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Gershom Scholems aus dem Nachlaß edierten Tagebücher machen mit den Anfängen der intellektuellen Entwicklung des großen jüdischen Gelehrten bekannt. Scholems Lebensweg führte Von Berlin nach Jerusalem. Die im 1. Halbband veröffentlichten Tagebücher 1913-1917 dokumentieren die Berliner Jahre des jungen Scholem. Die Tagebücher 1917-1923 zeigen Scholem in Jena, Bern und München, wo er sein Studium der Mathematik und Philosophie fortsetzte. Die Aufzeichnungen dieser Zeit von 1917 bis 1923 - dem Jahr, in dem er nach Jerusalem ging - zeugen davon, wie Scholem sich allmählich von Mathematik und…mehr

Produktbeschreibung
Gershom Scholems aus dem Nachlaß edierten Tagebücher machen mit den Anfängen der intellektuellen Entwicklung des großen jüdischen Gelehrten bekannt. Scholems Lebensweg führte Von Berlin nach Jerusalem. Die im 1. Halbband veröffentlichten Tagebücher 1913-1917 dokumentieren die Berliner Jahre des jungen Scholem. Die Tagebücher 1917-1923 zeigen Scholem in Jena, Bern und München, wo er sein Studium der Mathematik und Philosophie fortsetzte. Die Aufzeichnungen dieser Zeit von 1917 bis 1923 - dem Jahr, in dem er nach Jerusalem ging - zeugen davon, wie Scholem sich allmählich von Mathematik und Universitätsphilosophie abwandte und sich immer intensiver mit der jüdischen Mystik beschäftigte. Dies machen nicht zuletzt die bislang unveröffentlichten Schriften und Entwürfe deutlich. Die Freundschaft zu Walter Benjamin ist ebenfalls ein bestimmendes Moment dieser Zeit. Zugleich dokumentieren Scholems Tagebücher wie auch die hier erstmals wieder zugänglich gemachten Publikationen aus den Jahren 1917-1923 seine Auseinandersetzung mit dem Zionismus und der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland. Wenn Scholem mit der ihm eigenen kritischen Sicht das damalige jüdische Leben in Deutschland in den Blick nimmt, werden die Tagebücher auch zu einem kulturhistorischen Dokument ersten Ranges.
Autorenporträt
Scholem, GershomGershom Scholem (1897-1982) begründete mit seinen Werken einen neuen Forschungszweig: die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Mystik, die ein neues Verständnis des Judentums und der jüdischen Geschichte eröffnet hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2001

Lerne Hebräisch, um auf hebräisch zu schweigen
Ein Porträt des Kabbalisten als junger Schwärmer: Gershom Scholems Tagebücher von 1917 bis 1923

Weihnachten 1794 schickte der Elberfelder Arzt Samuel Collenbusch dem lieben Herrn Professor Kant in Königsberg einen kurzen Brief. Der fromme Spätpietist resümierte seine Lektüre der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" in zwei vernichtenden Fragen: "DHerrn Kants vernunft Glaube ist ein von aller Hoffnung ganz reiner Glaube. DHerrn Kants Moral ist eine von aller Liebe ganz reine Moral. Nun entsteht die Frage: In welchen Stücken unterscheidet sich der Glaube der Teüfel von dem Glauben des Herrn Kants? - und in welchen Stücken unterscheidet sich die Moral der Teüfel und die Moral des Herrn P. Kants?" Walter Benjamin liest ihm den Brief 1918 erstmals vor. Der junge Gershom Scholem ist von Collenbuschs Fragen so begeistert, daß er sie in seinen Tagebüchern mehrfach erwähnt.

War auch Scholem ein frommer Schwärmer, der wie der Heiligungsaktivist aus dem Wuppertal erweckte Seelen sammeln wollte, um das Reich Gottes hier auf Erden schon zu bauen? Die faszinierenden Tagebücher von Mai 1917 bis September 1923 bieten die Chance, den Zwanzig- bis Sechsundzwanzigjährigen bei der Suche nach starker jüdischer Identität zu beobachten. Scholem wollte in seinen späten Erinnerungsbüchern eine verbindliche Deutung seines "jüdischen Erwachens" fixieren. Die Tagebücher lassen nun in starkem Kontrast zu den späteren Selbstdeutungen die Stilisierungen sichtbar werden, mit denen Scholem die allmähliche Abwendung von Mathematik und akademischer Philosophie hin zu Kabbala- und Talmud-Studien als religiöse Erweckung zum wahren jüdischen Selbst konstruierte. Statt schnellen Voranschreitens auf geraden Wegen zeigen sich existentielle Orientierungslosigkeit und viel Kreisen um das eigene unsichere Ich.

Benjamins furchtbare Dekadenz

Der junge Scholem ärgert sich über seinen Mangel an Konsequenz, betrauert sein Schwanken in religiösen Fragen und leidet unter "völlig leeren Tagen" von "furchtbarer Nichtigkeit". Seine Aufzeichnungen spiegeln die moralisierende Arroganz eines hochbegabten Außenseiters, der in den symbolischen Sprachen der Religion den Absolutismus einer schlechterdings wahren, strikt der Thora gemäßen Lebensführung verkündet. Zu sich selbst findet er erst in "Kampfgesprächen" gegen die "Schwätzer" der "deutsch-jüdischen Verwirrung". Ich-Stärke sucht er zu gewinnen, indem er seinen Zivilisationsekel zum Glauben steigert, er sei inmitten vieler Verlorener als Führer zum wahren Leben auserwählt.

Mit hehren Idealen unbedingter Reinheit erzeugt Scholem religiösen Druck. Im Juni 1918 muß er seinem Walter, dem besten Freund und bestimmenden Gesprächspartner, attestieren, "in furchtbarem Maße die Elemente der Dekadenz" in sich zu tragen. War Benjamin seiner Dora untreu geworden, oder hatte er sich lustvoll seichten Vergnügungen hingegeben? Nichts von alledem. Benjamin erfreut sich an Umschlägen schöner Bücher und droht die intellektuelle Andacht zu ihrem Gedankengehalt zu vernachlässigen. Scholem kultiviert daraufhin moralische Überlegenheit. "Ich glaube, daß mein Leben ein reines Beispiel einer absoluten anderen, unabhängigen Lebensordnung ist."

Wer als Jude anders lebt, ist ein Verräter der Thora, der dem "Erlebnisschwätzer" Buber auf den Leim gegangen ist. Den "Irrlehrer" verhöhnt er als einen Schleiermacher redivivus. Bubers Unterscheidung von individueller Religiosität und objektiver Religion perhorresziert Scholem als einen Freibrief zur Unsittlichkeit. "Das Antlitz der jüdischen Jugend in Deutschland ist von Unkeuschheit verzerrt ... Die Mädchenleichen liegen turmhoch aufgeschichtet auf Martin Bubers Weg, der für die Mädchen in Wahrheit die Erlösung zur inneren Unkeuschheit gewesen ist ... In Reinheit unglücklich zu werden ist zwar kein Ziel, aber ein ethisch nicht mehr weiter zu Transformierendes, eine letzte Stufe, die direkt zur Erlösung führt", schreibt Scholem im Juni 1919. Sein kulturpessimistischer Jargon gleicht der Verfallsrhetorik vieler junger Religionsrevolutionäre im Protestantismus und Katholizismus der Zeit. Hier wie dort wird das Pathos unbedingter Glaubensentscheidung gegen die liberalen, als relativistisch verachteten Kulturwerte der Vorkriegsbourgeoisie mobilisiert.

Von anderen Vordenkern dieser expressionistischen Glaubensrevolution unterscheidet sich Scholem nur dadurch, daß er die verbreiteten Krisendiagnosen auf die innerjüdischen Kulturkämpfe zwischen Reformern und Orthodoxen hin spezifiziert. Im Chaos der Zeit könne man nichts von (ein)gebildeten deutschjüdischen "Kulturmenschen", aber alles von ungebildeten Ostjuden lernen. "Die Kultur schert mich den Teufel. Mögen wir doch kulturell zurück schreiten, wenn wir dadurch dem Zentrum näher kommen."

Scholems Glaubenszentrum erschließt sich über sein Lektürepensum und die scharfe Polemik gegen junge "Hatschizionisten" mit ihrer deutschjüdischen Vereinsmeierei. Doch bleibt er selbst auf ein idealisiertes "geistiges Deutschland" fixiert. Sein authentisches Judentum entdeckt er keineswegs nur im Studium alter jüdischer Texte. Ebenso intensiv erarbeitet er sich klassische deutsche Bildungsreligion. Scholem liest Kant, Schleiermacher, Novalis, Hölderlin und identifiziert sich mit Anton Reiser: "Die Erfahrung einer messianischen Zukunft, die in diesem Buche, in diesem Menschen als Gegenwart gezeigt wird, muß sich notwendig zum Unglück verkehren, denn ihr Anspruch kann nicht befriedigt werden. Und so wird das Buch eine Anklage gegen das Messianische Reich selber, um das der, der es erduldet hat, eine Ewigkeit belogen worden ist." Vierzehn Tage später erklärt der Tagebuchautor Hölderlins "An Landauer" zum "größten aller menschlichen Gedichte", weil hier "das absolute Wort gefunden worden" sei.

Scholem beschwört einen Ort des Denkens jenseits aller geschichtlichen Relativitätserfahrungen. Liberale Kritizisten, die alles Gegebene in Relationen und Konstrukte der erkennenden Subjektivität auflösen, verachtete er ebenso wie die Formalisten in der Ethik, die keine existentielle Bindung an gottgegebene Wertetafeln zu denken vermögen. Im Kampf gegen den Relativismus "des modernen Juden" greift er antijüdische Stereotypen auf. Die "Wissenschaft des Judentums" decke den "jüdischen Kapitalismus", und das Reformjudentum betreibe die "Vergespenstischung" der Thora. Der neukantianische "Marburger Methodenschwindel" Cohens laufe auf einen "ontologischen Gottesbeweis für den Teufel" hinaus. "Es ist das Gojische in der letzten philosophischen Potenz."

Gegen kritizistische Zermalmer der Metaphysik setzt Scholem auf antibürgerliche Propheten radikaler Subjektivität. Nietzsche und Overbeck, Kierkegaard und Dostojewski liefern ihm die Begriffe, um sich ein fundamentum inconcussum absoluter Gewißheit zu erschließen. Diesen unvordenklichen Grund seines unerschütterlichen Wahrheitsanspruchs beschreibt er in Bildern der überkommenen Zionssymbolik. "Gewiß, Eins konnte Kant nicht bezweifeln, weil es nicht von Zweifeln getroffen werden kann: Zion." Scholem muß sich aber eingestehen, daß man mit Kant theologische Lehren von Zion relativieren kann. Die mühevolle Erinnerungsarbeit an talmudischen Texten verbindet er deshalb mit spekulativen Denkexperimenten.

Die Lösung findet er in einer metaphysischen Theorie des Hebräischen als der Sprache, die Gottes reine Selbstmitteilung hörbar werden läßt. Scholem zwingt sich, Hebräisch sprechen und denken zu lernen. Zugleich konzipiert er eine Hermeneutik der metahistorischen Unmittelbarkeit. In sachlicher Nähe zu den Dialektischen Theologen fordert er gegen die historisch-kritische Exegese der Kulturprotestanten eine pneumatische Schriftauslegung, die den zeittranszendenten, ewigen Gehalt des Gotteswortes durchschimmern läßt.

1919 notiert Scholem, daß sich die akademische Erforschung der talmudischen und spätjüdischen Texte in einem "grausamen Zustande" befinde. "Im Grunde liegt hier eine meiner eigentlichsten, wenn nicht die eigentlichste Lebensaufgabe." Fremd gewordene archaische Zeichen sollen wieder lesbar gemacht werden. Die Freunde werfen ihm die "Gründung einer heiligen Sekte" vor. Scholem beschreibt den Gang nach Palästina in Begriffen, die er bei protestantischen Erweckten wie Collenbusch gelesen haben mag. Aus dem "sinkenden Schiff" Deutschland will er nicht "Massen retten, sondern einige Seelen gewinnen". Gegen die "Renommierzionisten", die Gott für einen Bodenreformer halten, klagt Scholem mit faszinierender theologischer Konsequenz einen streng religiösen Begriff der Rückkehr ins Heilige Land ein. Sein Zion ist nur da, wo die Thora rein gelehrt und unbedingt gelebt wird.

Jenseits der Konfessionsgrenzen

Die knapp, aber vorzüglich kommentierten Tagebücher laden dazu ein, experimentell eine konfessionsübergreifende Deutungsperspektive einzunehmen. In rein innerjüdischen Bezügen läßt sich Scholems neues Judentum nicht angemessen erfassen. Denn die römisch-katholischen, protestantischen und jüdischen Religionsdiskurse waren gerade in Deutschland eng ineinander verflochten. Scholems zionistische Aufbruchstheologie spiegelt eine intime Wahlverwandtschaft mit dem protestantisch-theologischen Antihistorismus und dem neuen katholischen Formdenken. In Sprache, Argumentationsmustern und Beschwörungsgesten absoluter Transzendenz gibt es in der Generation der damals Zwanzig- bis Dreißigjährigen hohe Übereinstimmung. Die Absage an religiöse Romantik, die Fundamentalkritik des Historismus, die Polemik gegen Psychologismus und Psychoanalyse, die Rede vom liberaltheologisch induzierten Bankrott des Christentums beziehungsweise Judentums und die Suche nach neuen Bindungskräften oder Seinsmächten stellen eine Konstellation religiösen Denkens jenseits alter Konfessionsgrenzen dar.

Vom "heiligen Volkstum" redet nicht nur Scholem, sondern auch Gogarten, und beide setzen dem Chaos der Zeit "Schöpfungsordnungen" entgegen. Was für Scholem "Zion", ist für den katholischen Formdenker Hermann Hefele "das Dogma" der Kirche. Brillant spielt Scholem selbst mit Begriffen aus den protestantischen wie katholischen Religionsreformdebatten, die er auch aus der "Tat" und ihren religiösen "Sonderheften" kennen dürfte. Viele Zionisten seien nur "Neukatholiken", wobei "Neukatholizismus als die Pervertierung der Erlösungsidee" gilt.

Konfessionsspezifische Ordnungen religiösen Symbolisierens gewinnen für die expressionistischen Religionsrevolutionäre erst an Gewicht, wenn sie die beschworene absolute Transzendenz Gottes in historisch empirischen Bezügen zu reifizieren suchen. Scholem will sein ideales Zion innergeschichtlich in Jerusalem finden. Aber er muß zugleich eine bleibende Differenz zwischen seinem wahren, religiösen Zion und dem Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens festhalten. Scholem rettet sich zunächst in Rufe nach verstärkter "Hebraisierung" des Lebens der Juden in Palästina und in eine krude Opfertheologie: "Zion ist gleich der Summe der Opfer, die dafür gebracht werden." Überzeugen können ihn diese Lösungen nicht, so daß er eines Nachts die Vorstellung entwickelt, wahrer jüdischer Glaube liege jenseits der Zionsbewegung.

Der jüdische Anton Reiser sucht sich die Einsicht zu bewahren, daß sich der Glaube an realisierte "messianische Zukunft ... notwendig zum Unglück verkehren" muß. Dann lassen sich keine klaren Antithesen zwischen der Prinzipienmoral des Herrn Kant und der Moral der Teufel mehr bilden. Wer seine religiöse Moral rein durchsetzen will, droht die Welt den eigenen Dämonen auszuliefern. Die Faszinationskraft von Scholems Tagebüchern liegt in der religiösen Intensität, mit der der junge deutschjüdische Intellektuelle die existentiellen Widersprüche seines esoterischen Glaubensaristokratismus festgehalten hat. Seinen deutschen Bildungskanon nimmt er nach Palästina mit. Noch in der "Rede über Israel" versteckt er, wie Werner Kraft gezeigt hat, George-Bezüge. Markieren sie eine resignative Distanz zu den eigenen Hoffnungen? Scholem selbst hat hier klug geschwiegen. "Der jüdische Begriff von Wort schließt das Schweigen ein." "Lernt man Hebräisch, um auf hebräisch schweigen zu können, dann ist es in Ordnung." Seit seiner Ankunft in Jerusalem hat Scholem sich niemals dazu geäußert, ob er auch in Zion angekommen sei.

FRIEDRICH WILHELM GRAF

Gershom Scholem: "Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923". 2. Halbband: 1917-1923. Hrsg. von Karlfried Gründer, Herbert Kopp-Oberstebrink und Friedrich Niewöhner unter Mitwirkung von Karl E. Grözinger. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 734 S., geb., 98,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Melancholisch hat die Lektüre dieser Tagebücher und Aufsätze des jungen Gershom Scholem unseren Rezensenten gestimmt: Wie da ein "hochgestimmter Jüngling" auf einen ganz und gar ideellen Zionismus schwört und sich von einem Aufbruch nach Zion das Höchste verspricht, "idealistisch selbstbewusst und demütig zugleich" gegen die Assimilation agitiert und dabei keinen Gedanken daran verliert, "dass man bei der Einwanderung nach Palästina auf Menschen treffen würde, welche die Ausweitung der Zahl jüdischer Menschen im Lande nicht unbedingt willkommen zu heißen verpflichtet wären". Und dagegen dann die "schrecklichen Realitäten" des späteren israelischen Expansionismus - das, so Jörg Drews in seiner Besprechung, sei der Schatten über diesen "grüblerischen und doch zuversichtlichen Dokumenten" aus der Zeit von 1917 bis 1923.

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