupolen, das rechnen sie sich als Verdienst an. Und damit lösen sie die Katastrophe aus.

Als Irgang längere Zeit im Krankenhaus zubringen muß, gestalten sie seine Wohnung, zu der bislang niemand außer seiner stummen Gehilfin Zugang hatte, gründlich um. Sein Müll-Lager verwandeln sie in ein Heim nach Art von "Schöner wohnen" - das Glück eines braven Bürgers, der Ruin des Alfred Irgang: "Als er allein war, begann ein solcher Schmerz in ihm zu wüten, daß er nicht zu sagen gewußt hätte, ob er körperlich oder seelisch war, der rüttelte in seinen Knochen, hinter seiner Brust, tobte in seinem Kopf; er rannte ins Badezimmer, erbrach sich in qualvollen Krämpfen."

Die Gesellschaft behält stets recht gegen den einzelnen. Alfred Irgang steht auf verlorenem Posten. Evelyn Grill nämlich läßt ihn und sein Eigentum mit der Gesellschaft und deren Überzeugungen kollidieren. Regelmäßig trifft sich die Gesellschaft in einem Nobellokal, wo sie bei Kerzenschein diniert. Dem Kollektiv ist das Dämmerlicht zugeschrieben, die Gespräche wirken benebelt, das Blickfeld ist begrenzt.

Alle sorgen sich um ihre Karriere, Alfred Irgang steht für die reine Existenz. Ihm geht es um nichts. Er kennt keinen Ehrgeiz und keinen Neid. Er kann nicht anders, das Sammeln bedeutet ihm seine einzige Lust, alles andere ordnet er ihm unter. Die anderen sind mit einem großen Ich ausgestattet. Ein Gegenüber ist für sie nur von Belang, wenn es der Steigerung ihres Selbstwertgefühls dient. Alfred Irgang denkt stets an die anderen. Wie ein Kind bedenkt er sie mit ausgewählten Fundstücken von seinen Stöbertouren durch die Müllcontainer der Stadt.

Evelyn Grills Roman "Der Sammler" ist keineswegs als realistischer Roman, der das Drama des Lebens abbildet, zu lesen, sondern als eine Parabel über den Preis, den die Einübung in das momentan gültige Gesellschaftsmodell fordert. Die Autorin erweist sich dabei nicht als Parteigängerin des Gewöhnlichen. Sie erzählt nämlich weniger vom tragisch gescheiterten Versuch der Heilung eines Kranken als von der Arroganz der Philister, einen Abweichler unter das Diktat der Normalität zu stellen.

Ein kleines ironisches Selbstporträt liefert die Autorin mit. "Sie kennt sich hier auch gar nicht aus", ereifert sich eine gute Bekannte über sie, "na ja, eine Österreicherin. Was sie schreibt? Erzählungen, Romane. Ich kann diese Sachen nicht lesen, es ist alles so deprimierend, das zieht einen so hinunter, wenn ich Dora Stein lese, möchte ich mich aus dem Fenster stürzen."

Gewiß, Trost bei Illusionen findet man in Evelyn Grills Büchern nicht. Aber sie teilt ihre Skepsis gegenüber dem Zustand der Welt derart unterhaltsam mit, daß niemand Gefahr läuft, sich zu entleiben. "Der Sammler" eignet sich gut als Einstiegsdroge in das Werk dieser zartbitterbösen Autorin.

ANTON THUSWALDNER

Evelyn Grill: "Der Sammler". Roman. Residenz Verlag im Niederösterreichischen Pressehaus, St. Pölten, Salzburg 2006. 235 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Evelyn Grills neues Buch erzählt die Geschichte von einem ungewöhnlichen Sammler, Alfred Irgang, der in seiner Wohnung alles aufbewahrt, was das Leben so abwirft, vom Joghurtbecher bis zu ausgefallenen Haaren. Dieser "Archivar des Lebens" fühlt sich ganz glücklich mit seiner Neigung, stößt aber auf die Unverständlichkeit seiner Umgebung, die ihn als krankhaften Fall betrachtet. Mit diesem Buch befasst sich die Schriftstellerin mit einem ihrer Lieblingsthemen, dem Sonderling, meint Jörg Magenau, der ihren "grotesken" und "unterhaltsamen" Roman und seine Figur in der Nähe von Jakob Heins "Herr Jensen" und Jan Faktors "Schornstein" platziert. Das Hauptmotiv dieses Buchs sieht der Rezensent in dem Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst, weil Irgang seine Wohnung nach ästhetischen Prinzipien zumüllt. Ein "hinterlistiger" Roman über die Entstehung von Kunst also, der laut Magenau mit "dezenter Ironie" und "kalkulierter Boshaftigkeit" glänzen kann. Nur zu ordentlich ist ihm die Geschichte über einen Müllsammler manchmal konstruiert, die Figuren zu effizient eingesetzt, die Namen und Szenen zu deutlich symbolisch aufgeladen.

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