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Im Berlin der Jahrhundertwende schrieb Else Lasker-Schüler ihre ersten Gedichte, war in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller und Avantgarde-Förderer Herwarth Walden verheiratet, zeitweise mit Benn liiert, mit Georg Trakl befreundet. Franz Marc malte ihr seinen berühmten "Turm der blauen Pferde". Sie war die Radikalste unter diesen Radikalen, stand im Zentrum des künstlerischen Aufbruchs, der in Literatur, Kunst und Musik völlig neue Wege beschritt. Ihr Werk ist stark autobiographisch geprägt und vereinigt phantastische und religiöse Elemente mit einer ausgeprägten Naturliebe. 1932 mit dem…mehr

Produktbeschreibung
Im Berlin der Jahrhundertwende schrieb Else Lasker-Schüler ihre ersten Gedichte, war in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller und Avantgarde-Förderer Herwarth Walden verheiratet, zeitweise mit Benn liiert, mit Georg Trakl befreundet. Franz Marc malte ihr seinen berühmten "Turm der blauen Pferde". Sie war die Radikalste unter diesen Radikalen, stand im Zentrum des künstlerischen Aufbruchs, der in Literatur, Kunst und Musik völlig neue Wege beschritt. Ihr Werk ist stark autobiographisch geprägt und vereinigt phantastische und religiöse Elemente mit einer ausgeprägten Naturliebe. 1932 mit dem angesehenen Kleist-Preis ausgezeichnet, musste sie nur ein Jahr später vor den Nationalsozialisten in die Schweiz fliehen, von wo aus sie 1939 nach Palästina emigrierte. Dort starb sie 1945, ihr Grab liegt auf dem Ölberg in Jerusalem. Kerstin Decker hat sich mit vielbeachteten Biographien über Wegbereiter der Moderne einen Namen gemacht. Mit Else Lasker-Schüler, lange verkannt und vergessen und erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt, hat sie sich seit vielen Jahren intensiv befasst. Ihre "federnd leichte" (Der Spiegel), szenische Erzählweise ist wie geschaffen, um dieser faszinierenden Frau ein gebührendes Denkmal zu setzen.
Autorenporträt
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, Studium der Journalistik und Philosophie in Leipzig und Berlin. Als Buchautorin, Theater- und Filmkritikerin, Reporterin des Tagesspiegel und Kolumnistin der taz in Berlin tätig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2010

Das Drama von der Vogelscheuche

Endlich ist in einer neuen Ausgabe Else Lasker-Schülers Exilstück "IchundIch" zu entdecken. Die Finger lassen sollte man dagegen von Kerstin Deckers spekulativer Biographie über die Autorin.

Die Literaturgeschichte berichtet von Texten, die erst mit einigem zeitlichen Abstand zu ihrer Entstehung angemessen bewertet werden. Hölderlins Spätwerk, für das zuerst Norbert von Hellingrath eintrat, ist nur ein Beispiel dafür. Als der Herausgeber Werner Kraft das zwischen 1940 und 1941 im Jerusalemer Exil entstandene Schauspiel "IchundIch" von Else Lasker-Schüler nur in Auszügen in die erste postume Gesamtausgabe aufnahm, rechtfertigte er die Entscheidung mit einem Zitat aus einem Brief des Lasker-Schüler-Freundes Ernst Ginsberg, der bat, "im Interesse des Angedenkens und des unzerstörten Bildes der Lasker von einer Veröffentlichung dieses Werkes abzusehen".

Mehrere Gründe mögen Ernst Ginsberg zu dieser Bitte bewogen haben: Die einundsechzig Seiten von "IchundIch" sind ein erster, nicht zur Veröffentlichung bestimmter Entwurf mit handschriftlichen Korrekturen der Autorin. Dramaturgie und Orthographie wirken brüchig; die Sprache wechselt zwischen Kalauern, Pathos und bisweilen klappernden Reimen; Filmprojektionen, eine disparate Besetzung, eigenwillige Schauplätze stellen jede Regie vor die Schwierigkeit einer Realisierung mit konventionellen theatralischen Mitteln.

"IchundIch" entstand unter widrigen Bedingungen. Nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten war Else Lasker-Schüler aus Berlin in die Schweiz geflohen, dreimal reiste sie von dort nach Palästina, die dritte Rückkehr in die Schweiz wurde ihr dann verweigert. Ihre Produktivität blieb trotz Irrfahrten, fortgeschrittenen Alters und gesundheitlicher Beeinträchtigungen dennoch ungebrochen, wie "Das Hebräerland", "Mein blaues Klavier", ihr vielleicht schönster Gedichtband, die Briefe aus der Exilzeit und "IchundIch" zeigen.

Mehr als sechzig Jahre nach der Entstehung des Dramas kommt der Mitherausgeber Kevin Vennemann in seinem informativen Nachwort zu der nun vorliegenden, auf dem einzigen überlieferten Typoskript basierenden Ausgabe von "IchundIch" zu einem anderen Urteil als Ginsberg. Vennemann bezeichnet das Drama als "schärfsten und bittersten, treffsichersten, hellsichtigsten, verzweifeltsten Versuch seiner Zeit", eine "engagierte literarische Geste gegen die antisemitische Kriegs- und Vernichtungsnation Deutschland" zu vollziehen. Auch Leser dürften heute staunen über die politische Hellsicht des Dramas, das die "odemlose, leblose gegenwärtige Zeit" anprangert. Seine verschachtelte Handlung ist nur grob destillierbar: Else Lasker-Schüler greift den Faust-Stoff und das Motiv der Ich-Spaltung auf. In einer Theatrum-mundi-Szenerie, in der die Dichterin sowie Schauspieler, der Regisseur Max Reinhardt, der Kritiker Gershon Swet, Zuschauer und die alttestamentarischen Könige versammelt sind, wird in einer Stück-im-Stück-Handlung auf dem Schauplatz der "Althölle" die Dualität von Faust und Mephisto verhandelt. Im weiteren Verlauf erscheint die Spitze der nationalsozialistischen Regierung, Nazitruppen marschieren heran, die nun auch diese Hölle erobern wollen. Die Truppen versinken in Lavamassen. Hitler tritt mit Ribbentrop, Rosenberg und Himmler auf. Auch sie werden unter Lava begraben. Nach einem Gespräch zwischen der Dichterin und einer Vogelscheuche steht am Ende des Dramas eine seltsam epiphanische Szene, in der die Dichterin hinter dem Vorhang Gott erscheinen sieht.

Zentral für die Wirkung des Dramas ist dagegen sein Verfahren. In "IchundIch" arbeitet die Autorin mit Versatzstücken aus dem bürgerlichen Literaturkanon und ihrem eigenen Werk, sie zerfetzt das unfreiwillig zurückgelassene, von dem barbarischen System mit Füßen getretene Kulturgut und setzt diese Fetzen neu zusammen. So findet die Verscheuchte zu einer im Drama von der Vogelscheuche verkörperten, neuen, utopischen Poetik und zu einer die Exilerfahrung und die historische Situation reflektierenden Sprache. Die Kritische Ausgabe der Werke Lasker-Schülers, die auch im Hinblick auf "IchundIch" für eine dezidiertere Auseinandersetzung unentbehrlich ist, sowie literaturwissenschaftliche Studien der vergangenen zwei Jahrzehnte haben entscheidend dazu beigetragen, die Ästhetik der Autorin als bahnbrechend zu begreifen. Umso ärgerlicher ist in diesem Zusammenhang eine Biographie aus der Feder der Berliner Journalistin Kerstin Decker.

Anstelle einer sachlichen Lebensbeschreibung, wie sie Sigrid Bauschinger mit "Else Lasker-Schüler" zuerst 1980 und im Jahr 2004 dann aktualisiert vorgelegt hat, versucht sich Kerstin Decker an einer identfikatorischen, undistanzierten Romanbiographie, die einer verwässerten philosophischen Terminologie Vorrang gegenüber der literaturwissenschaftlichen gibt. Im Versuch der Parteinahme für Lasker-Schüler rennt sie mit Verve gegen bereits ausgeräumte Missverständnisse und die einschlägige Forschung an, was irritierende Sätze nach sich zieht wie: "Die Germanisten sind schon immer sehr unzufrieden gewesen mit den autobiographischen Auskünften der Dichterin."

Dass Else Lasker-Schülers poetisch verfremdete Schilderungen der eigenen Kindheit in der frühen Rezeption einige Verwirrung stifteten, hängt mit dem Anspruch der Autorin zusammen, Leben und Werk nicht auf getrennte Sphären zu verpflichten, sondern in eins zu setzen. Dies konnte in der frühen Forschung nur zu zahlreichen Fehlschlüssen bezüglich der Biographie führen. Die daran anschließende Diskussion, die diesen Anspruch herausgearbeitet und Missverständnisse ausgeräumt hat, erwähnt Kerstin Decker nicht. Schwarzmalerisch wird stattdessen die starre Wortklauberei der Germanisten als Feind der lebendigen Dichtung Lasker-Schülers aufgebaut.

Zudem schreibt Kerstin Decker in einer Sprache, die beim Versuch, den Duktus der Biographierten aufzugreifen, mal gezwungen, mal peinlich wirkt. Wortschöpfungen wie "denkfühlen" oder generalisierende Behauptungen wie: "Dichter sind Menschen, die die Abwesenheit des Ursprungs bemerken, von dem ein Teil zu sein sie die nie ganz abweisbare Ahnung haben und die dabei doch nicht immer schon vorgebahnten, immer schon vorgegangenen Wege zurück nehmen können. Sie sind Eigenwegfinder" sind nicht kongenial, sondern verschwurbelt; oder unfreiwillig komisch: "Dichter sind nicht zuletzt Menschen, die ein besonders intimes Verhältnis zu Bäumen unterhalten. Sie haben viele Gründe: etwa den, dass ein Baum wie der Dichter selbst mit den Wurzeln bis ins Innerste der Erde reicht und wie dieser mit der Krone in die Wolken, das sagen aber nur die Nichtdichter."

Ein strenges Lektorat hätte manchen Lapsus ausbügeln können. Der anempfindelnde Ton, der Else Lasker-Schülers Eigenart eher verwischt als herausarbeitet, wäre dadurch aber nicht verschwunden. Um der kohärenten Erzählung willen wird zudem schillernd ausgemalt, was der Faktenlage nach Spekulation bleiben muss, etwa die quellenlose Phase nach Else Lasker-Schülers Trennung von ihrem ersten Ehemann. So ist diese Biographie vor allem eines: entbehrlich. Den an Else Lasker-Schülers Leben interessierten Lesern sei der erwähnte Band von Sigrid Bauschinger empfohlen, in dem Sachkenntnis und Nüchternheit eine der Autorin angemessene und gut zu lesende Verbindung eingehen.

BEATE TRÖGER

Else Lasker-Schüler: "IchundIch". Hrsg. von Karl Jürgen Skrodzki und Kevin Vennemann. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 101 S., geb., 18,- [Euro].

Kerstin Decker: "Mein Herz - Niemandem". Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen Verlag, Berlin 2009. 480 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2010

Weil die Welt so heimatlos war
Biographie als Leidensgeschichte: Kerstin Decker lässt die Dichterin Else Lasker-Schüler in ihrer Zeit und in ihren Phantasien wieder lebendig werden
„Viele Menschen“, schreibt Kerstin Decker, „neigen zu der denkfaulen Unterscheidung von Realität und Fiktion“. Man kann, wie über viele Sätze in ihrem Buch, auch über diesen streiten. Denn es wäre wohl nicht weniger denkfaul, diese Unterscheidung zu unterlassen. Bei Else Lasker-Schüler aber ist es wohl richtig, wenn Decker behauptet, sie habe nur „verschiedene Realitätsgrade“ gekannt. Für einen Menschen, der in seiner eigenen Phantasiewelt lebt, ist Realität tatsächlich ein untergeordneter Begriff. Als Spezialistin für andauerndes Verliebtsein, die auf diesen Gefühlszustand angewiesen war, um zu Gedichten zu gelangen, musste Lasker-Schüler zwangsläufig die Realität zugunsten der Fiktionen überschreiten. Aber was heißt dann schon Realität.
Wie anstrengend es ist, so zu leben, nicht nur für die Dichterin selbst, sondern auch für die Menschen um sie herum, das lässt sich mit Kerstin Deckers einfühlsamer Lasker-Schüler-Biographie sehr gut nachvollziehen. „Mein Herz – Niemandem“ ist ein Roman über eine Frau, die von ihren Freunden als „neurasthenische Sappho“ bezeichnet wurde, während Gershom Scholem sie 1934 in Jerusalem nur noch als „Ruine“ betrachtete, „in der der Wahnsinn weniger haust als gespenstert“. Kerstin Decker macht beides deutlich – Verzauberungspotential und Wahnsinn –, und erfindet eine Figur, die vielleicht so oder so ähnlich wirklich gewesen ist.
„Alles Schreiben ist autobiographisch.“ Das ist eine weitere, streitbare Prämisse der Autorin, die im Falle Lasker-Schüler vielleicht tatsächlich stimmt. Daraus folgt, dass das ganze Werk Autobiographie ist und die Arbeit der Biographin darin besteht, es ins gelebte Leben hinein zu übersetzen: „Biographie ist radikale Vergegenwärtigung.“ Also steigt Decker sozusagen „live“ ein, mitten im Geschehen im September 1911. Else Lasker-Schüler sitzt im Berliner Café des Westens und schreibt Briefe an ihren Mann Herwarth Walden, der nach Norwegen gereist ist. Es sind Liebesbriefe, die in Waldens expressionistischer Zeitschrift „Sturm“ gedruckt werden. Doch Walden verliebte sich in Norwegen in eine andere Frau, und aus der öffentlichen Liebes- wurde eine öffentlich vollzogene Trennungsgeschichte. Lasker-Schüler bot ihren Zeitgenossen das, was heute TV-Soaps bieten: Leidenschaft in Fortsetzung, Dichtung und Leben verschmolzen.
Lasker-Schüler, so wie sie bei Kerstin Decker entsteht, war Bohème. Als jüdische Bürgerstochter aus Wuppertal scheiterte sie zunächst in einer bürgerlichen Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker, um sich danach erst radikal dem Dichten und Lieben zu widmen und bürgerliche Dinge wie Geldverdienen, Wohnung und Sicherheit zu vernachlässigen. Ihre Bücher verkauften sich schlecht und warfen kaum etwas ab.
Lasker-Schüler zögerte nie, bei Kollegen und Institutionen herumzubetteln, um ihre Existenz zu sichern. Als Künstlerin hatte sie ein Recht darauf, fand sie. Geld war etwas, das man ihr zukommen lassen musste. Und wenn da nicht Karl Kraus gewesen wäre, der sie protegierte und ihre Gedichte in der Fackel abdruckte, wer weiß, wie es ausgegangen wäre.
Männer, immer wieder Männer: Die Verliebtheitsvirtuosin kam nicht darum herum, mit und neben ihnen glücklich-unglücklich zu werden. Da war zunächst und vor allem der große Anarchist, Sozialist, Naturalist Peter Hille, ein Mann mit gewaltigem Bart, obdachlos und halb verhungert, den die Berliner Künstlerszene durchfütterte, bis er 1904 an Tuberkulose starb. „Ich bin, also ist Schönheit“, war sein Lebensmotto. Für Lasker-Schüler war er Heiliger, Mönch, Prophet.
Hätte sie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gelebt, wäre sie vermutlich zu Bhagwan nach Indien gereist. Sie war eine frühe Vorläuferin der Hippies, trug bunte Kleider oder – ungewöhnlich für eine Frau ihrer Zeit – Hosen, war behängt mit billigem Schmuck und grellen Ohrringen. Gottfried Benn, der sie für die größte Lyrikerin des Jahrhunderts hielt, war es immer ein bisschen unangenehm, mit dieser Traumtänzerin über die Straße zu gehen, weil sich alle nach ihr umdrehten. Benn, der dichtende Pathologe, der 1912 seine eiskalte Totenlyrik aus der „Morgue“ publizierte, war die nächste große Liebe in ihrem Leben. Die Texte, die sie füreinander schrieben – Liebes-, Kampf- und Trennungsgedichte – sind große Eruptionen. Kerstin Decker zitiert sie ausführlich. Das macht aus ihrer Biographie auch ein literarisches Lesebuch. Hille und Benn sind ganze Kapitel mit prägnanten Kurzporträts gewidmet.
Der dritte und wichtigste Geliebte war schließlich der Sohn Paul, an dem sich die ganze Tragik der Dekadenz zeigt: hochbegabt als Zeichner, aber antriebsarm und ziellos, litt er an Tuberkulose, wie so viele dieser „Zauberberg“-Generation: „Ich hätte ihn tragen können, einsingen können in den Todesschlaf“, schrieb die Mutter, in deren Armen er starb.
Dass auch diese exaltierte, gefühlsintensive Frau 1914 der Kriegsbegeisterung verfiel, ist vielleicht weniger erstaunlich, als es auf den ersten Blick erscheint. Dem Maler Franz Marc, ihrem „blauen Reiter“, den sie mehr als nur verehrte, wäre sie am liebsten an die Front gefolgt. Mehr und mehr entwickelte sich ihre Existenz in den 20er Jahren zum Überlebenskampf. Erfolge stellten sich nur zögerlich ein; den meisten ihrer Zeitgenossen war sie ganz einfach zu anstrengend. Die Akademie der Künste wollte sie nicht aufnehmen, der Kleistpreis kam 1932 zu spät. Die Jahre im Exil müssen nur noch quälend gewesen sein. Die biedere Schweiz wollte sie auf Dauer nicht dulden, und auch im gefährlichen Palästina konnte sie nicht heimisch werden. Kein Wunder, bei einer Berlin-Dichterin und Großstadt-Indianerin, die, wie sie einmal schrieb, in ihren Gedichten Heimat finden wollte, „weil die Welt so heimatlos ist.“
Kerstin Deckers Lasker-Schüler-Biographie ist vor allem eine Leidensgeschichte, weil sich eben doch ein Spalt auftut zwischen der „Realität“ und der „Fiktion“, weil auch das phantasierte Leben einer Liebenden in der Geschichte stattfindet. Decker schreibt voller Empathie, ohne Widersprüche zuzukleistern. Störend ist allenfalls ein atemloser, von rhetorischen Fragen angetriebener Gegenwarts- Stil, der zu apodiktischen Behauptungen neigt. Decker macht sich das Lasker- Schülersche „Denkfühlen“ vielleicht etwas zu sehr zu eigen, wenn sie hochtönend schreibt: „Eine Dichterin glaubt anders an Gott als die Lebensbürger.“ Oder: „Jeder Dichter, jede Dichterin weiß, dass das Herz ein selbständiges Wesen ist.“ Solche Sätze sind klischiert, trivial oder auch einfach nur Unsinn. Auch Superlative („Noch nie hat die Presse so reagiert“; „das erotischste Gedicht der Weltliteratur“) stören den Gesamteindruck. Aber vielleicht sind solche Übersteigerungen der Preis für eine aus großer Anteilnahme heraus geschriebene Lebensgeschichte, die den Vorzug hat, eine Figur in ihrer Zeit wirklich lebendig werden zu lassen.
JÖRG MAGENAU
KERSTIN DECKER: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker- Schüler. Propyläen, Berlin 2009, 476 Seiten, 22,90 Euro.
Sie trug bunte Kleider oder Hosen,
war behängt mit billigem Schmuck
und grellen Ohrringen
Else Lasker-Schüler, nachkolorierte Aufnahme von 1932. Foto: akg-images
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

In einer Doppelrezension legt uns Beate Tröger begeistert Else Lasker-Schülers Theaterstück "Ichundich" ans Herz und rät verärgert von der neuen Biografie von Kerstin Decker ab. Denn derart distanzlos nähere sich die Berliner Journalistin ihrer Protagonistin, mit solch unerschrockener Einfühlung und furchtlos spekulierend, wo die Quellenlage nichts hergibt, dass die Rezensentin diese Lebensbeschreibung getrost als "Romanbiografie" bezeichnet. Unangemessen findet sie die Angriffe gegen die Germanistik, denn Decker greift, wie Tröger betont, längst revidierte Fehlurteile der Literaturwissenschaft heraus, ignoriert die neuere Forschung dagegen geflissentlich. Besonders genervt zeigt sich die Rezensentin vom anempfundenen Lasker-Schüler-Ton, der das Buch durchzieht, hier aber nicht dichterische Originalität, sondern "verschwurbelte" und nicht selten unfreiwillig komische Passagen generiert, wie sie ätzend konstatiert. Vielleicht hätte ein gründliches Lektorat manchen Fehlgriff ausbügeln können, an den grundsätzlichen Mängeln dieser in Trögers Augen gänzlich überflüssigen Biografie hätte auch das nichts ändern können, da ist sich die Rezensentin sicher.

© Perlentaucher Medien GmbH