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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.1998

Die Kohlrabi-Apostel
Horst Groschopp führt vor, daß den Freidenkern zur Rettung der Welt nicht nur Gemüse einfiel

Zum eisernen Bestand des aufgeklärten Bewußtseins gehört die Überzeugung, mit der Moderne habe das Wissen den Glauben abgelöst oder wenigstens dorthin gedrängt, wo er relativ folgenlos bleibt: in die Privatsphäre. Aber damit wird die Komplexität wohl doch zu sehr reduziert. Es gibt auch eine "Glaubensgeschichte der Moderne" (Friedrich Tenbruck), und zu ihr gehören nicht zuletzt die zahllosen Gruppierungen, die mit Eifer versuchten, den überlieferten Religionen das Wasser abzugraben und auf ihre eigenen Mühlen zu leiten.

Diesen Häretikern der Moderne hat Horst Groschopp eine informative Untersuchung gewidmet. Er verfolgt sie von den "Lichtfreunden" und "Deutschkatholiken" im Vormärz, die gegen den Dogmatismus ihrer Landeskirchen opponierten, über den Kulturkampf der siebziger Jahre, die Gesellschaft für ethische Kultur, den Bund für Mutterschutz und den Monistenbund bis zum Weimarer Kartell von 1907, in dem sich ein gutes Dutzend freidenkerischer Organisationen mit etwa zwanzigtausend Mitgliedern zusammenschlossen: eine veritable soziale Bewegung von akademisch gebildeten und aufstiegsorientierten Mittvierzigern, unter denen Pfarrer und Prediger dominierten. Unterstützt durch rührige Verleger wie Eugen Diederichs, flankiert von Rassenhygienikern und Sozialdemokraten, Lebensreformern und Jugendbewegten, breitete sich die Freidenkerei wie ein Flächenbrand aus. Besonders erfolgreich wirkte das "Komitee Konfessionslos", ein Ableger des Weimarer Kartells, das den "Massenstreik gegen die Staatskirche" propagierte und 1914 immerhin auf rund eine viertel Million Dissidenten verweisen konnte.

In der Revolution von 1918/19 schien es für einen Augenblick, als könnten die freidenkerischen Ideen sich durchsetzen. Unter dem sozialdemokratischen Kultusminister Adolph Hoffmann wurde die geistliche Schulaufsicht aufgehoben und der Kirchenaustritt erleichtert. Weitergehende Pläne zielten darauf, alle staatlichen Zuschüsse an die Kirchen einzustellen und die Kirchen außerdem der allgemeinen Steuerpflicht zu unterwerfen. Doch dieser Höhepunkt der Freigeisterei war bereits ihr Zenit. Der Angriff auf die kirchlichen Machtbastionen löste eine mächtige Gegenbewegung aus, die bis zu Drohungen aus katholischen Regionen ging, sich vom Reich abzuspalten. Die Weimarer Verfassung vermochte den Konflikt nur durch einen ihrer dilatorischen Formelkompromisse zu entschärfen. Sie verkündete zwar das Ende der Staatskirche, verankerte aber den Religionsunterricht an den Schulen und privilegierte die Kirchen als schutz-und förderungswürdige Körperschaften des öffentlichen Rechts - mit Folgen, die bis in die Gegenwart reichen, wie die Auseinandersetzungen um die Kruzifixe in bayerischen Schulen oder um den überkonfessionellen Religionsunterricht belegen.

Auf diese Weise durch die Geschichte der Freidenkerei geführt zu werden kommt bisweilen dem Blick gleich, den Jules Verne seine Reisenden durch die Bullaugen der Nautilus werfen ließ. Zu den Wundern der Tiefsee, die am staunenden Auge vorübertreiben, zählen Rohköstler und Sonnenbadfreunde, Tierschützer und Bodenreformer, Währungsumstürzler und Germanenschwärmer. Man begegnet Monisten, die sich der Wünschelrutengängerei annehmen; erfolgreichen Unternehmern, die in Wirtschaftsverhandlungen eine Sanskrit-Grammatik konsultieren; Frauenrechtlerinnen, die ihren Feminismus mit Nietzsche begründen. Ferner pazifistischen Kosmopoliten, humanistischen Sozialarbeitern, Propagandisten einer "weltlichen Seelsorge", Bekämpfern der Schundliteratur und deutschen Buddhisten. Und bisweilen tauchen Irrlichter auf, die bizarre Abgründe erhellen: prominente Protestanten, die ihre Kirche verlassen und sich der Sozialdemokratie anschließen, um später die Deutsche Vaterlandspartei zu gründen (Max Maurenbrecher); oder gar Wandervögel, die zur kommunistischen Jugendbewegung wechseln, um an der Seite eines Freidenkers wie Walther Ulbricht zu landen (Alfred Kurella).

Viel zu bestaunen gibt es also. Und doch: Man "sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern, / Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" (Schiller). Einmal dahingestellt, ob es überhaupt sinnvoll ist, ein so großes Spektrum unter einem insgesamt doch recht vagen Begriff wie Freidenkerei zusammenzufassen, vermißt man Typen und Konzepte zur internen Strukturierung des Feldes. Groschopp hebt zwar zu Recht die große Spannweite hervor, die auf weltanschaulichem Gebiet von gnostisch-mystisch-esoterischen Strömungen bis zum Szientismus Haeckelscher Provenienz reicht und politisch sowohl linke wie rechte Optionen umfaßt, bietet hierfür aber weder Bezeichnungen noch Erklärungen an. Eher verwirrend ist sein Hinweis auf "Fundamentalismus", versteht man darunter doch in der neueren Religionssoziologie eine welt- oder zumindest zeitablehnende Haltung, wie sie allenfalls von Minderheiten wie der Mahabodi-Gesellschaft gepflegt worden sein dürfte. Will man hier weiterkommen, so muß man die Nautilus verlassen, von der Kulturgeschichte zur Kultursoziologie wechseln. Aber dies ist ein zweiter Schritt, der nur möglich ist, nachdem Horst Groschopp den ersten getan hat. STEFAN BREUER

Horst Groschopp: "Dissidenten". Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1997. 448 S., geb., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Eine "fantastische Arbeit" ist das, lobt Martin Jander diese Untersuchung über Dissidentengenerationen in der DDR und der CSSR. Die Autorin habe mit Gewinn eine Generationenanalyse der Opposition in beiden Länder vorgenommen und dabei folgende Unterschiede herausgefunden: Während in der CSSR die Motive für den Widerstand generationsspezifisch waren, variierten sie in der DDR quer durch die Generationen - weshalb die Ostdeutschen ihren Widerstand auch individueller beschreiben. Warum sich die Autorin nach Janders Meinung mit dieser Erkenntnisse "nicht viele Freunde im Dissidentenmilieu" Ostdeutschlands machen wird, bleibt unklar. Auch zu dem erstaunlichen Preis dieses schmalen Bandes verliert Jander kein Wort.

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