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Der erste Roman des bedeutendsten Autors der Türkei - Orhan Pamuk
Konstantinopel 1905: Cevdet ist ein konservativer, aufstrebender Geschäftsmann, sein Bruder liebäugelt dagegen mit revolutionären Ideen. Das Land befindet sich im Aufbruch und sucht die Nähe zu Europa. Dreißig Jahre später hat Atatürk das Osmanische Reich in die moderne Republik Türkei verwandelt und Konstantinopel in Istanbul. Für Cevdets drei Kinder hat sich über die Jahre viel verändert: die Zeitrechnung, die Kleidung, die Schrift, das ganze politische System. Eindringlich und stimmungsvoll erzählt Orhan Pamuk in seinem…mehr

Produktbeschreibung
Der erste Roman des bedeutendsten Autors der Türkei - Orhan Pamuk

Konstantinopel 1905: Cevdet ist ein konservativer, aufstrebender Geschäftsmann, sein Bruder liebäugelt dagegen mit revolutionären Ideen. Das Land befindet sich im Aufbruch und sucht die Nähe zu Europa. Dreißig Jahre später hat Atatürk das Osmanische Reich in die moderne Republik Türkei verwandelt und Konstantinopel in Istanbul. Für Cevdets drei Kinder hat sich über die Jahre viel verändert: die Zeitrechnung, die Kleidung, die Schrift, das ganze politische System. Eindringlich und stimmungsvoll erzählt Orhan Pamuk in seinem großen Familienroman von der ewigen Suche seines Heimatlandes nach einer Identität zwischen Orient und Okzident.
Autorenporträt
Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus und lebte mehrere Jahre in New York. Für seine Romane erhielt er 1990 den Independent Foreign Fiction Award, 1991 den Prix de la découverte européenne, 2003 den International IMPAC Dublin Literary Award, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und in demselben Jahr den Ricarda-Huch-Preis, 2006 den Nobelpreis für Literatur und 2007 die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin als 'Ausnahmeerscheinung der Weltliteratur'.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2011

Der Untergang der Sultanswelt
Hommage an Tolstoi: Der frühe Roman „Cevdet und seine Söhne“ des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk
Die frühen Romane von Orhan Pamuk, die nun erst auf Deutsch erscheinen – zunächst „Das stille Haus“ von 1983 und nun „Cevdet und seine Brüder“ aus dem Jahre 1982 – geben unschwer ihre literarische Verankerung im russischen sozialen Realismus des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Man kann darin eine Schwäche erblicken, muss es aber nicht. Ist der geräumige, figuren- und ideenreiche realistische Roman nicht das ideale Gefäß für die politischen und künstlerischen Probleme, die bei Pamuk verhandelt werden? Pamuk selbst hat sich von seinem Frühwerk vorsichtig distanziert.
Für „Cevdet und seine Söhne“ habe er sich „im nachhinein jahrelang ein wenig geschämt“, schreibt er im 2010 verfassten Nachwort zu seinem Debütroman; er sei „sehr eng an die Tradition des europäischen ‚Familienromans‘ angelehnt“ gewesen. Als Vorbilder nennt Pamuk Tolstois „Anna Karenina“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“ – wie Tolstoi, aber anders als Thomas Mann, habe er die ganze Gesellschaft widerspiegeln wollen. Wenn Pamuk einen türkischen Familien- und Gesellschaftsroman in der Tolstoi-Nachfolge schreiben wollte, dann kann man nur sagen: dieses Vorhaben ist ihm geglückt.
Natürlich entfaltet Pamuks erster Roman noch nicht die ganze Spannweite der literarischen Möglichkeiten des künftigen Nobelpreisträgers. Allerdings waren viele der Bücher, auf die sich Pamuk später als Einflüsse berufen sollte, zur Zeit der Niederschrift des „Cevdet“-Romans (1974-1978) noch gar nicht geschrieben, etwa die postmodernen Kabinettstücke von Italo Calvino. Die Bücher des jungen Pamuk stehen jedenfalls hinter den späteren, reicher instrumentierten, weniger dem Realismus verhafteten Romanen nicht zurück. Der Realismus der Tolstoi-Schule erweist sich, am Beispiel Pamuks, als eine robuste Angelegenheit.
Was in Pamuks Roman zur Sprache kommt, ist, anhand dreier Generationen einer Istanbuler Familie zwischen 1905 und 1970, fast die ganze Geschichte der Türkei im zwanzigsten Jahrhundert; eben nicht nur die Geschichte eines bestimmten bürgerlichen Istanbuler Milieus, dem die Roman-Familie Isikci ebenso entstammt wie Pamuks eigene Familie, sondern eine Geschichte, die sich großräumig zwischen Istanbul, Ankara und Ostanatolien entspinnt und in der Ingenieure, Kaufleute, Dichter und politische Eiferer aller Couleur – also fast ausschließlich Männer – den Ton angeben; die von Atatürk eingeleitete Frauenemanzipation hat ihre Wirkung noch nicht entfaltet, oder vielleicht doch, nämlich in der Widerspenstigkeit von Cevdets Tochter Ayse. Im Jahre 1905 herrscht Aufruhr in Istanbul; eben ist ein Attentat auf den Sultan verübt worden und das alte Osmanische Reich ächzt in den Fugen. 1970 ist die Aufregung nicht viel geringer; das Militär droht mit dem Putsch, um dem ewigen Parteiengezänk ein Ende zu bereiten.
Das Jahr 1936, in dem das Hauptstück des Romans spielt, kann man dagegen fast schon ein ruhiges Jahr nennen. Atatürk ist seit einem guten Jahrzehnt an der Macht und hat die Türkei gegen alle kulturellen Traditionen auf den Weg zu einer laizistischen Republik gebracht. Man kann in dieser Zeit große Vermögen erwerben, wenn man wie Ömer, ein Freund der Isikci-Familie, in der Osttürkei in den Eisenbahnbau einsteigt.
Man kann sich zum Anwalt politischer Reformideen machen wie Refik, ein Sohn des alten Cevdet, der seine Weltverbesserungsträume in den türkischen Dörfern realisieren will, oder man kann sich wie Muhittin, sein Cousin, den radikalen Nationalisten anschließen und „Europa“ den Kampf ansagen. Bei Tag und Nacht geht es bei Cevdets Söhnen um Politik, wobei Osman, der den väterlichen Lampenladen übernommen hat, gegen die jungnationalen Fanatiker den Pragmatismus des Kaufmanns hochhält.
Der alte Cevdet war damals, 1905, als einer der ersten muslimischen Kaufleute in Istanbul zu Geld und Ansehen gelangt. Bis dahin war das Geschäftsleben fast nur in der Hand von Griechen, Juden oder Armeniern gewesen. Das erste Kapitel des Romans erzählt in einem Tag, einem heißen Sommertag des Jahres 1905, von Cevdets bürgerlicher und geschäftlicher Emanzipation, von seiner glücklichen Verlobung mit einer Tochter aus gutem Hause und vom Besuch bei seinem tuberkulosekranken Bruder, der aus Paris die Liebe zur Revolution mitgebracht hat. Es gärt in diesem Roman vom ersten Moment an, aber trotzdem scheint im ersten Kapitel die Welt noch in Ordnung.
Es ist die alte, selig-brüchige Vorkriegswelt, über der auch in Pamuks Roman die Sonne scheint, während das Wetter in den folgenden Kapiteln deutlich grauer und kühler wird. Wollte man den Roman verfilmen, so fände man den Stimmungen und Kulissen des ersten Kapitels noch reiche Nahrung, an den nachfolgenden dann nicht mehr. Hier wird fast nur noch diskutiert, leidenschaftlich zwar, aber auch ohne Maß und Ziel. Vielleicht sind die späteren Kapitel gerade deshalb die interessanteren. Man kann sich in ihnen eine Vorstellung davon machen, wie aus dem alten Sultanat allmählich eine moderne Gesellschaft wird: vor allem durch Reden und Streiten, sei es in Parlamenten oder am Familientisch. Die Künstler und kunstsinnigen Figuren, denen Pamuks besondere Aufmerksamkeit gilt, bilden dabei keine Ausnahme. Gerade sie lassen keinen politischen Streit aus und ähneln darin ihrem Erfinder.
Am Ende des Romans finden Cevdets Enkel das alte Tagebuch wieder, das Ahmets Vater in den dreißiger Jahren geschrieben hat. „Er hat“, sagt Ilknur, „zwar in arabischer Schrift von rechts nach links geschrieben, aber sein Tagebuch links angefangen, in europäischer Manier.“ „Tja, europäische Mentalität eben“, kommentiert Ahmet. Kein Wort könnte wohl für größere Zwietracht, quer durch Familien, sorgen als das von der europäischen Mentalität. Und doch endet Pamuks Roman ganz gelassen mit einem „Lob auf das Dahinfließen der Zeit“.
Man liest „Cevdet und seine Söhne“, der Länge seiner Debatten zum Trotz, mit nicht nachlassendem Interesse. Was könnte in Zeiten, in denen man sich fragt, wie die Transformation despotischer Herrschaftsformen in islamisch geprägten Ländern aussehen könnte, eine spannendere Lektüre sein? Pamuks Romane sind politisch relevant, ohne dass ihnen ihre politisch-gesellschaftliche Botschaft auf die Stirn geschrieben steht. Sie folgen auch darin dem Vorbild des russischen realistischen Romans, dass sie gesellschaftliche Ansichten und Ideale von Romanfiguren verkörpern lassen. Cevdet ist ein unpolitischer Kaufmann, sein Bruder ein politisierender Intellektueller. Der eine Sohn ist wieder ein Kaufmann, der andere ein Idealist, die Tochter wehrt sich gegen die traditionelle Frauenrolle.
Man sieht, Orhan Pamuk möchte, ohne dass seine Romane deshalb didaktisch wären, an seinen Figuren etwas Über-Individuelles zeigen. Dass man es sich von ihm gern zeigen lässt, ist ein Merkmal seiner Kunst.
CHRISTOPH BARTMANN
ORHAN PAMUK: Cevdet und seine Söhne. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2011. 668 Seiten, 25, 60 Euro.
Im Jahre 1905 herrscht Aufruhr in
Istanbul; eben ist ein Attentat auf
den Sultan verübt worden
Die Figuren gehen keinem
politischen Streit aus dem Weg,
sie ähneln ihrem Erfinder
Porträt des Künstlers als noch junger Mann: Orhan Pamuk, geboren 1952, an seinem Schreibtisch Anfang der 1990er Jahre Foto: MatthiasZeininger
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2011

Ein Hund namens Europa

Die "Buddenbrooks" von Istanbul: Orhan Pamuks Debütroman "Cevdet und seine Söhne" liegt fast dreißig Jahre nach seinem Erscheinen endlich auf Deutsch vor. Er zeigt ein Panorama der türkischen Gesellschaft.

Von Necla Kelek

Mit Glück findet man in Istanbul in einem der kleinen Antiquariate oder bei einem Trödler einen der schmalen kolorierten Leporellos, die das Panorama des Bosporus von Sultanahmet bis Bebek zeigen. Von der blauen Moschee, dem Sultanspalast, dem Topkapi-Serail, der Brücke zum Goldenen Horn, dem Galataturm, der das Viertel der Italiener und Griechen bekrönt, über Besiktas bis zum nach europäischem Vorbild am Ufer des Bosporus gebauten Dolmabahçe-Palast, in dem Atatürk starb, hat man dann die Stadt in den Händen, kann mit den Augen durch die Straßen oder am Ufer entlangspazieren. Ein ähnlich sinnliches Vergnügen ist das große Familienpanorama, dass der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem ersten, im türkischen Original im Jahr 1982 erschienenen Roman "Cevdet und seine Söhne" ausbreitet.

Man fährt mit Cevdet, einem muslimischen Kaufmann, in der Kutsche durch das Konstantinopel des Jahres 1905 und ist mit ihm in seinem Laden, über dem schon das Schild "Cevdet und Söhne" prangt, obwohl er noch gar nicht verheiratet ist oder Kinder hat. Besucht den zukünftigen Schwiegervater, spaziert durch die verwunschenen Gärten in Nisantasi, probiert französisches Dessert in einem Club der osmanischen Zeit, hört im schäbigen Hotelzimmer Cevdets schwindsüchtigen Bruder husten. Blättert man eine Seite in diesem Roman um, ist es, als öffne sich eine Tür in eine vergangene Zeit. Man spürt das sanfte Licht in den Salons, schmeckt den heißen Cay und den süßen Likör. Es ist, als nehme Pamuk den Leser an die Hand mit in seine Welt. Denn Pamuk beschreibt nicht, sondern löst alles in langsam ausführlich und manchmal schleppend dahingleitenden Szenen, Begegnungen und Dialogen auf, findet für die unterschiedlichen Auffassungen Charaktere, die uns bekannt erscheinen, weil sie authentisch sind. Es ist eine Art poetischer Realismus, der an Fontane erinnert.

Der Roman erzählt in drei Abteilungen vom Aufstieg Cevdets als Lampenhändler im Osmanischen Reich, vom Leben der Familie Mitte der dreißiger Jahre, als die Republik vor und nach dem Tod Atatürks mit Macht den Alltag verändert und die Cevdets zu Geld und Einfluss gekommen sind. Im dritten Teil schildert Pamuk, wie die Lebensentwürfe der Nachfahren mit den Zeitläuften kurz vor dem Putsch 1980 auseinandergehen.

Das Buch setzt ein am 24. Juli 1905, wenige Tage nach einem gescheiterten Attentat auf Abdülhamid II. Es ist eine Zeit des aufkommenden Nationalismus, in dem die führenden Schichten den in Paris und Potsdam ausgebildeten Offizieren der Jungtürken folgen und sich gegen die Despotie des Sultans wenden. Sie wollen europäisch sein, die Kaufleute sind Armenier, Griechen, Italiener und Juden; Cevdet ist als Türke und Muslim unter ihnen eine Ausnahme. Ein Türke gehörte noch nicht zur Elite, Cevdet hat das bürgerliche Leben noch zu lernen. Als er sich entschließt, eine Familie zu gründen, muss er mit dem Schwiegervater, einen in die Jahre gekommenen und um Geld verlegenen osmanischen Pascha, Tavla spielen. Seine zukünftige Frau sieht er nur kurz, als er wieder seine Kutsche besteigt. Frauen spielen im öffentlichen Leben am Bosporus dieser Zeit keine Rolle, und so sind sie auch im Roman - empirisch korrekt - ins Nebenfach und ins Haus abgedrängt.

Das zweite längere Kapitel ist Mitte der dreißiger Jahre angesiedelt. Cevdet hat inzwischen erwachsene Söhne und gibt das Geschäft und das Leben langsam aus der Hand. Die inzwischen bürgerlich gewordenen Türken bewundern die Europäer, die "wie ein Uhrwerk" funktionieren. Sie reisen nach Paris und Berlin, um den europäischen Code zu knacken, also herauszubekommen, wie der Europäer "tickt". "Ach, Europa! Ich muss immer an Europa denken, und jedesmal, wenn ich dort hinfahre, dann frage ich mich, warum die so anders sind als wir. Ja, warum? Warum sind wir so, wie wir sind?", fragt Sait Nedim, ein Schwager Cevdets.

Die neue Oberschicht bewundert den Fortschritt, aber es ist, als habe sie nur den Fes gegen den Hut oder die Uniformmütze getauscht. Europäisch sein, das heißt für sie nicht die Aufklärung zu lieben oder zu denken wie die Franken, sondern mit der Mode zu gehen. Zum Beispiel einen Hund zu besitzen und diesen im Haus neben dem Holzkohlebecken liegen zu lassen. Hunde galten (und gelten) bei Muslimen als unrein, und die Hunde von Istanbul wurden (und werden) regelmäßig eingefangen und "entsorgt". "Ein Hund gehört nicht in ein muslimisches Haus", sagt Sait Nedim. "Aber . . . Wir sind eben mit der Zeit gegangen. Hätte meine Mutter damals einen Hund hier gesehen, hätte sie das Haus auf den Kopf gestellt und alles rituell waschen lassen." Der Hund heißt "Graf", weil er gehört hatte, dass in Paris eine Dame ihren Hund "Pascha" gerufen hatte. Als Sohn eines Paschas fand er das respektlos, und so kam der Irish Setter zu seinem Namen. Es ist ein Hund namens Europa, dem man zurufen kann: "Schon gut, Graf, setz dich wieder auf deinen Platz."

Pamuk lässt seine Protagonisten all die zeitgemäßen Diskussionen um Familie und Freiheit, Individualismus und Nationalismus und Moderne führen. Das klingt konstruiert, ist es aber nicht, weil Pamuk es versteht, die Rollen überzeugend zu gestalten. Man kann diesen Roman als den Versuch der Selbstvergewisserung der neuen unter Kemal Atatürk aufgestiegenen Elite der türkischen Gesellschaft lesen. Eine Elite, die zwar die Parolen der Französischen Revolution von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" für sich reklamiert, damit aber sich und nicht auch die Bevölkerung Anatoliens meinte. Die Idee von Europa, so Pamuk, war ebenso aufgesetzt wie die Verbannung der Religion aus der Öffentlichkeit. Refik dachte: "Wenn man den Menschen etwas einpeitschen muss, kommt nichts Gutes dabei heraus!" Und als würden sie heute diskutieren, antwortet ihm sein Freund Muhtar, Zwang sei notwendig. Refik: "Aber Aufklärung darf doch nicht in Tyrannei ausarten." - "Was meinst du mit deiner Aufklärung? Fortschritt ja, das habe ich begriffen, der Fortschritt ist wichtig, aber mit der Aufklärung bleib mir vom Leibe! Solange es mit Industrie und Landwirtschaft vorwärts geht, kann es ruhig dunkel bleiben im Lande." Und an anderer Stelle sagt der Dichter resigniert: "Ich muss endlich aufhören mit meinen elenden Zweifeln und Vernünfteleien! Und muss glauben."

Das Buch ist eine notwendige Aufarbeitung einer tatsächlich nicht geführten gesellschaftlichen Diskussion um das Selbstverständnis der türkischen Republik und seinem Verhältnis zu Europa. Pamuk lässt seine Figuren diese Debatte führen, aber sie scheitern an den Verhältnissen und finden kein Gehör, weder Muhittins Gedichte noch Refik Studie zur Landwirtschaft bewirken etwas. Refik liest resigniert Hölderlins "Hyperion" und fragt sich: "Wer will denn überhaupt Freiheit? Um abzuwägen und dann festzustellen. Ich vielleicht als einziger!". Nur Ömer, der "Eroberer", findet seine Berufung in "Frauen, Geld, Ruhm".

Im dritten Teil macht sich Refiks Sohn Ahmet Gedanken, ob die Malerei relevant ist angesichts der bedrohlichen politischen Verhältnisse. Die alte Familienvilla weicht einem Apartmenthaus, in dem nurmehr Kleinfamilien Platz haben. Das angestrebte westliche Leben erscheint nur noch als eine schlechte Kopie.

Orhan Pamuk führte diese Auseinandersetzung um die Moderne in Büchern wie "Schnee" oder "Das neue Leben" fort, wenngleich mit anderen, moderneren literarischen Mitteln. Und in "Istanbul" erzählte er unlängst eine weitere Geschichte dieser Bürgerschicht. Der Grund für den Niedergang der kemalistischen Eliten und deren Ablösung durch die neuen, religiös-orientierten Bürgerschichten Anatoliens und warum dies so kommen musste, sind bereits in diesem Debütroman vorgezeichnet. Diese Eliten waren sich als Bürger selbst genug und hatten keine wirkliche Idee davon, wie eine Bürgergesellschaft in Anatolien aussehen könnte. So gelesen, ist "Cevdet und seine Söhne" klüger, als sein Autor beim Verfassen sein konnte.

Wie Thomas Manns "Buddenbrooks" ist "Cevdet und seine Söhne" ein Familien- und Gesellschaftsroman. Wie Thomas Mann schildert Pamuk die Veränderungen in der Oberschicht seiner Gesellschaft. Wie der Lübecker schreibt der Istanbuler Autor von seiner Klasse, sind viele Protagonisten als Mitglieder der eigenen Familie identifizierbar und, als wäre dies noch nicht genug, sind beide Romane Debüts von späteren Nobelpreisträgern.

Pamuks Roman erschien 1982 in der Türkei, einer "Zeit der Dämmerung", wie der türkische Sänger und Schriftsteller Zülfü Livaneli die mit Repression und Verfolgung aufgeladene Zeit seit der Militärdiktatur charakterisiert. Junge Leute in Istanbul hatten bis Anfang der achtziger Jahre revolutionäre Pläne, man war links oder rechts, man versteckte sich vor Polizei und Militär oder flüchtete nach dem Putsch nach Europa und verehrte von dort aus die Rebellen in den anatolischen Bergen oder unterstützte die 1978 gegründete PKK. In der Bundesrepublik bildeten sie links-revolutionäre Vereine, nationalistisch gesinnte Kreise folgten den Grauen Wölfen. Mitten in diese tiefe intellektuelle Depression trat mit Orhan Pamuk ein dreißig Jahre alter Autor, den diese aufgeheizte Debatte nur am Rande interessiert. Er legt eine im Stil des neunzehnten Jahrhunderts geschriebene Familiensaga vor. Acht Jahre hatte er daran auf den Prinzeninseln, im Sommerhaus der Familie, geschrieben.

Ich habe dieses Buch, das jetzt vorzüglich von Gerhard Meier übersetzt auf Deutsch erschienen ist, spät entdeckt. Erst nachdem ich "Das schwarze Buch" (1990), seinen zweiten Roman, gelesen hatte. Die schonungslose Abrechnung mit seiner Ehe hatte Pamuk in der Türkei berühmt gemacht. Die Ungeheuerlichkeit der Schilderung von intimsten Eheproblemen war damals Schock und Befreiung zugleich für den türkischen Leser, für den die Familie ein in sich geschlossenes Universum darstellt, aus dem nichts nach außen zu dringen hat. Aber anders als dieser Roman - ich kannte die entsprechende Literatur und die entsprechenden Debatten aus Deutschland zur Genüge - zog mich "Cevdet und seine Söhne" magisch an. Bis in die neunziger Jahre hinein befanden sich viele Intellektuelle in der Türkei in einer Lethargie. Pamuks Buch half mir zu verstehen, warum. Diese literarische Aufarbeitung und die Auseinandersetzung mit den europäischen Ideen vor dem Hintergrund der Geschichte der Türkei brachte den Grundkonflikt von Tradition und Moderne auf den Punkt. Jetzt verstand ich besser, warum die Debatten um Rousseau, Hölderlin oder Voltaire, die Refik, Ömer oder Muhittin in dem Roman führen, viele Menschen nicht erreichten. Europa war eben vorrangig eine Doktrin und herrschende Mode der Kemalisten und nicht des Volkes. Ich erspürte dieses Dilemma mit Pamuks Figuren und verstand, warum sie scheitern mussten und dass unterschiedliche Dinge gemeint sind, wenn über Europa geredet wird.

Joachim Sartorius hat 2005 bei seiner Laudatio zum Friedenspreis der Deutschen Buchhandels an Orhan Pamuk gesagt, dieser Schriftsteller sei in der Lage, "sowohl unser Leben als das eines Anderen zu erzählen, als auch das Leben von anderen Menschen als das unsere zu schildern". Orhan Pamuks Weltsicht bildete vom Beginn seines Schreibens in der Türkei die Ausnahme. Er ist einer der wenigen türkischen Europäer im Geiste. Zülfü Livanelli ist Weltbürger der Musik, Emine Sevgi Özdamar hat die türkische Migration nach Deutschland zu grenzüberschreitender Weltliteratur gestaltet; sie sind wie der Volksdichter Yasar Kemal Solitäre der türkischen und wie Özdamar auch der deutschen Kultur. Obwohl sich inzwischen viele aufgemacht haben, ihnen zu folgen, bleibt Pamuks Leistung einzig. Seine Kenntnis der Geistes- und Literaturgeschichte, das Gespür für die Mentalität seines Volkes befähigten ihn schon als jungen Autor, in die Seele der Türken zu blicken und seine Figuren als Individuen zu gestalten und nicht nur als Teil eines Ganzen wahrzunehmen. Das er dieses Talent zur Wahrheit nutzt, ist nicht selbstverständlich, und viele Türken haben ihm dies bis heute nicht wirklich verziehen. Es gibt türkische Schreiber, die behaupten, er habe den Nobelpreis bekommen, weil er wie ein Europäer schreibe. Sie meinen damit: weil er die Türkei an die Europäer verraten habe. Und obwohl sich Pamuk als Schriftsteller gegen die Vereinnahmung der Literatur durch die Politik wehrt und es ablehnt, dass sein Werk gelesen wird, als würde er den Türken Europa und den Europäern die Türkei erklären, ist seine Wirkung durchaus politisch. Er schreibt davon, welche Hoffnungen und Hemmnisse dieses Volk bewegt.

"Cevdet und seine Söhne" ist sicher der am konventionellsten geschriebene Roman Orhan Pamuks. Für mich ist er aber zugleich der schönste, weil er ein Panorama der türkischen Gesellschaft zeigt, das inzwischen wie die alten Leporellos langsam verblasst. Und es ist ein wahrhaft aktueller europäischer Roman, der ein Licht darauf wirft, welche Attraktion die Idee der Aufklärung immer noch und trotz aller Hindernisse hat. Auch dies können sich die aufklärungsmüden Europäer anhand dieses großen Romans einer Republik vor Augen führen.

Orhan Pamuk: "Cevdet und seine Söhne". Roman.

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2011. 665 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Bei "Cevdet und seine Söhne" handelt es sich um Orhan Pamuks Erstlingswerk, informiert Rezensent Walter van Rossum - ein Buch, von dem sich sein Autor später distanziert habe, weil es ihm zu eng an Thomas Mann und Tolstoi angelehnt war. Der Einfluss der "Buddenbrooks" wie der "Anna Kareninas" ist unverkennbar, räumt van Rossum ein, sieht im Unterschied zu Pamuk jedoch kein Problem darin. Im Gegenteil hält der Rezensent diese entfernte Verwandtschaft mit europäischen Vorbildern für signifikant und identifiziert prompt ein Hauptmotiv des Buches: "die Vermessung der türkischen Befindlichkeit an europäischen Idealen". Bei allen notgedrungenen Schwächen eines Erstlings hat das Familienepos aus den Gründerjahren der Türkei den Rezensenten außerdem prächtig unterhalten. Mehr noch: Es hat ihm eine Welt eröffnet und so manch krude Vorstellung über den südöstlichen Anrainer Europas begraben.

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"Wenn Pamuk einen türkischen Familien- und Gesellschaftsroman in der Tolstoi-Nachfolge schreiben wollte, dann kann man nur sagen: dieses Vorhaben ist ihm geglückt. ... Pamuks Romane sind politisch relevant, ohne dass ihnen ihre politisch-gesellschaftliche Botschaft auf die Stirn geschrieben steht." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 24.03.11

"Ein Familienepos über den Aufstieg und Niedergang einer bürgerlichen Dynastie, eine Art "Buddenbrooks" auf Türkisch. Pamuk erzählt hier ... im Stil des europäischen Familienromans, gewürzt mit leichter Ironie und starker Empathie." Stefan Hentz, Die Welt, 20.03.11

"Der Debütroman Orhan Pamuks aus dem Jahr 1982 enthält im Kern schon die Melancholie und das Personal seiner späteren Werke ... Eine liebevolle Beschreibung Istanbuls und eine detaillierte Schilderung des Lebens seiner Bewohner." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 15.03.11

"Ein Debüt, das wie ein prachtvolles Eingangstor vor seinem Werk steht." Claus-Ulrich Bielefeld, Tages-Anzeiger, 27.06.11

"Die 'Buddenbrooks' von Istanbul: Orhan Pamuks Debütroman zeigt ein Panorama der türkischen Gesellschaft. ... es ist, als öffne sich eine Tür in eine vergangene Zeit. Man spürt das sanfte Licht in den Salons, schmeckt den heißen Cay und den süßen Likör. ... Für mich der schönste Roman Orhan Pamuks, weil er ein Panorama der türkischen Gesellschaft zeigt, das inzwischen wie in alten Leporellos langsam verblasst." Necla Kelek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.11"Pamuk entfaltet ein ganzes Panorama Istanbuls um die Jahrhundertwende." Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 22.03.11

"Ein großes Zeitenpanorama, in dem sich die türkische Geschichte mit all ihren Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen spiegelt. ... Ein Roman, der lust- und kunstvoll Farben und Gerüche beschwört - und der auch ein großes Spiel mit Pamuks eigener Geschichte und der seiner Familie ist. ... Ein schönes Eingangsportal, das den Weg öffnet in das inzwischen weit verzweigte Werk des großen türkischen Erzählers und Literaturnobelpreisträgers." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 11.06.11

"Einen bedeutender Gesellschaftsroman über die Ursprünge des modernen Europas." Walter von Rossum, Die Zeit, 07.07.11

"In 'Cevdet und seine Söhne' beginnt Pamuk seine Auseinandersetzung mit Fragen, die ihn bis heute nicht losgelassen haben: Was ist die Türkei? Wo ist ihre Position zwischen Orient und Okzident? Gibt es einen Weg, der aus der osmanischen Tradition in die Moderne führt? Kann auch in der Türkei das Licht der Aufklärung leuchten?" Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 11.06.11
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