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Weder liberale Fortschrittsdiagnosen noch verfallstheoretische Zukunftsprognosen können die Entwicklung des modernen Kapitalismus adäquat erfassen. Die kapitalistische Modernisierung und Rationalisierung droht in Entmündigung und Ausschließung umzuschlagen. An Beispielen wie der Vermarktlichung sozialer Beziehungen und industrieller Arbeit, der individualisierten Verantwortungszuschreibung in Strafrecht und Sozialpolitik, des Strukturwandels familialer Sozialisation und der Zunahme transnationaler Steuerungspolitiken untersuchen die Beiträge des Bandes die paradoxalen Verläufe kapitalistischer Entwicklung zwischen Freiheitsgewinn und Autonomieverlust. …mehr

Produktbeschreibung
Weder liberale Fortschrittsdiagnosen noch verfallstheoretische Zukunftsprognosen können die Entwicklung des modernen Kapitalismus adäquat erfassen. Die kapitalistische Modernisierung und Rationalisierung droht in Entmündigung und Ausschließung umzuschlagen. An Beispielen wie der Vermarktlichung sozialer Beziehungen und industrieller Arbeit, der individualisierten Verantwortungszuschreibung in Strafrecht und Sozialpolitik, des Strukturwandels familialer Sozialisation und der Zunahme transnationaler Steuerungspolitiken untersuchen die Beiträge des Bandes die paradoxalen Verläufe kapitalistischer Entwicklung zwischen Freiheitsgewinn und Autonomieverlust.
Autorenporträt
Prof. Dr. phil Axel Honneth, geb. 1949, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung, Professor für Sozialphiloso- phie am Institut für Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2003

Wir Durchgeknallten warten auf September
Haben sich die Mühen der Individualisierung gelohnt? Axel Honneth zieht eine paradoxe Bilanz

Was macht eigentlich - der Individualismus? Sein Begriff, "der zu den großen geistesgeschichtlichen Kategorien gehört" (Georg Simmel, 1913), hatte noch vor kurzem, in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine Art Goldgräberstimmung unter Soziologen ausgelöst. Man meinte, gleichsam ans Edelmetall des Menschen zu rühren, wenn man ihn als individualisierten, und das hieß: auf Authentizität, Selbstverwirklichung, Wahlfreiheit et cetera bedachten Zeitgenossen beschrieb. Man übersah, daß derartige Emanzipationsschübe den Menschen bereits seit der Renaissance begleiten, besonders virulent etwa in der Romantik wurden und jedenfalls mitnichten ein Merkmal erst unserer Zeit sind, der als "Erlebnisgesellschaft" aufgefaßten "Zweiten Moderne", eines vermeintlichen Epocheneinschnitts, vor welchem die Leute im Grunde nur dumpf und fremdbestimmt auf den Kufen ihrer Traditionen dahingeglitten wären. Aber das greift natürlich zu kurz. Denn daß in einer enttraditionalisierten Gesellschaft wie der unseren die persönliche Entscheidung für eine Tradition durchaus ein Akt der Individualisierung sein mag, blieb in dieser Optik ebenso unterbelichtet wie die Tatsache, daß auch eine Tradition, in die man hineingeboren wurde, im weiteren Lebensverlauf selbstbestimmt gelebt werden kann.

In ihrer Ungeschichtlichkeit trat die jüngste Individualisierungsforschung immer auch als Glücksforschung auf: je individualisierter der Mensch, desto glücklicher. Wobei das, was unter Individualisierung verstanden werden sollte, durchaus vage blieb. Kann sich nicht im Grunde jeder, der gelernt hat, für die Folgen seines Tuns Verantwortung zu übernehmen, individualisiert fühlen? Im Wortsinn ist der Individualisierte freilich einer, der um den Eindruck eines inneren Ungeteiltseins willen sein Leben in geteilten Rollen zu leben versteht. In diesem Sinne singen heutige Individualisierungstheoretiker das Lob der "Bastelbiographie", des diskontinuierlichen Lebenslaufs, der auf dem langen Lauf "zu sich selbst" nacheinander (oder gar nebeneinander) möglichst unterschiedliche Lebensentwürfe durchprobiert. Aber damit verallgemeinern diese Theoretiker einen im Grunde sehr seltenen Typus Biographie, welcher doch eher das exzentrische Nomadentum eines August Strindberg beschreibt als unsere nach wie vor auf biographische Übersichtlichkeit bedachte Welt der Angestellten.

Strindberg, ein begnadeter Individualist fürwahr, aber eben doch einer, der erwiesenermaßen nicht alle Tassen im Schrank hatte und insoweit als Prototyp einer sich noch so flexibel gebenden "Zweiten Moderne" nicht gerade die beste, sprich: empirisch gehaltvollste Figur abgibt. "Er lebte impressionistisch, für den Augenblick, in Schwärmerei (ohne daß ein starkes Bewußtsein vom Sollen eines Zusammenhangs, einer zielhaften Entwicklung besteht). Er überwand, indem er einfach abstieß. So ist es charakteristisch, daß er zahlreiche Berufe schnell nacheinander ergriff. Keiner konnte ihm genugtun. Er war Student, Lehrer, Journalist, Bibliothekar, Arztgehilfe, Schauspieler. Er suchte etwas, fand aber nirgends die lebensformende Erfüllung, so sehr er augenblicklich befriedigt sein konnte." Was sich auf den ersten Blick wie das soziologische Skript der "Bastelbiographie" lesen mag, ist in Wahrheit die psychiatrische Beschreibung eines Durchgeknallten: ein Auszug aus Karl Jaspers' bekannter Strindberg-Studie.

Wie einfältig der neuere sozialwissenschaftliche Individualisierungsbegriff ist, zeigt sich denn auch in dem Resümee, das Axel Honneth in dem Sammelband "Befreiung aus der Mündigkeit - Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus" zieht. Offenbar war das Individualisierungstheorem tatsächlich als linearer Fortschrittsbegriff konzipiert, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden, welche neuen Unmündigkeiten, Konformismen und so weiter auftreten, wenn man es mit der Individualisierung übertreibt. Nur so ist zu verstehen, daß Honneth es als einen Erkenntnisgewinn feiert, wenn man heute auch die "Paradoxien" der Individualisierung in den Blick nehme. Dabei handelt es sich freilich um eine Selbstverständlichkeit. Denn es gehört seit je zum Handwerk des Sozialwissenschaftlers, soziale Vorgänge gerade auch auf ihre paradoxale Struktur, also auf ihre unerwarteten Nebenfolgen hin zu befragen. Schlimm genug, wenn die individualisierungstheoretischen Utopisten aus jüngster Zeit dies vergessen haben sollten, so daß einer trivialen Kategorie wie der Paradoxie nun der Rang einer sozialwissenschaftlichen Offenbarung beigemessen wird. Honneth kündigt an, die gesamte Arbeit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung künftig am Begriff der Paradoxie auszurichten.

Was bliebe der Zunft an Überraschungen erspart, hätte sie nur ihren Simmel studiert! Der hatte schon früh auf das abstrakte Leben als dem zentralen Risiko einer die institutionellen Bezüge abstreifenden Individualisierung hingewiesen. In einem berühmten, von Honneth zitierten Passus kritisiert Simmel die entsprechende Freiheit als illusionär: "scheinbar Freiheit zu allem - weil sie eben bloß negativ war -, tatsächlich aber eben deshalb ohne jede Direktive, ohne jeden bestimmten und bestimmenden Inhalt und deshalb zu jener Leerheit und Haltlosigkeit disponierend, die jedem zufälligen, launenhaften, verführerischen Impuls Ausbreitung ohne Widerstand gestattete - entsprechend dem Schicksal des ungefestigten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene ,Freiheit' nur den Raum gibt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen." Sagen wir es so: Wer beim Höhenflug des Individualverkehrs keinen erdenden Bergkristall in der Tasche trägt, dem wird die Luft naturgemäß zu dünn.

Man sieht, wie hier bereits an der Wurzel des Individualisierungstheorems viele der Dynamiken mitgedacht wurden, die das Theorem in sein Gegenteil verkehren können. Honneths "Paradoxien" bringen diese Dynamiken noch einmal auf den - kulturkritischen - Begriff: Aus der "Option" zur Individualisierung sei ein "Zwang" zur Individualisierung entstanden, schreibt er. So müsse man sich im Arbeits- und Beziehungsleben inzwischen allenthalben dem "Stilideal des möglichst originellen, kreativen Lebensentwurfs" beugen. Der Individualismus schlage auf die Individuen zurück, wenn "von den Arbeitenden unter Berufung auf ihre scheinbar gewandelten Bedürfnisse ein Mehr an Engagement, Flexibilität und Eigeninitiative verlangt wird, als es unter Bedingungen eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus der Fall gewesen ist". Auch würden Primärbeziehungen deshalb brüchiger und kurzlebiger, "weil sie immer stärker den Charakter von ,reinen' Beziehungen annehmen, in denen sich die wechselseitige Bindung allein noch aus dem flüchtigen Stoff der eigenen Gefühle und Zuneigungen speist". So bleibt die Frage, ob es für uns einen Weg zurück, gewissermaßen hinter die Individualisierung gibt. Wir Durchgeknallten sollten in Ruhe den September abwarten. Dann will, pünktlich zum neuen Semester, Axel Honneth noch einmal alles auf die Karte der Paradoxie setzen.

CHRISTIAN GEYER

Axel Honneth (Hrsg.): "Befreiung aus der Mündigkeit". Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2002. 254 S., br., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Elisabeth von Thadden wünscht und fordert, dass es nach dem "legendären Frankfurter Institut" von Horkheimer und Adorno wieder einen soziologischen Vorstoß gibt, der ausdrücklich "normativ" ausgerichtet ist, also Analyse der Verhältnisse zum Zweck der Veränderung betreibt. Mit diesem "schmalen" Buch liege nun zumindest ein "erster Versuch" in diese Richtung vor, freut sich die Rezensentin, auch wenn sie ihn etwas zaghaft findet. Sie kritisiert auch zuallererst, dass es bei den Autoren des Buches an "waschechten Ökonomen" und einer "starken psychoanalytischen Stimme" fehle, auch wundert sie sich, dass kein Beitrag von einer Frau geschrieben wurde und ausschließlich deutsche Autoren beteiligt seien. Dann wendet sie sich einzelnen Beiträgen zu. Zustimmend zitiert sie den Aufsatz von Klaus Günther, der argumentiert, Eigenverantwortlichkeit und Freiheit des Einzelnen sei nur bei gleichzeitiger "sozialstaatlicher Absicherung" möglich. Auch den Beiträgen von Honneth und Voswinkel über den "Zwang zur Originalität" und die Frage nach möglicher Anerkennung für "subjektivierte Arbeit" wie sie etwa die "unsichtbar arbeitenden" Hausfrauen leisten, stößt bei ihr zwar nicht auf explizites Lob, aber auch nicht auf Ablehnung.

© Perlentaucher Medien GmbH
Die Seele gibt auf
"Das Buch enthält erste Versuche, dem Kapitalismus neu ins Gesicht zu sehen û neu, weil es dessen Paradoxien in den Blick nimmt [...] Dies ist ein Anfang. Man wird ihn nicht übereilt nennen können." (Die Zeit (Literatur-Beilage), 12.12.2002)

Marktwirtschaft
"Die Lektüre dieses wirklich grandiosen Buches sollte nicht nur allen am Herzen liegen, die sich theoretisch mit den Fragen einer Zukunft unseres Wirtschaftens befassen; es muss auch von jedem gelesen werden, der sich mit seiner gesellschaftlichen Rolle auseinander setzt." (neue caritas, 01.02.2003)