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Neruda ist im Süden Chiles groß geworden. Seine Mutter starb wenige Wochen nach seiner Geburt an Tuberkulose, und sein Vater, ein Lokomotivführer, heiratete ein zweites Mal, eine Frau aus Temuco, einer Stadt im Grenzland zum Polarkreis. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Neruda an den Regen, den pausenlosen Regen, der ihn sogar in seinem Gemüt getroffen habe. Dennoch: Die Welt wollte entdeckt werden! Mit dem Vater fuhr er in die Steinbrüche, wo die Züge beladen wurden. Schule und Bücher faszinierten ihn, obwohl sich sonst niemand, den er kannte, für unnütze Dinge dieser Art erwärmen konnte.…mehr

Produktbeschreibung
Neruda ist im Süden Chiles groß geworden. Seine Mutter starb wenige Wochen nach seiner Geburt an Tuberkulose, und sein Vater, ein Lokomotivführer, heiratete ein zweites Mal, eine Frau aus Temuco, einer Stadt im Grenzland zum Polarkreis. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Neruda an den Regen, den pausenlosen Regen, der ihn sogar in seinem Gemüt getroffen habe. Dennoch: Die Welt wollte entdeckt werden! Mit dem Vater fuhr er in die Steinbrüche, wo die Züge beladen wurden. Schule und Bücher faszinierten ihn, obwohl sich sonst niemand, den er kannte, für unnütze Dinge dieser Art erwärmen konnte. Die Liebe meldet sich. Und er stößt auf einen Kontinent, den er in seinen Ausdehnungen noch nicht abschätzen kann und der sich in ihm befindet: die Poesie. Mit dem Stift in der Hand und über sein Rechenheft gebeugt, beginnt er Verse zu notieren und die Geheimnisse zu erahnen, die ihn bedrängen. Victor F. hat dieses frühe Werk gefunden und den sensationellen Fund entziffert und editi ert. Fritz Rudolf Fries, der Übersetzer dieser Gedichte, hat die Auswahl besorgt: Zum ersten Mal kann man nicht nur nachlesen, wie einer der größten Dichter unseres Jahrhunderts zu schreiben begonnen hat, diese Verse an die blauen Fenster seiner Nachbarschaft zei-gen auch, wie ein junger Mann sich gegen die Macht der Liebe und gegen die Abgeschiedenheit zu behaupten versucht: mit verzweifelt-schönen Versen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2000

Trister wird das Fleisch täglich
Aber Lächeln bleibt erlaubt: Pablo Nerudas allerfrüheste Lyrik

Temuco um 1920: Da musste man wohl den Blues kriegen, in dieser hastig zusammengestoppelten Kleinstadt in Südchile, in der es obendrein fast ständig regnete. Dies erst recht, wenn man Bedeutendes mit sich vorhatte, und das galt für Neftalí Reyes Basualto, späterer Künstlername Pablo Neruda, fast von Kindesbeinen an: Er wollte Dichter werden und zeigte das nach außen, "seit meiner frühesten Jugend in rituelles Schwarz gekleidet wie die echten Poeten des vergangenen Jahrhunderts", wie er später in seiner Autobiographie schrieb. Der Beweis, dass er damals nicht nur als Poet posierte, sondern tat, was des Dichters ist, liegt jetzt gedruckt auf Deutsch vor: 48 Gedichte, die Fritz Rudolf Fries aus Nerudas "Schulhefte von Temuco" ausgewählt und - überprüfbar kundig, da der Band zweisprachig ist - übertragen hat.

Was hat der frühreife Junge damals gelitten! An unerfülltem Liebessehnen, an diesem Temuco, am Wetter, an der Tatsache, dass die Menschen ihn nicht als Poeten sahen! "Ein Jüngling von kaum fünfzehn Jahr, / schreibt Verse, darin die Bitterkeit pulsiert,  / er hat vom Salz der Enttäuschung gegessen immerdar, / indes ein anderer in Liebe groß stolziert." Produktionsort und -zeit: "In der Chemiestunde am 30. Juli." Diese Strophe kann stellvertretend für das weite Feld des Leidens stehen, und man müsste sich wirklich sorgen um den Jungen, gäbe es nicht auch immer wieder die Durchhalteparolen, die auf einen Jüngling mit gefestigtem Selbstbild schließen lassen. So heißt es in empfindsamer Selbstdarstellung: "Als ich zehn Jahre war, habe ich / meinen Weg entworfen gegen Wind und Wetter, / dass sie mich auf dem langen Weg nicht unterkriegen." Und Neftalí/Pablo ist durchaus zuversichtlich, dass er auch die anstehende akademische Ausbildung zum Nichtpoeten aussitzen wird: "Zum Teufel auch, dass sich im Leben wie in den Illustrierten / ein Dichter zum Dentisten examinieren lassen muss." Ganz so gravierend sollte der Umweg an der Universität von Santiago nicht werden, Neruda wurde von der zuständigen Fachkraft im Außenministerium nicht wegen irgendwelcher akademischer, gar dentistischer Meriten mit 23 Jahren zum chilenischen Konsul in Rangoon berufen, sondern weil er inzwischen als Dichter galt.

Es drängte ihn nicht nur damals, sich gedruckt zu sehen, aber seine Schulheft-Lyrik gehörte offensichtlich nicht zu dem, was er der Welt zeigen wollte. In seiner Autobiographie erwähnt er, dass seine Schwester ihm um 1970 besagtes Schulheft vorlegte. "Beim Wiederlesen musste ich über den kindlich-jugendlichen Schmerz lächeln, über das literarische Gefühl der Einsamkeit, das mein ganzes Jugendwerk prägt", und er fährt fort: "Der junge Schriftsteller kann nicht ohne dieses Zittern der Einsamkeit schreiben, selbst wenn es fiktiv ist." Besagte Einsamkeit wird sicher nicht ganz fiktiv gewesen sein in einer Umgebung, in der raubeiniger Pioniergeist dominierte und obendrein der eigene Vater die Vorlage seines ersten Gedichts mit der Frage, wo er das abgeschrieben habe, kommentierte. Abgeschrieben haben wird er nicht, Neruda erwähnt aber in den Schulheften einige literarisch-philosophische Unterstützer, die ihm bei der Produktion hilfreich waren. Dazu gehören Verlaine, Mallarmé, Nietzsche und "Dann kam Schopenhauer und nahm mir meine Heiterkeit. / Das Fleisch, so möchte ich sagen, wird trister mit jedem Tag, / und trauriger vermehren sich in meinem Leben die Fragezeichen."

Nerudas Lächeln über seine Jugendlyrik darf man wohl lesen als Einladung an alle, es ihm gleichzutun, allerdings mit der Maßgabe, dieses Lächeln auf sich selbst auszuweiten, denn "Schulhefte von Temuco" dürfte es in Varianten auch in Peine, Itzehoe sowie in Frankfurt und New York massenhaft geben, Notizen eines pubertierenden grandiosen Selbst, das der Welt vorhält, es nicht adäquat zu erkennen. Selten wird man dabei allerdings im Nachhinein solche Kongruenz von Willen und Weg sehen wie in diesem Fall. Das macht den spezifischen Reiz aus: in den "Balladen von den blauen Fenstern" zu gründeln als frühen lyrischen Tagebuchfragmenten eines Menschen, der als Jüngling schon entschlossen ist, den Nobelpreis für Literatur zu erhalten. Dass ihn vorher noch der Stalin-Preis erreichen sollte, war ihm da durchaus noch nicht gesungen, und nichts aus den Schulheften lässt sich als Bewerbung um denselben verstehen.

BURKHARD SCHERER

Pablo Neruda: "Balladen von den blauen Fenstern". Gedichte. Spanisch/Deutsch. Auswahl, Nachdichtung und Nachwort von Fritz Rudolf Fries. Luchterhand Literaturverlag, München 2000. 136 S., geb., 25,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Seine Gedichte aus der Schulzeit hatte Pablo Neruda weggegeben und galten als verschollen, bis sie vor kurzem auf einem Dachboden wieder auftauchten und 1997 erstmals in voller Länge veröffentlicht wurden, so berichtet Uwe Stolzmann. Er sieht diese Veröffentlichung als gelungene Ergänzung des Gesamtwerks Nerudas; vieles an den Gedichten sei "altklug und anrührend", aber sie gäben Einblick in den Reifungsprozess eines angehenden Dichters, legten Zeugnis ab, was er damals las, welche anderen Dichter er sich zum Vorbild genommen hat. Stolzmann bringt es auf die Formel: kopieren und probieren. Bei der deutschen Übersetzung bemängelt Stolzmann die gelegentliche Betonung des ohnehin etwas Schwerfälligen oder Überhöhten, doch der krittelnde Eindruck täuscht: insgesamt lobt der Rezensent die "einfühlsame" Nachdichtung von Fritz Rudolf Fries.

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