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Politische Autobiografie und deutsche Zeitgeschichte
In Claus Leggewies Autobiografie spiegelt sich der Lebenslauf vieler Altersgenossen: kosmopolitisch, ökologisch engagiert, querdenkend haben sie Deutschland entscheidend mitgeprägt. In der Schilderung von Schlüsselszenen setzt sich etwas zusammen, das im Rückblick gern Entwicklung genannt wird, das er allerdings auch von Zufällen, Brüchen und Gefährdungen geprägt sieht. Da spürt der Kölner Junge plötzlich die Nähe der NS-Vergangenheit und begreift durch einen Blumenstrauß im Rinnstein eines Pariser Nobelviertels die Gewalt der Macht. 1968…mehr

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Produktbeschreibung
Politische Autobiografie und deutsche Zeitgeschichte

In Claus Leggewies Autobiografie spiegelt sich der Lebenslauf vieler Altersgenossen: kosmopolitisch, ökologisch engagiert, querdenkend haben sie Deutschland entscheidend mitgeprägt. In der Schilderung von Schlüsselszenen setzt sich etwas zusammen, das im Rückblick gern Entwicklung genannt wird, das er allerdings auch von Zufällen, Brüchen und Gefährdungen geprägt sieht. Da spürt der Kölner Junge plötzlich die Nähe der NS-Vergangenheit und begreift durch einen Blumenstrauß im Rinnstein eines Pariser Nobelviertels die Gewalt der Macht. 1968 betrachtet er von der Seitenlinie, seither macht er als Beobachter und Berater gelegentlich selbst Politik. Reisen führen in alle Kontinente, Begegnungen mit Menschen, Ideen, Weltanschauungen werden aufgeschrieben. Leggewie vergewissert sich der Erinnerungsspuren des eigenen Lebens und einer Generation, mit der sich fast alles änderte. So sind diese Erinnerungen auch ein spannendes Stück gelebte Zeitgeschichte.
Autorenporträt
Claus Leggewie (Dr. disc. pol.) ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Was die Wunde am linken Zeigefinger verrät
Ein Leben im Lichte historischer Ereignisse: Die Memoiren des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie

Konrad Adenauer hat Claus Leggewie einmal die Hand geschüttelt. Über die Lieblingsthemen des Politikwissenschaftlers - Klimawandel, Multikulturalismus, Vergangenheit und Zukunft ehemaliger Kolonialstaaten - haben die beiden dann aber nicht reden können, denn Leggewie war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Jetzt wird er fünfundsechzig und schaut auf sein Leben in einem soeben erschienenen Erinnerungsbuch zurück, das "Politische Zeiten" heißt. Und in dem er davon erzählt, wie der erste Kanzler der Bundesrepublik damals, 1959, nach Köln kam, um dem Apostelgymnasium einen Besuch abzustatten: Dort hatte Adenauer 1894 Abitur gemacht. Dort war Leggewies Vater inzwischen Direktor. Dort wurde Claus "politisiert", wie man in der Generation, aus der Leggewie kommt, so sagte. "Derart geprägt", schreibt er, "kann ich mit dem später mir und anderen verliehenen Titel ,Adenauer-Linker' durchaus einverstanden sein."

"Politische Zeiten" ist mehr eine Sammlung von Essays und Reflexionen, keine Chronologie. Leggewie erzählt zwar von seinen Frauen, seinen Kindern, seinen Platten (Massive Attack, Raï), seinen Eltern, seinem Volvo-Kombi. Von den vielen Freunden, die er in Kassel hatte. Von der Liebe zu New York und dem Fremdeln mit Gießen, wo er dann aber doch achtzehn Jahre lang blieb und Politikwissenschaft lehrte, bis er 2007 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen wurde. Aber diese Passagen drängt Leggewie an den Rand, weil er sich vor allem in dem Licht beschreiben will, das politische und historische Ereignisse auf ihn geworfen haben: "De facto", schreibt er einmal, "hatte ich seit Gründung der Bundesrepublik drei große und stets schwierige Einwanderungen erlebt." Das sind Ton und Perspektive dieses Buchs.

Ein Adenauer-Linker, ein Achtundsechziger, ein Professor, ein Multikulturalist - auf den 450 Seiten seiner Memoiren versucht Leggewie, gegen die begrenzende Wirkung solcher Etiketten anzuschreiben. Für die einen Kollegen war er immer zu links, für die anderen nie links genug. Vielleicht liegt das an Leggewies rheinischer Herkunft (obwohl in Wanne-Eickel geboren, was aber folgenlos blieb), vielleicht an der katholischen Erziehung, vielleicht daran, dass er als Student der Geschichte (und Hilfskraft von Theodor Schieder) bei den Soziologen landete und dann seine erste Stelle in der Politologie bekam, als Assistent am Göttinger Lehrstuhl von Bassam Tibi.

Leggewie möchte "Denkanstöße" geben und sich mit dem "Bösen" anlegen. Er gilt als derjenige, der 1990 in einem Buch den Begriff "Multi Kulti" etabliert hat - damit meinte er, wie er jetzt noch einmal erklärt, "die republikanische Integration der Verschiedenheit". Aber er prescht nicht voran. Ihm fehlt das Temperament seines Freundes Daniel Cohn-Bendit, den er "die prägende Figur" seines politischen Lebens nennt. "Es gibt Wichtigeres als den Frieden - die Freiheit", ruft Leggewie zwar einmal laut und deutlich, um seine Haltung im ersten Golfkrieg und beim Nato-Einsatz gegen Serbien zu erklären. "Auf wessen Seite ein politisch denkender und historisch bewusster Mensch stehen musste, wenn die irakische Armee in Kuweit und Kurdistan einfiel und in Tel Aviv Luftalarm ausgelöst wurde, war doch wohl klar." Aber eigentlich gefällt ihm die Widersprüchlichkeit der Welt, gegen die inzwischen kaum ein vernünftiger Mensch mehr Widerspruch erheben wird. Auch das ist ja ein Erbe der Achtundsechziger.

"Beobachtungen von der Seitenlinie" hat Leggewie seine Memoiren im Untertitel genannt. Ein eigenartig bescheidener Untertitel für ein unbescheidenes Buch. Denn Leggewie hat nicht nur Adenauer die Hand geschüttelt: Er hat auch mit dem Papst zu Mittag gegessen und mit Lou Reed im selben Haus in New York gewohnt. Helmut Rahn hat ihm einmal einen Ball an den Kopf geschossen. Ein Freund behauptet, dass Leggewie dem großen englischen Dichter William Blake ähnlich sieht: Auch das kann er nicht unerwähnt lassen. Und als der damals Dreizehnjährige vom Attentat auf Präsident Kennedy hörte, hat er sich vor Schreck geschnitten: "Die Wunde am linken Zeigefinger sieht man noch heute, der Mythos Kennedy ist inzwischen verblasst."

Eigenartig ist der Untertitel aber auch, weil Leggewie als Akademiker ja eben nicht an der Seite stehenblieb, sondern vor die Tür ging, und nicht nur in Talkshows, sondern hinaus in die Welt: Ende der siebziger Jahre erforschte er in Algerien die sozialen Folgen der Industrialisierung, daraus ist ein Lebensthema geworden, immer und immer wieder kommt er auf Algerien (und das schwierige Verhältnis Frankreichs zur ehemaligen Kolonie) zurück. Mit den Konflikten der arabischen Welt hat Leggewie sich schon früh beschäftigt, weil er ahnte und verstand, was vielen erst jetzt klar wird - dass sie auch unsere Konflikt sind.

Wien, New York, Paris, Mali, Sarajevo: Die internationalen Stationen seines Lebens liegen Claus Leggewie mehr am Herzen als die nationalen, für Gießen scheint er sich ein wenig zu genieren, Göttingen mochte er mehr, da erklärt er sich sogar zum "inoffiziellen Stadtschreiber": Tatsächlich wäre er vielleicht der Autor, die Kulturgeschichte westdeutscher Studentenstädte zu schreiben, mit ihren Antifa-Milieus und Volvo-Kombis. Wobei ihm dafür vielleicht die Selbstironie fehlt. Seine akademische Karriere, so viel erzählt Claus Leggewies Autobiographie, war möglich in einem Biotop, das es nicht mehr gibt.

TOBIAS RÜTHER

Claus Leggewie: "Politische Zeiten". Beobachtungen von der Seitenlinie. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 480 S.,

geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Zu seinem 65. Geburtstag hat sich der Politikwissenschaftler Claus Leggewie einen Streifzug durchs eigene, politisch bewegte Leben gegönnt, schreibt Rezensent Peter Unfried, der das Buch mit sichtlichem Vergnügen las: Als "Rockstar des politischen Denkens" äußerte sich Leggewie im Lauf seines Lebens nicht nur immer wieder zu politisch brisanten Themen, sondern hat mit seiner aufregenden Biografie, die ihn zu Sartre nach Paris, zu Andre Gortz aber auch zu Patti Smith geführt hat, auch einiges zu berichten. Unfried denkt nicht daran, dies Münkler als Eitelkeit auslegen: Dafür findet er es viel zu spannend, wie hier ein in jungen Jahren klassischer Maoist von Gesellschafsthemen und Vergangenheitswandel zu für die Zukunft relevanten Themen wie dem Klimawandel fand und das politische Geschehen im Zuge dessen nie bloß vom Uni-Schreibtisch aus betrachtete, sondern sich immer mitten hinein stürzte. Unfrieds Fazit: Ein positives, in die Zukunft gerichtetes Buch.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Leben im Lichte historischer Ereignisse." Frankfurter Allgemeine Zeitung