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Für den wahren Erzähler hören die Geschichten nie auf: Ludwig Harig, dessen Chronik des deutschen zwanzigsten Jahrhunderts begeisterte Leser fand, setzt die Erzählung seines Lebens fort. Er beleuchtet Episoden aus seinem Leben von der Nazizeit bis in die Gegenwart.

Produktbeschreibung
Für den wahren Erzähler hören die Geschichten nie auf: Ludwig Harig, dessen Chronik des deutschen zwanzigsten Jahrhunderts begeisterte Leser fand, setzt die Erzählung seines Lebens fort. Er beleuchtet Episoden aus seinem Leben von der Nazizeit bis in die Gegenwart.
Autorenporträt
Harig, Ludwig
Ludwig Harig, geboren 1927 in Sulzbach/Saarland, gestorben am 5. Mai 2018 ebenda, arbeitete von 1950 bis 1970 als Volksschullehrer; seit 1974 lebte er als freier Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Neben zahlreichen kleineren dichterischen Arbeiten, kulturkritischen Feuilletons und Glossen hat Harig über 50 Hörspiele, ein Theaterstück und mehrere autobiographische Romane geschrieben. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Böll-Preis und den Friedrich-Hölderlin-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2003

Das Geheimnis von Tante Erna
Aus tiefen Schubladen gezogen: Ludwig Harigs Lebensrückblick
Ludwig Harig ist ein lebenszugewandter, lebensfroher Mensch: Die Lust am Genießen lässt sich der 1927 im saarländischen Sulzbach geborene Erzähler nicht nehmen. In seinem Buch „Und wenn sie nicht gestorben sind” beschreibt er mit immer noch nachklingendem Wohlbehagen, wie er in den Fünfzigern mit Frau und Freunden ins Lothringische zum Picknicken gefahren ist. Auf seinem Campingstühlchen sitzend und schmausend hatte er sich damals seinem Bedürfnis nach bukolischer Idylle hingegeben: Welch ein Glücksgefühl, sich die Bilder der kleinen Dörfer und der blühenden Natur einverleiben zu können.
Ludwig Harig hat, was in der deutschen Literatur rar ist, ein optimistisches Naturell. Er selbst führt das auf seine saarländische Abstammung zurück, auf das Schwanken der Verhältnisse in dem kleinen (Saar-)Ländchen, das 1935 partout heim ins Reich wollte, aber auf französische Lebensart nie so ganz verzichten mochte. In seiner Romantrilogie „Ordnung ist das ganze Leben” (1986), „Weh dem, der aus der Reihe tanzt” (1990) und „Wer mit den Wölfen heult” (1996) hat Harig seine Familiengeschichte im 20. Jahrhundert nacherzählt. Sie ist der deutschen Katastrophe geprägt, aber bei aller Düsternis gab es in Harigs Büchern stets das Pfiffige und Widerständige, das Bedürfnis seiner Protagonisten, sich nicht unterkriegen zu lassen.
„Und wenn sie nicht gestorben sind” ist Nachtrag und Nachklang der Trilogie. Noch einmal schreitet Harig das Jahrhundert ab, vergewissert sich der alten Geschichten und vertrauten Personen. Auf den Spuren des Vaters geht er über die Schlachtfelder bei Verdun, erinnert sich an die expressionistischen Dichter Alfred Lichtenstein und Reinhard Johannes Sorge, die an den Orten gekämpft haben (und gefallen sind), wo auch der Vater gekämpft hat. Er ruft sich die dreißiger Jahre seiner Kindheit zurück und erweist sich dabei als Meister der kleinen Anekdoten, in denen harmlose Kleinbürgerlichkeit aufscheint, die sich gegen die Verführungskraft des Nationalsozialismus nicht wird wehren können.
In diesen Passagen ist Harigs Provinz, das behaglich und bedrohlich zugleich. In beengten Verhältnissen wächst das Interesse des Kindes an der Literatur. Es gibt ein Erweckungserlebnis voller Witz und tieferer Bedeutung: Tante Erna, „unser Erna” genannt, wird zur Verblüffung des Knaben ständig zitiert: „Unser Erna” würde dies nicht machen und jenes erst recht nicht, und „unser Erna” stünde dies und jenes einfach nicht zu. Es dauert seine Zeit, bis Ludwig begreift, dass er aus dem „unsereenä” (unsereiner) fälschlicherweise Tante Erna herausgehört hat. Die Anekdote illustriert Harigs Lust an der Sprache (und am vieldeutigen Erzählen).
In der nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt im hessischen Idstein lernt der Vierzehnjährige zu seinem Glück Eichendorffs „Taugenichts” kennen, der ihm einen Phantasieraum öffnet, in den die dumpfe Indoktrination, die im Seminar stattfindet, nicht eindringen kann. Die Jahre in der Lehrerbildungsanstalt mit den fürchterlichen und furchtbar-komischen Lehrern und die Nachkriegszeit bilden das Zentrum in diesem Buch. Dem Erschrecken über die Verführbarkeit durch die Nazi-Ideologie steht das Glücksgefühl im Rückblick auf die Jahre als Assistent für deutsche Sprache in Lyon gegenüber, wohin Harig Ende der vierziger Jahre gelangt.
Wenn Harig aber in der Normalität des bundesrepublikanischen Alltags angelangt ist, schwindet die Spannung. Die Schilderung einer Lesereise von Buchhandlung zu Buchhandlung zieht sich lange und zäh hin, ein Gang zu den Stätten von Rousseaus Leben und Wirken ist solider Schulfunk, die Begegnungen mit Oskar (Lafontaine) und Erich (Honecker) zeugen von des Autors unverbrüchlicher Sympathie für die beiden Saarländer, und die Beschreibung einer Stadtrundfahrt durch Saarbrücken könnte, gekürzt, in jedem Reiseblatt stehen. Da hat Harig, mit Verlaub, ein bisschen zu tief in seinen Schubladen gekramt.
Der Variation seines alten Themas – Krieg und Nachkrieg am Beispiel der eigenen Familiengeschichte unter besonderer Berücksichtigung kleinbürgerlichen Lebens in der (saarländischen) Provinz – entlockt Harig jedoch auch in diesem Buch noch Funken. Und am Ende wird dann, wie im „Taugenichts”, alles gut. „Glück, das will gelernt sein”, heißt es an einer Stelle im Buch, und in der Tat: Harig war ein gelehriger und erfolgreicher Schüler.
CLAUS-ULRICH BIELEFELD
LUDWIG HARIG: Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben. Hanser Verlag, München 2002. 360 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Nur noch einmal hemm!
Ludwig Harigs autobiographische Essays / Von Walter Hinck

Dieser Band ist keine bloße Fortsetzung von Ludwig Harigs drei autobiographischen Romanen, obwohl im Titel "Und wenn sie nicht gestorben sind" ein Sprichwort zitiert wird wie bei den vorhergehenden Romanen "Ordnung ist das ganze Leben" (1986), "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" (1990) und "Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf" (1996). Nein, romanhaft wird hier die Erzählung der Lebensgeschichte nicht fortgesponnen, auch wenn der Untertitel "Aus meinem Leben" diese Erwartung noch wecken mag. Eine alte Regel autobiographischen Schreibens bestätigt sich: Sobald die Phase des Werdens durch die des Etabliertseins abgelöst ist, verliert die Biographie an Spannung; sobald Erreichtes genossen wird, droht die Erzählung fade zu werden, wenn sie sich nicht in Memoirengeplauder und Selbstfeier der Prominenz erschöpfen will.

Harig hat in den Romanen zunächst die Biographie seines saarländischen Vaters erzählt, die noch im Zeichen der französisch-deutschen Konflikte stand, dann die Geschichte seiner eigenen Unterordnung als strammer Hitlerjunge und als "Jungmann" einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt, schließlich seine Entwicklung zum Lehrer und zum Schriftsteller, vor allem in der Schule Max Benses. Was der neue Band hinzufügt, wird von Schriftstellern gern auch "Nachlese" genannt. Es sind kleine Erzählungen oder Skizzen, die autobiographische Linien weiterziehen, Tagebuchnotizen über Lesereisen, bei denen Harig gelegentlich durch kuriose Reaktionen der Hörer überrascht wird, Berichte über Touren, die literarischen Fährten nachgehen, und über Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen, auch kleine literarisch-philosophische Essays.

Die Nennung eines Namens kann umfangreiche Recherchen auslösen. Bei einer Lesung aus dem Roman "Weh dem, der aus der Reihe tanzt" sagt eine Frau in der ersten Reihe plötzlich, die im Roman genannte Freundin eines in Harigs Heimatort Sulzbach bekannten Studenten sei sie gewesen. Und nun wickelt Harig aus dem Geflecht von Erinnerung, Gespräch und Nachforschung die Geschichte des Studenten Willi Graf heraus, der in München zur "Weißen Rose", zur Widerstandsgruppe der Geschwister Scholl, stieß, verhaftet wurde und am 12. Oktober 1943 unter dem Fallbeil starb.

Eine andere Wiederbegegnung mit einer seiner Figuren gibt etwas preis über die Ästhetik autobiographischen Schreibens, über das Verhältnis von Tatsachen und Erfindung, von Fakten und Fiktion. Am Anfang desselben Romans stellt Harig die Figur des Sulzbacher Schülers René vor, den die Mitschüler wie ein "räudiges Schaf" behandeln und in dem sie entweder einen Juden, Zigeuner oder Franzosen vermuten. Nach sechzig Jahren meldet sich dieser René, den er als ängstliches kleines Kind im Gedächtnis hat. Aber kein zartes Männchen öffnet ihm, sondern ein "großer, schwerer Mann mit starker Nase und mit starkem Kinn". René amüsiert sich über die extravaganten Erinnerungsbilder in Harigs Roman. Bunte Kleidung und Schnallenschuhe habe seine Mutter getragen, er sei im Armeleutekittel zur Schule gekommen und von keinem Chauffeur gebracht worden. Aber, so versicherte der alte René, die Verwechslungen, die erzählte Geschichte glaube er lieber als die Wahrheit. Der autobiographische Autor muß seinen Gedächtnisirrtum, seinen Hang zu fabulieren eingestehen, aber der ihn überführt, freut sich der "Verfälschungen". Einen besseren Fürsprecher seiner poetischen Freiheit kann sich ein Romanautor nicht wünschen.

Eine andere Art von Wiederbegegnung sucht Harig im Bericht "Rousseaus vergessene Findelkinder". Die wichtigsten Lebensstationen des Philosophen hatte er in "Rousseau - Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn" (1978) vorgestellt. Im Jahr der Wiederkehr von Rousseaus zweihundertstem Todestag fährt Harig noch einmal diese Stationen des Lebens ab, vergleicht die Orte und Landschaften von einst mit ihrem heutigen Zustand und will herausfinden, was heute von Rousseau noch lebendig erhalten ist. Er findet einen Jünger Rousseaus, einen General, der Landwirt geworden ist, aber in Môtiers ist der Philosoph immer noch unbeliebt - gegenwärtig bleibt er eigentlich nur in den Museen.

Gemeinsame Ansichten über Rousseaus Autobiographie "Bekenntnisse" stellen sich rasch im Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt her. Wie auch Marcel Reich-Ranickis "Mein Leben" sind die autobiographischen Bücher Goldschmidts für Harig Anlaß, sich der Gegensätzlichkeit der Lebensläufe bewußt zu werden. "Was für ein Abgrund" zwischen seiner "und meiner Welt!" - zwischen dem im französischen Exil überlebenden Sohn eines jüdischen Juristen aus Hamburg, der seine erwachende Sexualität "für das Merkmal des Judeseins" hält, und dem von einer "menschenverachtenden Ideologie" verführten Jungen. Nirgendwo ist in der Rückbesinnung Harigs auf die eigenen autobiographischen Romane der Ernst so sehr von nachträglichem Entsetzen durchdrungen wie in der Konfrontation mit den Autobiographien jüdischer Schriftsteller.

Nicht unbedingt zu literarischen Glanznummern werden Harigs Dialoge mit wichtigen Personen der Zeitgeschichte. Der "Spaziergang mit Oskar" hat drei Wochen nach dem Attentat auf Lafontaine stattgefunden, der Politiker ist noch Rekonvaleszent, und er ist ein Freund. "Ich liebe Oskar, wie er ist." Das sollte freilich kein Grund sein, in den Ton der alten Hofpoesie zu fallen: In Oskars "Augen blitzt jetzt wieder der alte Schalk, auf seinen Lippen blüht das Lächeln, und seine Wangen röten sich so apfelfrisch . . ."

Von blühenden Lippen und Apfelfrische kann nicht mehr die Rede sein bei dem anderen gebürtigen Saarländer: Erich Honecker. Die DDR ist kollabiert, Harig interviewt den Häftling im Untersuchungsgefängnis Moabit. Honecker erträgt seine Krebskrankheit mit überraschender Fassung; nicht überraschen kann Harig, daß der ehemalige Staatsratsvorsitzende die Welt nicht mehr versteht. Das Gespräch bleibt ziemlich unergiebig. Aber dann, zum Abschied, erhält die Szene einen sehr melancholischen, sehr menschlichen Zug, als Honecker seinem saarländischen Landsmann seinen letzten Lebenswunsch zuflüstert: "Nur noch einmal hemm!"

Einen bewegenden Nachruf hat Harig dem Schriftsteller und Übersetzer Eugen Helmlé, dem Freund aus Schülertagen, geschrieben. Aber Trauer ist doch nicht das eigentliche Lebens- und Antriebselement des Schriftstellers Harig. Im Jahr 1977 hat er sein Lesebuch über die "gute Art zu leben und zu denken" veröffentlicht, unter dem Titel "Die saarländische Freude". Im neuen Buch wiederholt er seine Huldigung an saarländische Geselligkeit. Und in einem anmutigen Essay über das Glück setzt er gegen die deutsche Auslegung des Glücks (Oberflächlichkeit, Getändel, Spielerei) die mediterrane (Glückstechnik, Kunstgriff). Ja, in einer Welt, die von Kassandrarufen widerhallt, hat sich Harig die Fähigkeit bewahrt, Glück anzunehmen und sich der glücklichen Momente zu freuen. Das ist nicht Naivität, sondern eine Lebenskunst, die in seiner Dichtung widerscheint.

Ludwig Harig: "Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben". Hanser Verlag, München und Wien 2002. 360 S., geb., 21,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Claus-Ulrich Bielefeld zeigt sich recht angetan von Ludwig Harigs Lebensrückblick. Er attestiert dem 1927 im saarländischen Sulzbach geborenen Erzähler ein in der deutschen Literatur eher seltenes "optimistisches Naturell". Seine Romane, obgleich von der deutschen Katastrophe geprägt, zeichnen sich nach Ansicht Bielefelds bei aller Düsternis stets durch das "Pfiffige und Widerständige" der Protagonisten aus. In "und wenn sie nicht gestorben sind" schreite Harig das Jahrhundert ab, vergewissere sich der alten Geschichten und vertrauten Personen, berichtet Bielefeld. Vor allem in seinen Erinnerungen an die Kindheit in den dreißiger Jahren erweist sich Harig nach Einschätzung Bielefelds als "Meister der kleinen Anekdoten", "in denen harmlose Kleinbürgerlichkeit aufscheint, die sich gegen die Verführungskraft des Nationalsozialismus nicht wird wehren können". Spannend findet Bielefeld auch Harigs Beschreibung seiner Jahre in der nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt, die das Zentrum in diesem Buch bilden. Zu seinem Bedauern schwindet diese Spannung ein wenig, wenn Harig in der Normalität des bundesrepublikanischen Alltags ankommt.

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"Seine Literatur ist ein Ordnen der Welt von ihren Anfängen her: den Wörtern."
Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung