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Von den Rissen in unserem Bewusstsein. Von den Rissen in der Welt.
Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hat die junge Arjeta ihrer Heimat beraubt. Als sie bei einem Umzug alte Fotos findet, begreift sie mit einem Mal vieles, was ihr über ihre eigene Lebensgeschichte lange im Dunkeln geblieben war. So geht Arjeta noch einmal den Rissen in ihrem Bewusstsein, in ihrem Leben nach - und den Rissen in der Welt.
Von vielem kann Arjeta Filipo sich trennen, vom Tisch ihrer Großmutter aber nicht. Jetzt sitzt sie an diesem Erbstück in ihrer neuen Berliner Wohnung und breitet darauf Fotos aus,
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Produktbeschreibung
Von den Rissen in unserem Bewusstsein. Von den Rissen in der Welt.

Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hat die junge Arjeta ihrer Heimat beraubt. Als sie bei einem Umzug alte Fotos findet, begreift sie mit einem Mal vieles, was ihr über ihre eigene Lebensgeschichte lange im Dunkeln geblieben war. So geht Arjeta noch einmal den Rissen in ihrem Bewusstsein, in ihrem Leben nach - und den Rissen in der Welt.

Von vielem kann Arjeta Filipo sich trennen, vom Tisch ihrer Großmutter aber nicht. Jetzt sitzt sie an diesem Erbstück in ihrer neuen Berliner Wohnung und breitet darauf Fotos aus, die ihr beim Umzug in die Hände fallen. Die Erinnerungen steigen in ihr auf, als würde das Kirschholz alle Geschichten preisgeben, deren Zeuge der Tisch im Laufe der Jahre geworden ist.

Da sind die belagerte Stadt und das Istrien, das Meer ihrer Kindheit und Jugend, ihre alles ändernde Flucht Anfang der 90er Jahre. Aber da ist vor allem auch ihre Zeit in Paris, wo sie Philosophie studierte und in einer neuen Sprache ein neues Leben begann - zusammen mit dem Maler Arik, in den sie sich wider Willen verliebt. Der Vogelkundler Mischa Weisband wird ihr weiser Vertrauter, die Physikerin Nadeshda ihre engste Freundin. Beide Frauen verbindet und trennt ein Geheimnis, das über Jahre hinweg nur Arik kennt. Erst als sich beide den blinden Flecken in ihrem Inneren stellen, gelingt es ihnen, den Weg zur Wahrheit zu finden.

Eindrucksvoll erzählt Marica Bodrozic von Menschen, die Halt suchen in einer Welt voller Risse. Und die sich ihrer lange verdrängten Vergangenheit und den Zerrspiegeln ihrer Erinnerung stellen müssen - wenn sie wirklich im Hier und Jetzt leben wollen.
Autorenporträt
Marica Bodrozic kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin, den Kulturpreis Deutsche Sprache, den Literaturpreis der Europäischen Union und zuletzt für den Band "Mein weißer Frieden" den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrozic lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der zweite Teil der Romantrilogie von Marica Bodrozic überzeugt Karl Markus Gauß, wie schon der erste, durch reine Poesie, intensive Bilder und eine stimmige Atmosphäre. Komplexer und kühner als der erste Teil erzählt der Text Gauß von Jugoslawien und der Bedeutung des Exils für eine junge Frau, deren Kindheitserinnerungen für sie Lebensgrundlage sind. Dass der Roman mit seinen vielen Figuren und Schauplätzen dem Leser, wie Gauß einräumt, einiges an Konzentration abverlangt, nimmt der Rezensent gerne hin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2013

Flucht vorm Belagerungszustand

Marica Bodrozic hat den zweiten Teil einer Romantrilogie über die Suche nach der Erinnerung fertiggestellt. Mit "Kirschholz und alte Gefühle" erreicht sie eine ungekannte Intensität.

Während der 1425 Tage der Belagerung von Sarajevo schreien die Menschen die Berge an: "Das hier ist EINE STADT, ihr Hurensöhne! Wir lassen nicht zu, dass ihr einen Krieg anzettelt! Wir überlassen unsere Stadt nicht den Barbaren! Es war auch eure Stadt! Es waren auch eure Straßen! Eure Cafés und Bars! Eure Winter! Eure Sommer! Eure Jahreszeiten! Eure Jugend! Ihr habt in unseren Gassen gesungen und geweint! Die Gassen haben eure Schritte und Küsse und Worte gespeichert! Das hier ist keine Gegend für Heckenschützen! Das hier ist EINE STADT, ihr ewig Kulturlosen, es gibt hier keinen Platz für euch!" Einer aber schreit nicht: der Vater von Arjeta Filipo. "Mutter sagt, er habe geweint, als er mitbekam, dass die Menschen zu den Bergen wie zu alten Göttern hinauf gesehen und mit ihnen gesprochen hätten." Wobei sie natürlich nicht die Berge anklagen, sondern die Belagerer, die aus dem Schutz der Höhen auf die hilflose Bevölkerung von Sarajevo schießen.

Dieses Bild ohnmächtiger Wut, die sich nur noch in Schreien äußern kann, lässt einen nicht mehr los nach der Lektüre eines Buchs, dessen Titel alles andere verheißt als Szenen aus einem Krieg: "Kirschholz und alte Gefühle". Doch die Ausflucht in die Sprache als letztes Mittel der Gegenwehr ist das, was den ganzen Roman antreibt. Wie kann man sich erinnern, wie kann man Erinnerung bewältigen? Das sind die Fragen, die Arjeta Filipo, die Ich-Erzählerin, antreiben. Sie ist aus Sarajevo herausgekommen, studiert in Paris, geht dann nach Berlin und trifft überall auf andere Menschen, die dem Krieg in Jugoslawien entkommen sind, aber keine Ruhe finden. "Kaum war ich neuen Menschen begegnet, brachen sie wieder auf und flogen fort, nach Amerika, Australien, Kanada, um etwas Neues zu beginnen. Anfangs schrieben wir uns alle, aber dann hörte es auf, und alle Briefe blieben fast gleichzeitig aus. Ich wunderte mich darüber und deutete es als Treulosigkeit, bis ich verstand, dass die Anderen jetzt, da sie nicht mehr schrieben, in ihrem neuen Leben angekommen waren."

Wer aber schreibt, der bleibt dem alten Leben verhaftet, der bewahrt, was dem Untergang anheimgegeben ist. "Das Vergessen hat ein Tempo", stellt Arjeta einmal fest. Das verlangsamt sie, indem sie erzählt. Im Idealfall würde sie das Vergessen vergessen machen. Das ist auch das Projekt der Schriftstellerin Marica Bodrozic, die "Kirschholz und alte Gefühle" geschrieben hat.

Vor drei Jahren hob das 27. Kapitel ihres Vorgängerromans "Das Gedächtnis der Libellen" mit der Frage an: "Wie ist Arjeta von Paris nach Berlin gekommen?" Die Antwort, direkt danach, lautete: "Wie alle Osteuropäer. Einfach so." Jetzt, nach der Lektüre des neuen Romans der neununddreißigjährigen Schriftstellerin, die in Kroatien geboren wurde und seit 1983 in Deutschland lebt, sind wir klüger. Nichts geschieht "einfach so". Und schon gar nicht der Umzug von Arjeta nach Berlin. Er ist eine Rettungsaktion.

"Das Gedächtnis der Libellen" ist der Auftakt zu einer Romantrilogie gewesen und trug eine Blumenknospe auf dem Umschlag. Der nun erschienene zweite Teil, eben "Kirschholz und alte Gefühle", zeigt eine offene Blüte, und es gehört wenig Phantasie dazu, sich den noch ausstehenden dritten Teil vorzustellen. Verwelkt wird sein Titelmotiv sein. Schon weitaus schwieriger ist die Überlegung, aus wessen Perspektive der Abschluss wohl erzählt sein wird.

Der erste Teil stellte Nadeshda in den Mittelpunkt, eine junge Schriftstellerin jugoslawischer Abstammung, und die Liebe zu ihrem jüdischstämmigen Landsmann Ilja. Dritte Protagonistin des Romans aber war bereits Arjeta, die mit Nadeshda gleichaltrige, aus Sarajevo geflohene Frau, deren Familie in der belagerten Stadt zurückgeblieben war, in der ihr Vater und die jüngeren Brüder im Krieg starben. "Kirschholz und alte Gefühle" ist nun ihr Roman, doch keineswegs darf als ausgemacht gelten, dass Ilja der Protagonist des dritten Buchs sein wird. Denn nicht nur spielt er im Mittelteil eine vergleichsweise geringe Rolle, sondern es tauchen darin sowohl ein weiterer Mann als auch eine dritte Frau auf, deren Schicksale noch genügend im Dunkel bleiben, um Stoff für ganze Romane zu bieten: der Maler Arik, ein weiterer Jugoslawe in Paris, mit dem sowohl Arjeta wie Nadesha Liebesbeziehungen unterhalten, und die Japanerin Hiromi, die den Freundinnenbund zum Trio erweitert. Alle diese Lebensgeschichten stecken in "Kirschholz und alte Gefühle"; eine wird das große Erinnerungsprojekt abrunden.

Wobei die Trilogie kein geschlossenes Werk ist, weder formal noch inhaltlich. "Das Gedächtnis der Libellen" war konventionell erzählt: in vielen kurzen Kapiteln, ohne Andeutungen, geheimnislos. Das ist nun ganz anders. "Kischholz und alte Gefühle" erzählt in sieben Tagen statt in Kapiteln. Es ist also eine Schöpfungsgeschichte, die ihre Grundlage darin findet, dass Arjeta in Berlin eine neue Wohnung bezieht, hoch oben unterm Dach, noch ganz leer, und sie füllt sie während dieser Woche nicht mit Mobiliar - mit einer wichtigen Ausnahme -, sondern mit Erinnerungen. Es ist die Schöpfungsgeschichte ihrer selbst.

Denn Arjeta leidet seit Jahren an Absencen, kleinen Ausfällen ihres Bewusstseins, Lücken. Die sind naturgemäß der Feind jeder Erinnerung, und so ist die unchronologische Rekonstruktion ihres Wegs von Sarajevo nach Berlin und die Geschichte ihrer Liebe zu Arik eine Therapie. Vorbild sind ihr dabei die Vögel, die sie draußen fliegen sieht - die Erinnerung, so heißt es oft, pickt wie ein solcher Vogel in ihrem Kopf. Doch in dieser Identifikation schwingt auch die Vogelfreiheit mit, die Arjeta seit dem Verlust ihrer jugoslawischen Kinderheimat erlebt.

Jedes Wort in diesem Roman gehört auf die Goldwaage, weil zu prüfen ist, wie echt es ist im Kontext einer Lebensgeschichte, die sich bemüht, Lücken zu schließen. Nadeshda ist ja von den beiden Ich-Erzählerinnen der Romane eigentlich die Schriftstellerin, doch Arjeta erzählt viel experimenteller, rhetorischer. Irgendwann zerfällt ihre Sprache in Satzbestandteile: "Aber. Wie. Leben. Wir. Wenn. Wir. Nicht. Nur. Etwas. Oder. Jemand. Überleben." Was sie sagt, ist klar. Wie sie es sagt, lässt aber erst Aufschlüsse darauf zu, was sie meint. Es gibt keine lineare Kontinuität in diesem Leben.

In Nadeshdas Geschichte spielten Bücher eine große Rolle, und deren Autoren wurden explizit gemacht. Milan Kundera, Vladimir Nabokov, Ernest Hemingway. Bei Arjeta gibt es nur ein Buch, das von Bedeutung ist, weil es zu einem alten den Nationalsozialisten entkommenen Berliner Juden gehört, den sie in Paris kennengelernt hat. "Als mein alter Freund das Geheimherz erwähnte, nannte ich ihn einen Dichter. Nein, sagte er mit schelmisch blitzenden Augen, er sei kein Dichter, sondern ein Dieb, das habe einmal einer seiner Lieblingsschriftsteller gesagt." Im Roman wird nicht aufgelöst, dass es sich dabei um Elias Canetti handelt, denn Arjeta hat kein Interesse an den Toten. Aber der zitierte zersplitterte Satz zeigt, dass sie sich mit demselben Thema beschäftigt wie Canetti. Die Kostümschneiderin Arjeta ist literarischer als die Schriftstellerin Nadeshda. Der von ihr erzählte Roman ist es auch.

"Alle Zeiten haben sich in mir vermischt, alle Städte, alle Sprachen. So vieles davon wollte ich sortieren." Arjeta richtet sich ein, davon handelt das Buch auf doppelte Weise. In der neuen Wohnung ist ein alter Kirschbaumtisch das wichtigste Utensil, weil es als Familienbesitzstück eine Verbindung zur Kindheit in Jugoslawien darstellt, jenem Staat der vielen Sprachen, Völker, Regionen, dessen Abbild Arjetas Persönlichkeit ist. Doch auch sie selbst richtet sich ein - in Berlin, wo ihre Großmutter geboren wurde, schließt sich ein Kreis, der über Arjetas eigenes Leben hinaus geht, aber die Verlässlichkeit bietet, die Erinnerung braucht. In Paris gab es diese Sicherheit nicht; alles dort verwies schon auf Berlin.

Alles bis auf Arik, den Egozentriker, der gleichzeitig mit Arjeta und Nadeshda Liebesbeziehungen unterhielt. Arjeta hat einen Sohn von ihm, den sie aber nach der Geburt zur Adoption weggab, weil der sprunghafte Arik ihr kein Familienleben bieten konnte. Fernab vom Krieg in Bosnien erlebte Arjeta in dieser Liebe denselben Zustand, den ihre Mutter ihr aus der belagerten Stadt schilderte: "Der Krieg habe sie alle gezwungen, im Hier und Jetzt zu leben, da sei keine Zeit für sentimentale Gefühle gewesen."

Die Romantrilogie von Marica Bodrozic ist das Antidot zu diesem Kriegszustand, in ihr ist Zeit für sentimentale Gefühle. Das ist der Grund für ihre Umschlagmotive, die man eher auf Herzschmerzbüchern vermuten sollte als auf einem subtilen Selbstvergewisserungsvorhaben, in dem die Protagonisten nach dem Stoff suchen, aus dem sie gemacht sind. Auf dieser Suche finden sie den Weg zurück in die Geschichte. Und sie suchen nach Liebe. Das ist der Weg in die Zukunft. Im Hier und Jetzt kann ihres Bleibens nicht sein.

ANDREAS PLATTHAUS

Marica Bodrozic: "Kirschholz und alte Gefühle". Roman.

Luchterhand Literaturverlag, München 2012. 220 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2013

Pausen im Gedächtnis
Am Tisch in der leeren Berliner Wohnung: Marica Bodrozic erzählt von Jugoslawien, vom Leben im Exil
und dem Wiedererwecken alter Gefühle – ein Roman von leuchtender Intensität
VON KARL-MARKUS GAUSS
Arjeta ist in Sarajewo aufgewachsen, hat in Paris studiert und lebt seit fünf Jahren in Berlin. Auf der langen Wanderschaft ist ihr vieles abhandengekommen: die Sicherheit, sich neugierig die nahe und die ferne Welt anzueignen, das Vertrauen, dass die Vergangenheit in ihrem Gedächtnis lebendig bleiben werde, und vor allem: Jugoslawien und ihre glückliche Kindheit in diesem Staat vieler Völker. Freunde und Verwandte hat sie verloren, vertraute Dinge, Verhaltensweisen, die einst selbstverständlich waren und jetzt nichts mehr gelten. Aber eines hat sie sich über all die Jahre zu retten gewusst: den Tisch der Großmutter, den sie, wohin es sie auch verschlug, mit sich nahm.
  Er ist so wichtig für den neuen Roman der 1973 in Dalmatien geborenen, seit ihrem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebenden Marica Bodrozic, dass er sogar im Titel, „Kirschholz und alte Gefühle“, auftaucht. Arjeta ist gerade wieder übersiedelt, und in der neuen, leeren Wohnung in Berlin steht fast nur der Tisch aus Kirschholz, damit sie auf ihm gleich die Fotos ausbreiten kann, die sich im Laufe der Jahre in ihrem Übersiedlungsgepäck angesammelt haben. Sie weiß, sie muss nur ein wenig mit dem Messer auf seiner Platte kratzen: „Dann wird das Kirschholz bluten und erzählen, was der Baum in den letzten hundert Jahren gehört und gesehen hat.“ Der Tisch beweist, dass zwischen dem Einst und dem Jetzt, zwischen Sarajewo, Paris, Berlin eine Verbindung besteht und das Leben, das Arjeta zu zerfallen droht, doch eine Einheit bildet.
Die Ich-Erzählerin ist Ende dreißig, als sie in der neuen Wohnung ein wenig Ordnung in ihre Erinnerungen zu bringen versucht und dabei auf nicht viel mehr als ihre Sprache, ihre Gabe, die Dinge zu beobachten und den Ereignissen träumerisch nachzusinnen – und den Tisch setzen kann. Gerne würde sie auf ihr Gedächtnis vertrauen, aber gerade um dieses ist es nicht gut bestellt. Von Kindheit an erleidet sie oft kleine Anfälle, Aussetzer des Bewusstseins, die zu „Pausen in meinem Gedächtnis“ führen und von den Medizinern als „Pétit mal“ bezeichnet werden. Es ist für Arjeta also noch schwieriger als für die vielen Flüchtlinge und Emigranten, deren Wege die ihren kreuzen, den Zusammenhang ihres Lebens zu bewahren. Gerade deswegen versucht sie es intensiver als die anderen.
  In den ersten Jahren nach dem Zerfall Jugoslawiens schreiben sich all die Verwandten, Freunde, Weggefährten unentwegt Briefe, die einen hat es nach Skandinavien, andere in die USA oder nach Kanada verschlagen. Doch eines Tages fällt Arjeta auf, dass keine Post der Versprengten mehr bei ihr eintrifft, weil die Flüchtlinge endlich beschlossen haben, nicht länger unbehauste Fremde zu bleiben, die in der Erinnerung leben, sondern sich dort, wo sie aufgenommen wurden, zu beheimaten. Arjeta hingegen muss sich ständig ihrer Erinnerungen versichern, weil sie anders in ihrem Leben keinen sicheren Grund mehr finden kann. So springt sie in Gedanken von Sarajewo nach Paris, von den glücklichen Sommern bei der Großmutter in Istrien zu jenem Tag, an dem ihre beiden Brüder beim Spielen im belagerten Sarajewo auf eine Mine traten, in Stücke gerissen wurden und sie von ihnen auf der Wiese nichts mehr fand als ihre Füße. Ihr Vater, ein schweigsamer Intellektueller, beschloss damals, für immer in Sarajewo zu bleiben: „Hier ist unser Zuhause. Hier sind unsere Toten.“
  Zu Arjetas Lebensmenschen gehört der jugoslawische Maler Arik, der ihr in Paris nachstellt und dem sie geradezu gegen ihren Willen verfällt. Er ist genial, verzweifelt, egoistisch, selbstzerstörerisch – und einer, der als echter Balkanmacho zu Hause „in seiner Unterwäsche Schnaps trinkt“. Als sie von ihm schwanger wird, verlässt er sie, worauf sie das Kind zwar austrägt, den Säugling aber zur Adoption freigibt; frei wird sie selbst dadurch natürlich nicht, zu den vielen Dingen, an die sie sich zu erinnern versucht, kommt nun dieses traumatische Ereignis hinzu, das sie zu vergessen trachtet. Die Erzählgegenwart umfasst sieben Tage nach Arjetas Übersiedlung in die neue Wohnung, denen jeweils ein eigenes Kapitel vorbehalten ist.
  Diese Struktur legt natürlich den Gedanken an die Schöpfungsgeschichte nahe, und tatsächlich erschafft Arjeta sich in diesen sieben Tagen neu, gerade weil sie die „alten Gefühle“ nicht verloren gibt, sondern in ihrem Inneren wieder erweckt. Das Geschehen ist ganz aus der Perspektive dieser gescheiten und verstörten Frau gedeutet, das verlangt konzentrierte Leser, die den Wechsel von Schauplätzen, Zeiten, Figuren, den sie oft von einem zum nächsten Absatz vornimmt, nachzuvollziehen bereit sind. Schärfere Kontur als die vielen Onkeln und Tanten, als die Freunde aus der Kindheit und dem Exil erhält merkwürdigerweise manche Nebenfigur des Romans, wie etwa der schüchterne kroatische Philosoph, der ausgerechnet im vaterländischen Rausch jene Gemeinschaft zu finden glaubt, nach der er sich immer gesehnt hat.
„Kirschholz und alte Gefühle“ ist das Mittelstück einer entstehenden Trilogie, deren erster Band, „Das Gedächtnis der Libellen“, bereits 2010 erschienen ist. Einige Gestalten, die in diesem schönen, atmosphärisch stimmigen Roman eine zentrale Rolle spielten, tauchen im zweiten Band neuerlich auf, etwa die Physikerin Nadeshda, mit der Arjeta die Vorliebe für Unglück bringende Männer teilt. Der neue Roman ist so poetisch wie der vorangegangene, kompositorisch jedoch komplexer und im erzählerischen Zugriff kühner. In Bildern von leuchtender Intensität erzählt Marica Bodrozic davon, was „Jugoslawien“ war und Exil bedeutet; und sie zeigt, dass Arjeta nur eine Zukunft haben wird, wenn sie bereit ist, die Akten über ihre Vergangenheit nicht zu schließen.  
„Dann wird das Kirschholz
bluten und erzählen . . .“
  
  
    
  
      
Marica Bodrozic : Kirschholz und alte Gefühle. Roman. Luchterhand Verlag,
München 2012.
220 Seiten, 19,99 Euro.
Marica Bodrozic, Jahrgang 1973, wuchs in der Nähe der kroatischen Stadt Split auf. Seit 1983 lebt sie in Deutschland. Ihr neuer Roman ist das Mittelstück einer entstehenden Trilogie.
FOTO: PETER VON FELBERT/LUCHTERHAND
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"Zurück bleibt ein staunender Leser, der sicher noch einmal blättern wird, weil man von der einen oder anderen Textstelle nicht genug bekommen kann", Mirko Schwanitz / BR-Bayern2