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"Ich werde es sagen. Ich werde es den Erwachsenen sagen" - endlich sagen, was der Mann, der neben dem neunjährigen Kristian im Bett liegt, ihm antut. Es ist ein Eid, ein Gelöbnis, ein selbst auferlegter Fluch, das Schweigen zu brechen. 20 Jahre mußten vergehen, bevor Kristian Jensen über seine Verletzungen sprechen konnte: Dann entstand ein schonungsloses Selbstzeugnis, der packende Bericht einer mißbrauchten Kindheit, getragen von der bewegenden Offenheit eines Opfers. Endlich darf der neunjährige Kristian ohne die Eltern in den Urlaub fahren. Gustav, ein junger Graphiker, nimmt sich seiner…mehr

Produktbeschreibung
"Ich werde es sagen. Ich werde es den Erwachsenen sagen" - endlich sagen, was der Mann, der neben dem neunjährigen Kristian im Bett liegt, ihm antut. Es ist ein Eid, ein Gelöbnis, ein selbst auferlegter Fluch, das Schweigen zu brechen. 20 Jahre mußten vergehen, bevor Kristian Jensen über seine Verletzungen sprechen konnte: Dann entstand ein schonungsloses Selbstzeugnis, der packende Bericht einer mißbrauchten Kindheit, getragen von der bewegenden Offenheit eines Opfers.
Endlich darf der neunjährige Kristian ohne die Eltern in den Urlaub fahren. Gustav, ein junger Graphiker, nimmt sich seiner an. Drei Jahre lang verbringt Kristian daraufhin fast jedes Wochenende bei Gustav; das sind drei Jahre Martyrium, die die Psyche des Jungen zutiefst prägen. Mit 20 zeigt er den Gewohnheitstäter schließlich an. Doch sein Leidensweg ist damit nicht zu Ende. Erst nach einer langen Phase des Schweigens, nach jahrelangen Therapien und aufgrund der Unfähigkeit, ein normales Leben zu führen, findet Kristian Jensen eine Sprache für den eigenen Schmerz.
Autorenporträt
Kristian Ditlev Jensen, geboren 1971 in der Nähe von Kopenhagen. Nach seinem Literaturstudium wurde er als Journalist tätig und machte sich mit kulinarischen Reportagen einen Namen. Er veröffentlichte Kurzprosa, einen autobiografischen Bericht und Essays sowie ein Drama, bevor 2004 sein hoch gelobter Roman erschien. Kristian Ditlev Jensen lebt in Kopenhagen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004

Bericht eines vergifteten Lebens
Kristian Ditlev Jensen dokumentiert sich als mißbrauchtes Kind

Der Mann redet ohne Punkt und Komma. Er schwatzt das Blaue vom Himmel herunter, lauter Belanglosigkeiten. Woche um Woche geht das so. Die Therapeutin hört geduldig zu. Sie fragt nichts, sie läßt ihn einfach gewähren. Irgendwann löst der Klient das Rätsel seines Redestroms: "Wenn ich bei Gustav schlief, mußte ich den Mund halten. Aber immer dann, wenn wir kurz vor dem Einschlafen waren, begann er, sich an mir zu vergreifen." Nur indem das Kind ständig plapperte, konnte es sich seinen Peiniger vom Leibe halten.

Mit neun Jahren hat Kristian Ditlev Jensen verlernt zu schweigen. Damals wurde er zum erstenmal mißbraucht. Drei Jahre später endete zwar sein körperliches Martyrium, doch sein Leben blieb vergiftet. Weder die Verurteilung seines Vergewaltigers noch diverse Therapien vermochten daran Grundlegendes zu ändern. Mit dreißig Jahren hat Jensen die Kraft gefunden, seine Geschichte aufzuschreiben und sich selbst wie den Leser dazu zu zwingen, der zerstörerischen Wucht und den fatalen Folgen des Kindesmißbrauchs ins Auge zu sehen.

Was man aus der kriminologischen Forschung weiß, spiegelt sich in Jensens Schicksal unmittelbar wider: Ein emotional verwaistes, um Anerkennung und Aufmerksamkeit ringendes Kind trifft auf einen Verbrecher, der es wechselweise mit Belohnungen überschüttet oder mit Erpressung bedroht. Für Kristian, den Arbeiterjungen aus Holbæk, ist es kein Problem, daß seine Eltern sparen müssen. Aber daß sie Mühe haben, den Alltag zu bewältigen, daß sie kaum Zeit und wenig Zuwendung für ihn erübrigen, das treibt ihn gleichsam in Gustavs Arme. Aus der Sicht des Neunjährigen besitzt dieser Mann, den er auf einer Reise nach Südfrankreich kennenlernt, "den Schlüssel für das gute Leben". Er verkörpert den Gegenentwurf zum heimischen Kleinbürgeridyll - ein weltgewandter Graphiker, ein Gourmet, ein Großstädter aus Kopenhagen. Daß Kristians neuer Freund zwanzig Jahre älter ist, scheint die Eltern nicht zu irritieren. Bereitwillig chauffiert der Vater seinen Sohn in die dänische Hauptstadt, wo Kristian fortan die meisten Wochenenden in Gustavs Appartement verbringen wird.

Was sich dort abspielt, will niemand wahrhaben. Nacht für Nacht mißbraucht Gustav das neun-, zehn-, schließlich elfjährige Kind, das sich nicht wehren, nicht entziehen kann. Sein "Nein" verhallt ungehört, sein Widerstand wird gewaltsam gebrochen. Auf das Grauen, das ihm widerfährt, reagiert Kristian wie die meisten Kinder in der gleichen Situation: "Ich schäme mich fürchterlich. Es darf nicht herauskommen, daß ich bei so etwas mitmache." Das Opfer sucht die Schuld bei sich selbst. Es kann die perfide Strategie des Täters nicht durchschauen und muß ihn deshalb decken. Tatsächlich ist Gustav das Paradebeispiel eines Pädokriminellen: Er besucht mit Kristian Kinos, Restaurants, Konzerte und erreicht, daß sich der Junge als "verwöhntes Miststück" fühlt, wenn er die "Gegenleistung" in Form sexueller Befriedigung verweigert.

Der Päderast versteht es perfekt, seine Umwelt zu täuschen und zu manipulieren. Er ist, wie Kristian erkennen muß, ein "Experte der sozialen Tarnung", anscheinend "der erste politisch korrekte Mensch in Dänemark". Deshalb macht niemand den Mund auf, nicht die Eltern, nicht Gustavs großer und wohlsituierter Bekanntenkreis, dem er sein Opfer gefahrlos als "meinen Freund" präsentieren kann. Und Kristian bleibt nicht das einzige Kind, das Gustav spazierenführt und vergewaltigt.

Den Teufelskreis der "klassischen Psychofolter" kann Kristian erst durchbrechen, nachdem Gustav ihn - den Zwölfjährigen - als "Schwulen" tituliert. Die Eltern, die das verzweifelte Kind ins Vertrauen zieht, verzichten darauf, zur Polizei zu gehen. Kristian selbst hat sie darum gebeten: "Er war unschuldig. Ich war der Verbrecher." Mit der Weigerung, das traumatisierende Geschehen anzuerkennen und aufzuarbeiten, beginnt der zweite, nicht minder dramatische Leidensweg des Heranwachsenden. Die Eltern versagen aufs neue, sei es aus schlechtem Gewissen, sei es aus schierer Ratlosigkeit. Während sie alles unter den Teppich kehren, entgleist und entgleitet ihnen der Sohn. Kristian kann sich nicht konzentrieren; er meidet den Umgang mit gleichaltrigen Jungen; er leidet unter Panikattacken und Wutausbrüchen; er haßt sich selbst. Seinen Schmerz ertränkt der Jugendliche im Alkohol, sein Unglück in wahllosen Beischläfereien. Mit knapp zwanzig Jahren trifft Kristian Ditlev Jensen eine ebenso erstaunliche wie mutige Entscheidung: Er zieht nach Kopenhagen und nimmt einen Aushilfsjob in Gustavs Büro an. Er will seinen Peiniger stellen, ihm Gelegenheit geben, sich wenigstens zu entschuldigen. "Du wolltest es doch selbst." So lautet die Antwort, die ihn erwartet - eine erbärmliche Ausrede, die sogenannte "Kinderliebhaber" stets im Munde führen.

Da entschließt sich Kristian, endlich zu tun, was seine Eltern versäumt haben: Er zeigt Gustav an. Nicht zuletzt, weil dieser sich nach wie vor ungeniert und unbehelligt an Kindern vergreift. Doch der Angeklagte zieht sich auch diesmal aus der Affäre. Am Ende steht eine zweijährige Bewährungsstrafe für ihn. Kristian ist empört, entsetzt, schockiert: "Ich kam nicht gegen ihn an." Machtlos muß er zusehen, wie der rechtskräftig verurteilte Kinderschänder weiterhin Jungen "abschleppt". Die Polizei, die er neuerlich alarmiert, läßt ihn unter Verweis auf die Rechtslage abblitzen - nach dem Motto: "Sie haben keine handfesten Beweise? Dann tut es uns leid!"

Dies ist, auch im Blick auf Deutschland, der bitterste Aspekt des ganzen Buches. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Kinderpornoring ausgehoben, ein einschlägiges Internet-Forum geschlossen oder ein Vater wegen Mißbrauchs seiner Tochter verurteilt wird. Die Polizei warnt neuerdings vor Spannern und Fummlern auf Spielplätzen, in Schwimmbädern und Parkanlagen. Warum, muß man mit Jensen fragen, bringt der Rechtsstaat die pädokriminelle Szene nicht zur Strecke?

DORION WEICKMANN

Kristian Ditlev Jensen: "Ich werde es sagen". Geschichte einer mißbrauchten Kindheit. Aus dem Dänischen von Walburg Wohlleben. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004. 310 S., geb. 19,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein heikles Thema: sexueller Missbrauch während der Kindheit. Kristian Ditlev Jensen hat ihn selbst erlitten, zwischen seinem neunten und zwölften Lebensjahr. Täter war ein junger Grafiker. Die Eltern merkten zunächst nichts, später hinderten "Apathie und Scham" sie daran, zu reagieren. Das Kind blieb mit seinem Schmerz und seinen Schuldgefühlen allein. Von dieser inneren Hölle des Heranwachsenden berichtet Jensen nun mit schonungsloser Offenheit. Der Rezensent "akd" attestiert dem Autor großes sprachliches Vermögen und einen eindringlichen Stil. Das Buch ist als Plädoyer für einen offenen und ehrlichen Umgang mit einem tabuisierten Thema zu verstehen; in Dänemark sorgte es bei seinem Erscheinen für Furore und erhielt den Literaturpreis der Zeitung "Weekendavisen".

© Perlentaucher Medien GmbH