Produktdetails
  • Verlag: Luchterhand Literaturverlag
  • Seitenzahl: 267
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 372g
  • ISBN-13: 9783630871004
  • ISBN-10: 3630871003
  • Artikelnr.: 09871931
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2002

Ostblockzigaretten mit Filter
Christian Haller erforscht die Geschichte seiner jüdischen Familie

Dieser Roman des Schweizer Schriftstellers Christian Haller ist eine Reise durch das zwanzigste Jahrhundert, durch eine Ära also, deren Kennzeichen nicht gerade die Verbreitung von Humanität war. Eine freundliche Geschichte steht daher nicht zu erwarten, und die wird uns auch nirgends geboten. Der Autor, Jahrgang 1943, Sproß einer jüdischen Familie, wandelt mit uns auf den Wegen, die seine Sippe in jenen Jahrzehnten zurücklegte. Er tut das weniger von der Position des Chronisten her, der über Lebensläufe und ihre Voraussetzungen Buch führt. Vielmehr gräbt er sich tief in die Seelen seiner Protagonisten ein und entwickelt sein Stück Weltgeschichte aus deren Wünschen, Träumen und Enttäuschungen.

Die Konsequenz dieser Methode ist, daß ihm so recht nur folgen kann, wer sich im vielfältigen historischen Ambiente seiner Story gut auskennt. Haller legt wenig Wert darauf, seine Leser in diesem Bereich zu informieren; er speist sie mit hingehauchten Bildern ab, die jene Kenntnisse illustrieren, die er einfach voraussetzt. Es steht zu befürchten, daß mancher Leser sich ratlos durch Einzelheiten quält, zu denen er keine Intimität herstellen kann, mit denen er aber unbedingt vertraut sein müßte, um alle Gemütsdramen zu verstehen, aus denen der Roman sich zusammensetzt.

Von der ersten Seite an besteht die Gefahr, sich auf den Schleichwegen durch das Innere der Romanpersonen zu verirren. Hallers Familie schaut zwar auf mitteleuropäische, vor allem auch deutsche Wurzeln zurück, bewegt sich aber zur Romanzeit nur zwischen der Schweiz und Rumänien, Ländern am Rande beziehungsweise außerhalb der Territorien, in denen die Verfolgung der Juden ihre größte Dimension hatte. Mit dem Holocaust werden wir nicht unmittelbar konfrontiert, auch wenn die eine oder andere Nebenfigur von der Verfolgung durch die Nazis betroffen ist. Im Zentrum stehen vielmehr ein triumphaler Aufstieg des späten europäischen Bürgertums, verkörpert durch die Vorfahren des Autors, gefolgt vom unvermeidlichen Abstieg, der durch manche Spielarten politischen Wahnwitzes verursacht wird. Das meiste davon trägt sich in jenem Land zu, das der Schweizer Familie für einige Zeit ihr merkantiles und soziales Hochleben bescherte: im Königreich Rumänien, aus dem später Antonescus Militärdiktatur und damit ein Vasall Hitlers wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg Ceausescus abscheulicher Selbstbespiegelungssozialismus.

Was in den alten Tagen vor sich ging, entnimmt der schreibende Nachkomme teils den Erinnerungsphantasien seiner altersdementen Mutter, teils den Erfahrungen einer Forschungsreise in die rumänische Gegenwart. Aber auch seine Begegnung mit dem heutigen Rumänien erreicht uns nicht als klare Botschaft, sondern immer gefiltert durch die jeweiligen Gesprächspartner. Dazu kommt, daß er diese Partner nicht in historischer oder sonstwie einleuchtender Ordnung vorführt, sondern ziemlich willkürlich mal auf-, mal wieder abtauchen läßt. Ihre Gefühlsäußerungen scheinen in manchen Romanpartien einen bereitwilligen Leser in das Erzählte einzubeziehen. Wer sich dem aber nicht überlassen mag, wird sich mit dem Buch nicht recht anfreunden können.

SABINE BRANDT

Christian Haller: "Die verschluckte Musik". Roman. Luchterhand Literatur Verlag, München 2001. 268 S., geb., 18,50 .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Schweizer Autor Christian Haller schreibt mit seinem Roman über ein "entschwundenes Bukarest" eine "Hommage des Ich-Erzählers an seine Mutter", berichtet Rezensentin Andrea Gnam. Der Sohn begibt sich auf die Spuren der Vergangenheit: Die Mutter verbrachte als Tochter des Direktors einer Schweizer Textilfabrik vor und nach dem ersten Weltkrieg eine "großbürgerliche Kindheit im alten Bukarest", erzählt Gnam. Lobend hervor hebt sie in dieser "feinsinnigen Studie über die Konstruktion von Erinnerung", dass der Roman auch Passagen über das heutige Bukarest enthält, über "die Wunden, welche die Ceausescu-Ära" hinterlassen hat, so dass das Buch eine zusätzliche Dimension erhalte, die über die "private Erinnerungsarbeit und die literarische Reflexion" hinausgeht. Die Einbindung von visuellen Medien wie Fotografie und Film als vielschichtige "private und zeitgeschichtliche Vermittler" der Vergangenheit, sei dem Autor auf faszinierende Art und Weise gelungen. Hallers Erzählkunst findet die Rezensentin "eindrucksvoll", "glänzend" und "dicht wie realistisches Erzählen im 19. Jahrhundert". Beeindruckt ist sie auch davon, wie reflektiert der Autor die "Mittel der Illusionierung" einsetzt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Eine untergegangene Welt lebt wieder auf, jene elegante, kultivierte Welt, die der rumänischen Hauptstadt Bukarest vor dem Ersten Weltkrieg den Ruf eines Paris des Ostens eingetragen hat. Dort wächst die Mutter des Erzählers in einer großbürgerlichen Atmosphäre auf und kann scheinbar ohne Sorgen ihre Tage verbringen. Doch bald kündigen sich die Katastrophen des Jahrhunderts an, die auch über diese jüdische Familie hereinbrechen werden. Hallers Erzählkunst ist eindrucksvoll, glänzend und dicht wie realistisches Erzählen im späten neunzehnten Jahrhundert." (NEUE ZÜRICHER ZEITUNG)