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Produktdetails
  • Verlag: Müller (Otto), Salzburg
  • Seitenzahl: 159
  • Deutsch
  • Abmessung: 16mm x 117mm x 195mm
  • Gewicht: 308g
  • ISBN-13: 9783701310319
  • ISBN-10: 3701310319
  • Artikelnr.: 09853347
Autorenporträt
Christine Lavant, geb. 1915 in St. Stefan im Lavanttal, Kärnten, lebte mit Ausnahme von zwei Jahren im Geburtsort. Sie schrieb Lyrik und Prosa und erhielt zahlreiche Preise. 1954 und 1964 den Georg-Trakl-Preis für Lyrik und 1970 den Großen Staatspreis für Literatur. Die Autorin verstarb 1973.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2002

Mein Leben ist ohnehin ein einziges Grauen
Eine späte, große Entdeckung: Christine Lavants „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus” aus dem Jahre 1946
Im Oktober 1946 wird in Klagenfurt der Primar der „Landes- Irrenanstalt” hingerichtet. Als begeisterter Nationalsozialist hatte er aus der Männerabteilung seines Spitals zahllose Patienten der Endlösung zugeführt. Im selben Herbst beginnt in St.Stefan im Kärntner Lavanttal die bettelarme Christine Thonhauser, verehelichte Habernig, mit der Niederschrift ihrer „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus”. Ein Jahrzehnt zuvor war sie als Zwanzigjährige nach einem Selbstmordversuch freiwillig in jene „Landes- Irrenanstalt” gegangen und dort sechs Wochen mit einer so genannten „Arsenkur” und allerlei Schikanen, die damals für therapeutisch galten, behandelt worden. Das Unglück, vor dem sie ins Krankenhaus flüchtete, blieb ihr treuer Begleiter, und der Schrecken, den sie in der Anstalt erlitt, ließ sie zeitlebens nicht mehr los. Einzig in der Literatur vermochte dieses Kind der Armut, das sich als Dichterin Lavant nennen sollte, die Verzweiflung zu bannen – das Unglück, das schon immer um sie war, und den Schrecken, den ihr 1935 die Begegnung mit den über Leben, Gesundheit und Tod entscheidenden Statthaltern der Macht eingeflößt hatte.
Die Ich-Erzählerin, die sich aus ihrem Dorf in die städtische Klinik geflüchtet hat, um die lockende Selbsttötung kein zweites Mal zu versuchen, erlebt den Ort, an dem sie Verständnis, Zuspruch, Rat und Linderung erhoffte, als Vorhölle der Verdammnis. In der geschlossenen Frauenabteilung herrschen die nämlichen Klassenverhältnisse wie draußen. Da sind die vornehmen Patientinnen erster Klasse, eine „Contessa” und manche wohlhabende Bürgersfrau, die Kranken zweiter Klasse, deren Aufenthalt immerhin von einer Krankenkasse bezahlt wird, und schließlich die Irren dritter Klasse, für die finanziell die Gemeinde zuständig ist, in der sie gewohnt haben. Die starre Klassenstruktur der Gesellschaft ist im Irrenhaus geradezu karikaturistisch verhärtet, wenn sich etwa inmitten all der Weinenden, Delirierenden, Schreienden ein peinlich auf seine Respektierlichkeit achtender „Lehrerinnentisch” findet, zu dem niemand zu treten wagt, der nicht einst zu den besseren Kreisen und den „Studierten” gehört hätte.
Brillenträgerin
Die namenlose Erzählerin sucht einmal Aufnahme in dieser Runde, um mit irgendwem über ihre große Leidenschaft, die Bücher, sprechen zu können, doch wird sie sogleich vom Tisch gescheucht. Denn diese junge Frau, misstrauisch beargwöhnt, weil sie eine Brille trägt, freiwillig in das Krankenhaus gekommen ist und offenbar künstlerische Flausen im Kopfe hat, zählt zu den Missachteten, die sich in ihrer eigenen Gemeinde selbst als Irre deklarieren mussten, damit diese die Kosten der Internierung übernehme. Als der Gerichtspsychiater, der bei solchen, der Gemeinschaft zur Last fallenden Patienten zu Rate gezogen wird, sie sich wie ein seelenloses Stück vorgenommen hat, empfiehlt er den behandelnden Ärzten, sie mögen ihr einen „strengen Dienstplatz” als Hausmädchen verschaffen, der „immer noch das beste Mittel gegen Hysterie” sei. Da verrät die Krankenschwester, dass die Hysterikerin nicht arbeiten, sondern immer „nur dichten” wolle. Das höhnisch so genannte „Düchten” wird ihr daraufhin vom Amtsarzt untersagt, der sich nach der medizinischen nun auch über die gesellschaftliche Diagnose klar ist; das Irresein werde in Österreich noch endemische Ausmaße annehmen, „wenn heute jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprößlinge in Hauptschulen schicken” zu dürfen.
Christine Lavant entstammte selbst einer Bergarbeiterfamilie. Als neuntes, durch Tuberkulose und Skrofulose zeitlebens hinfällig gewordenes Kind wächst sie in drückender Armut auf. Trotz mangelhafter Schulbildung entdeckt sie die Literatur und gewinnt lesend ein anderes Bild von der Welt, von sich, vom Leben. Doch der Mann, den sie heiratet, ist meist arbeitslos, sodass sie sich und die Ihren mit Stickerei-Arbeiten durchbringen muss. In den „Aufzeichnungen” klagt die Erzählerin: „Mir wächst leider nichts am Leib als Armut, ungeschickt getragen, beschämend für mich und andere.”
Es geht aber nicht darum, diese Chronik des Entsetzens schlicht auf die Existenz der Dichterin Christine Lavant zu beziehen und sie vornehmlich als autobiographisches Dokument zu würdigen. So unübersehbar die vielen Bezüge sind, so dicht die Autorin bei ihrer eigenen Leidensgeschichte bleibt, die „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus” sind selbst für denjenigen eine beklemmende Lektüre, der sich bisher weder für die Dichtkunst noch das tragische Leben Christine Lavants interessiert haben mag. Nicht allein ein autobiographisches Dokument von schlagender Wucht ist zu rühmen, sondern ein Akt des Widerstands zu würdigen: Ein Mensch soll gebrochen werden und sammelt in der Sprache, in der Literatur jene Kräfte, die er braucht, um sich gegen die stupiden, bald auch schon mörderischen Mächte der Normalität zu behaupten.
Ungetröstet notiert die Erzählerin mit schmerzender und selbstverletzender Genauigkeit, was sie in der Anstalt sieht, hört, empfindet. Sie ist ungetröstet, aber auch ungebeugt; selbst wenn sie vor die Spitalsobrigkeit zitiert und vom großen Zittern gepackt wird, gibt sie sich nicht auf. Sie hört nicht auf, die Dinge mit traumscharfer Sensibilität wahrzunehmen und dem Elend, den Elenden ins Gesicht zu sehen.
Da ist Hansi, ein wunderschönes Mädchen, das die Nahrungsaufnahme eingestellt hat und sich dem Tod entgegenhungert; Nusserl, die junge Frau, deren Irrsinn im katholischen Österreich der dreißiger Jahre darin besteht, sich mit Männern eingelassen zu haben; die „Gekreuzigte”, die sich in der Pose des gekreuzigten Christus an die Wand drückt; die „Majorin”, eine herrische, unausgesetzt fluchende Aristokratin, die sofort von ihren ordinären Reden lässt und sich völlig verändert, wenn ihr Sohn sie besucht: „Wie Christus über das Wasser, geht diese Mutter in der Gegenwart ihres Sohnes über das Meer ihres Irrsinns.” Nach und nach erkennt die freiwillig Hospitalisierte, dass die sozialen Gegensätze in der Gemeinschaft des Leids aufgehoben werden: „Denn alle, wie sie hier sind, gehören innen, ganz weit über Haß und Abneigung hinweg, zusammen.”
Exakt wie die Kranken beschreibt die Erzählerin auch die Ärzte und Schwestern. Dankbar vermerkt sie den mitleidenden Blick eines alten, gütigen Arztes oder kleine Gesten der Anteilnahme bei einer warmherzigen Pflegerin. Häufiger aber spürt sie das Bedrohliche, das hinter routinierten Floskeln verborgen ist, das Gewaltsame, das unvermittelt durch die gut geübte Mildtätigkeit brechen kann. Wenige Jahre später werden sich auch in der Landes- Irrenanstalt Klagenfurt Ärzte für die „Tötung unwerten Lebens” hergeben. Zur Vorhölle, wie sie die Erzählerin erlebt und schreibend ausschreitet, gehören aber nicht nur Ärzte, Pfleger, Mitpatientinnen, sondern auch die Besucher. Etwa die eigene Schwester, die „gekommen war, mir wohlzutun, und Wohltuende sind immer sehr verletzlich und verändern sich leicht ins Gegenteil”. Nach sechs Wochen wird die Erzählerin als „geheilt” entlassen, und ihre Aufzeichnungen brechen abrupt ab.
Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider, die die Werke Christine Lavants in den letzten Jahren neu ediert und dabei manches Fundstück präsentiert haben, berichten in ihrem Nachwort, warum die Chronik so jäh endet. Als Lavant diesen konzentriertesten Extrakt ihres Lebens und Leidens um 1950 veröffentlichen wollte, verlangte ihr damaliger Verleger, sie möge die traurige Geschichte zu einem „frommen Schluss” bringen. Doch heißt es in den „Aufzeichnungen”: „Vielleicht verfluche ich mich mit jedem dieser Worte, aber dass ich sie schreiben muß, ist mir am Ende wohl aufgesetzt.” Ihren Worten eine christliche Wendung ins Tröstliche zu geben, wollte, durfte sich Christine Lavant nicht zumuten.
Das sie eine Chronik jener sechs Wochen verfasst hatte, war aus ihren Briefen und mancherlei Hinweisen bekannt. Das Manuskript musste aber als verloren gelten, bis es kürzlich eine Dissertation über die nahezu vergessene englische Autorin und Übersetzerin Nora Wydenbruck in deren Londoner Nachlass zu Tage förderte. Wydenbruck war 1951 in Österreich zu Besuch gewesen, hatte auch zur Lavant Kontakt aufgenommen und die „Aufzeichnungen” ins Englische übersetzt. Sie fand jedoch keinen Verlag und wurde überdies von der Dichterin 1958 geradezu flehentlich ersucht, ihr das Manuskript zurückzureichen.
Bitte, bitte, verehrte Frau
Was war geschehen? Nach den „Aufzeichungen”, die sie 1946 als ihr persönlichstes Prosawerk verfasste, hatte Christine Lavant sich der Lyrik zugewandt. Das Dorf, in dem sie weiter in randständiger Armut lebte, betrachtete es durchaus mit Misstrauen, dass sie langsam zu Ruhm kam und den Namen des Tales in die Welt hinaustrug. Alles an den „Aufzeichnungen” kann auch im Sinne eines Schlüsselwerkes gelesen und auf reale Personen im Umfeld der Dichterin, namentlich auf ihre Schwestern und deren Männer bezogen werden. Und gerade davor graute es Christine Lavant, die sich am 21.2.1948 mit einem herzergreifenden Brief an die wenig später verstorbene Nora Wydenbruck wandte: „Die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus dürfen nicht gedruckt werden.. .Bitte bitte verstehen Sie mich. Ich habe auf dieser Welt gar nichts mehr als meine Geschwister und diese würden durch die Veröffentlichung peinlich blossgestellt und ihre Ehen würden auch zerstört werden. Als ich dieses Manuss. schrieb und dem Verleger überliess, dachte ich ja, dass der Name Lavant mich für immer decken würde, dass niemand dahinterkommen würde, dass ich es bin. Jetzt aber ist alles in aller Welt bekannt. Bitte bitte verstehen Sie mich, Verehrte Frau, bitte! Schicken Sie mir das Manuss. zurück, verbrennen Sie die Übersetzung, um Christi willen bitte ich Sie darum.. .Mein Leben ist ohnehin ein einziges Grauen und wenn diese Aufzeichnungen nicht aus der Welt geschafft werden, muss ich auch vor der Todesstunde noch zittern.”
Nora Wydenbruck hat Christine Lavant das Manuskript nicht zurückgeschickt, diese aber aufgefordert, die „Aufzeichnungen” nicht zu vernichten, sondern für den eigenen Nachlass mit dem Vermerk aufzubewahren: „erst nach 30 (oder 50) Jahren veröffentlichen”. Erhalten hat sich der Text indes nicht im Nachlass von Christine Lavant, sondern in dem der Dora Wydenbruck. Über fünfzig Jahre nach ihrer Niederschrift, fast dreißig nach dem Tod der Autorin sind die „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus” jetzt aufgefunden und veröffentlicht worden. Aus längst vergangener Zeit sprechen sie ganz unmittelbar zu uns, weil sie von beidem zeugen: von der quälenden Not eines gedemütigten, todtraurigen Menschen – und von dessen trotziger Kraft, das Elend der anderen ernst zu nehmen und für die eigene Verzweiflung eine poetische Sprache zu schaffen.
KARL-MARKUS GAUSS
CHRISTINE LAVANT: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Otto Müller Verlag, Salzburg 2001. 159 Seiten, 15 Euro.
„Mir wächst leider nichts am Leib als Armut, ungeschickt getragen.” Christine Lavant.
Foto: Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten
Das Ziel der Verdammnis: Christine Lavants "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" / Von Harald Hartung

Die Entdeckung dieser verschollenen "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" verdankt sich einem merkwürdigen Zufall. Im November 1959 strahlte die BBC eine Funkerzählung aus. Ihr Titel war "Asylum Diary", Sprecherin die Schauspielerin Joan Plowright. Die Verfasserin des Skripts jedoch konnte die Sendung nicht mehr erleben. Nora Wydenbruck, die 1894 in London geborene und in Kärnten und Wien aufgewachsene Übersetzerin und Schriftstellerin, war wenige Monate zuvor gestorben. Bei der BBC hat sich kein Band der Sendung erhalten. Der "Asylum Diary" zugrunde liegende Text war kein Original, sondern die Übersetzung einer Erzählung Christine Lavants. Sie hätte weiter im Nachlaß der Funkautorin geschlummert, wäre es nicht - fast vierzig Jahre später - zu einer Dissertation über Nora Wydenbruck gekommen. Im Verzeichnis des Nachlasses fand sich bei den Lavant-Materialien der Eintrag: "MS deutsch ohne Titelblatt (es beginnt mit "Ich bin auf Abteilung ,Zwei'. Das ist die Beobachtungsstation für die ,Leichteren', und man kommt eigentlich für rechts wegen nur hinein, wenn man ,Drei' schon hinter sich hat . . .")."

Daß es von der Lavant ein Manuskript mit "Aufzeichnungen" gab, wußte man aus Briefen und anderen Zeugnissen. Daß für das erhaltene "MS deutsch ohne Titelblatt" der Titel "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" zu ergänzen ist, erfahren wir jetzt erst aus einem Brief Christine Lavants. Am 21. März 1951 schreibt sie an Nora Wydenbruck: "Um auf Ihren schönen Plan zurückzukommen: Den ersten Teil des ,dicken' Buches ergäbe das ,Krüglein', den zweiten das ,Kind' und auch der dritte wäre meines Erachtens schon da, nämlich in den ,Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus'."

Das "dicke Buch" sollte eine Trilogie aus den erwähnten Titeln werden. Nora Wydenbruck hatte dafür als Titel "The Unlettered Child. A True Story" vorgesehen, also etwa "Das ungebildete beziehungsweise unverbildete Kind. Eine wahre Geschichte". Aber trotz ihrer Bemühungen in Vorträgen und Artikeln sind weder das Buch noch einzelne dieser Texte in England erschienen.

Auf deutsch dagegen lagen zwei der Erzählungen bereits vor: "Das Kind" und "Das Krüglein" waren 1948 beziehungsweise 1949 in dem kleinen Stuttgarter Brentano-Verlag erschienen. Und auch für die 1946 geschriebenen "Aufzeichnungen" hätte sich eine Publikationsmöglichkeit geboten. In dem erwähnten Brief an Nora Wydenbruck heißt es dazu: "Mein Verleger war seinerzeit begeistert davon nur wollte er absolut einen ,frommen' Schluss dazu haben. Der ist mir allerdings bis jetzt noch nicht gelungen. Freilich trage ich mich mit der Absicht, die ,Aufzeichnungen' weiter zu führen nur bedürfte ich dazu Ruhe und Zeit weil ich nimmer wie früher überquellend von innerem Muss bin, welches sich weder um Sorgen des Alltags noch um irgendwelche seelischen Bedrängnisse kümmert. Meines Erachtens müsste der Schluss des Buches so geartet sein, dass das Ganze unter dem Titel und dem Sinne ,Das Ziel der Verdammnis' herauskommen könnte."

Der "fromme Schluß" wurde nie geschrieben, und auch aus der Erweiterung als "Ziel der Verdammnis" wurde nichts. Die Erzählung blieb Fragment. Doch gibt es im Lavant-Nachlaß offenbar zwei weiterführende Texte, die mit den "Aufzeichnungen" zusammenhängen. Warum sie jetzt nicht mitgedruckt wurden, wird nicht recht deutlich. Von ihnen heißt es in einer Anmerkung etwas sibyllinisch: "Ihr Zusammenhang wird an anderer Stelle darzustellen sein." Wie auch immer; und alle Philologie beiseite: Die Frage bleibt, warum die Lavant den Text nicht vollendet und oder zumindest in seiner fragmentarischen Form publiziert hat.

Nora Wydenbruck, die Lavants Bedeutung erstaunlich früh erkannte, hatte die "Aufzeichnungen" immerhin "die beste Ihrer Prosaarbeiten" genannt. Es war die Autorin selbst, die die Lust oder, besser, den Mut zu einer Veröffentlichung verlor und ihre Übersetzerin im Februar 1958 inständig beschwor, das einzige Manuskript, das sich in ihren Händen befand, zurückzuschicken und sogar die Übersetzung - "um Christi willen" - zu verbrennen: "Mein Leben ist ohnehin ein einziges Grauen und wenn diese Aufzeichnungen nicht aus der Welt geschafft werden muss ich auch vor der Todesstunde noch zittern."

Es waren weder literarische Gründe, etwa eine überstarke Selbstkritik, die Christine Lavant zu dieser beschwörenden Bitte bewogen, noch gar religiöse Motive. Es waren soziale Ängste; und sie waren keine Phantome, sondern durchaus gerechtfertigte Befürchtungen. Christine Habernig, geborene Thonhauser, hatte früh erfahren, was Isolation und soziale Ausgrenzung bedeuten. Als neuntes Kind in einer Bergarbeiterfamilie aufgewachsen, von Kindheit an durch Skrofulose und Lungentuberkulose behindert, in ihrer Ausbildung auf Volks- und Hauptschule beschränkt, war der passionierten Leserin die Literatur und vor allem die Lyrik Rainer Maria Rilkes zum entscheidenden Erlebnis und zum Anstoß des eigenen Schreibens geworden.

Bis auf wenige Jahre in Klagenfurt verbrachte die Dichterin ihr Leben in dem kleinen Ort St. Stefan im Lavanttal, wo sie sich und ihren Mann über Jahre durch Strickarbeiten erhielt. Das Pseudonym, das sie mit dem Namen des Tales wählte, scheint sie nicht allzu lange vor Zudringlichkeit, ja Neid und Haß der dörflichen Umwelt bewahrt zu haben. Schon 1951 bedauert sie in einem Brief an Nora Wydenbruck die bisherigen Publikationen von Erzählungen und Gedichten. Sie wagte sich nicht aufs Postamt und fürchtete die Kirchleute zu treffen. Sie schreibt: "Das ist das Schwere wenn man als Dichter nur aus der Wahrhaftigkeit etwas holen kann, dass man dann Vorgänge blosslegt und in die Öffentlichkeit bringt, die besser verborgen bleiben." Und der spätere, der beschwörende Brief vom Februar 1958 nennt sehr konkrete Gründe für den Verzicht auf die Publikation der "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus": "Ich habe auf dieser Welt gar nichts mehr als meine Geschwister und diese würden durch die Veröffentlichung der Aufzeichnungen peinlich blossgestellt und ihre Ehen würden auch zerstört werden."

Man begreift, es war keine Übertreibung. Die Lektüre zeigt es, noch fünfzig Jahre später. Die Ich-Erzählerin und auch das andere Personal sind, für jeden Leser erkennbar, nach der Realität gezeichnet, zudem einer leicht aufschlüsselbaren. Die junge Frau, die auf Abteilung "Zwei", die Beobachtungsstation für die "Leichteren", kommt, obwohl sie von Rechts wegen dort nicht hineingehört, weil sie die obligate Station "Drei" noch nicht hinter sich hat, wird nicht nur deshalb von ihren Mitpatientinnen mit Mißtrauen verfolgt - sie ist auch sonst ein Ausnahmefall, ein Sonderfall. Sie hat Augengläser und eine Aktentasche, und die Schwestern sagen "Sie" und "Fräulein" zu ihr, und für den Primarius ist sie der erste Fall in seiner Praxis, der aus eigenem Antrieb, nämlich wegen eines Selbstmordversuchs, gekommen ist. Freilich nicht als zahlende Privatpatientin, sondern auf Kosten ihrer Heimatgemeinde, und das deklassiert sie von vornherein bei ihren Leidensgenossinnen.

Das gesellschaftliche Zwangssystem der Anstalt ist der verstärkte Reflex auf die Gesellschaft draußen. Die Zwangsjacke ist nicht Metapher, sondern Realität. Die Erzählerin, die einem Psychiater vorgeführt wird, muß befürchten, daß die Gemeinde, die für die Kosten aufkam, auch die Bestätigung einfordert, daß sie tatsächlich verrückt ist. Auf die Frage des Psychiaters, warum sie nicht arbeite, kommt die Stimme der Oberschwester: "Sie will ja nur dichten." Das darauf folgende Gelächter entspannt die Situation und lenkt die Erörterung ihres Falles auf die konventionelle Vorstellung, ein strenger Dienst in irgendeinem Haushalt sei das beste Mittel gegen Hysterie. Aber die Erzählerin weiß es anders: "Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten, und es war eine Sünde, ein geistiger Hochmut, so zu tun, als wäre ich es nicht."

Sie ist nicht verrückt und tut auch nicht so, doch sie erlebt die Anfälle ihrer Leidensgenossen sympathetisch, wenngleich mit voller Klarheit und Deutlichkeit. Sie leidet mit Agnes, der Gekreuzigten, und wendet sich liebevoll dem Mädchen Renate zu, das jemand liebt, der Himmelsschuhe machen kann. Sie erklärt der Frau Cent von der schweren Abteilung Drei, aus der ein Jünger Buddhas spricht, daß es nicht bloß sieben, sondern neun Himmel gebe, und läßt sich - aus Mitleid, aber auch um sie loszuwerden -, zur Behauptung hinreißen, daß sie selbst ein Medium sei: "Nicht wahr, man schreibt ja nicht selbst, sondern irgendwer schreibt in uns, weiß Gott, was für hohe Weisheiten da noch zu Tage kommen können." Die Erzählerin ist aber kein Medium, sondern eine unbestechliche Analytikerin, deren Klarsicht durch Mitleid und Empathie ungetrübt bleibt. Es ist die Nüchternheit ihrer Beobachtung, die freilich zu äußersten Schlüssen führt, zu der Frage: "Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem die Aufgabe, Dinge, die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürften, hier auf Erden zu verhindern?"

Auf diese Frage findet der Text keine Antwort. Wohl deshalb bricht die Erzählung nach der Schilderung des sechswöchigen Aufenthalts in der Irrenanstalt ab: "Man hat mich geheilt hier. Ja, ich muß wohl annehmen, daß ich geheilt bin, denn man behält mich nicht mehr hier, obwohl der Gerichtspsychiater mir ein Jahr mindestens bewilligt hat." Christine Lavant muß eine Fortsetzung, ein größeres Ganzes im Auge gehabt haben und mit ihm den ambitionierteren Titel "Das Ziel der Verdammnis". Ihrer freundschaftlich gesinnten Londoner Briefpartnerin schreibt Lavant: "Aber merken Sie wohl, liebe gütige Dame, wie weit dieser Weg noch ist? Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben und müsste also vorher die Hölle hinter mich gebracht haben und dem Ziel irgendwie nahe sein."

Was die Lavant als Weg schreibend hinter sich gebracht hatte, ist durch Tatsachen belegt. Man kann sie im Nachwort nachlesen. Eine Krankenakte belegt, daß sie als Zwanzigjährige nach einem Suizidversuch im Herbst 1935 freiwillig sechs Wochen in der Klagenfurter "Landes-Irrenanstalt" gewesen ist und dort mit einer Arsenkur behandelt wurde. Und wo es solche Fakten gibt, lassen sich auch in der Personnage genügend Vorbilder nachweisen, die die Furcht der Autorin berechtigt erscheinen lassen, ihre "stückweisen Spiegelbilder" möchten als reale Wiedergänger, als Fratzen der Realität auf sie eindringen. Der Abstand von zehn Jahren und die literarische Stilisierung hätten nichts bewirkt. Auch Nora Wydenbruck sah das wohl ein und schlug der Dichterin vor, sie solle das Manuskript nicht vernichten, sondern mit dem Vermerk "Erst nach dreißig (oder fünfzig) Jahren veröffentlichen" ihrem Nachlaß einordnen. Freilich schickte sie das Manuskript nicht zurück - oder kam nicht mehr dazu.

Kommen die "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" nun zur rechten Zeit? Ich denke schon. Das Fragment, das wir in Händen halten, konkurriert nicht mehr mit jenem Stück Weltliteratur, das mit dem Titel "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" prekäre Vergleiche nahelegt. Wir lesen es als ein wichtiges Dokument aus dem Schaffen einer Autorin, die damals, in den fünfziger Jahren, als das Autodafé erwogen wurde, die Prosa aufgab und sich anschickte eine große Lyrikerin zu werden. Der erste ihrer reifen Gedichtbände, "Die Bettlerschale", erschien 1956. "Ich will das Brot mit den Irren teilen, / täglich ein Stück von dem großen Entsetzen", beginnt eines dieser Gedichte, und der Vers erhebt sich über das faktisch Erlebte und prosaisch Dokumentierbare und also auch über alle sozialen Rücksichtnahmen: "Meine Flügel sind älter als deine Geduld, / Meine Flügel flogen dem Mut voraus, / der das Irren auf sich nahm."

Thomas Bernhard, dessen autobiographischer Text "Ein Kind" auf einen Titel der Dichterin anspielt, nahm das Gedicht in seine Auswahl von Lavant-Gedichten auf. "Dieses Buch" - so Bernhard seinerzeit - "ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist."

Christine Lavant: "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Otto Müller Verlag, Salzburg 2001. 160 S., geb., 29,50 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"Christine Lavant sei besser als" Ingeborg Bachmann, zitiert Rezensent Hans-Peter Kunisch den Dichter Thomas Kling aus seinem "eitlen Ingeborg-Bachmann-Hass-Aufsatz", den er anlässlich des 25. Todestages der Schriftstellerin vor einigen Monaten veröffentlicht hatte. Recht hat er, denkt der Rezensent, der sowohl von der Lyrik als auch von der Prosa tief beeindruckt ist, die die 1915 im Kärntner Lavant-Tal geborenen Christine Thonhäuser, die sich nach ihrem Herkunftsort nannte, hinterlassen hat. Mit 20 Jahren unternahm die Schriftstellerin einen Selbstmordversuch und ließ sich für einige Wochen in die Psychiatrie einweisen. Ihre Aufzeichnungen dieser Zeit, berichtet Kunisch, sind nach Lavants eigenen Angaben erst 1946 entstanden. Nun sind sie aus dem Nachlass ihrer Londoner Übersetzerin Nora Purtscher-Wydenbruck veröffentlicht worden. Das Buch liest sich, meint Kunisch, "wie ein Spionageroman über Irre". Ohne "dick aufzutragen" habe Lavant eine "Erkundungsreise mit ungewissen Ausgang" unternommen, geschrieben "aus der Sicht eines hyperempfindlichen Ichs". Einzig das Ende dieser "außergewöhnlichen" Aufzeichnungen dieses "weiblichen Hiob" hat den Rezensenten "enttäuscht". Denn hier wird, so Kunisch, "der Grund" für Lavants Psychiatrieaufenthalt" dann doch noch verraten.

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"... die Beschreibung eines Kampfes um Humanität, der Scharfsichtigkeit und Sanftmut auf eine rare und berührende Weise verbindet." Falter, Klaus Nüchtern