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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 471
  • Abmessung: 41mm x 149mm x 222mm
  • Gewicht: 724g
  • ISBN-13: 9783549071410
  • ISBN-10: 3549071418
  • Artikelnr.: 09421955
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2001

Keine totale Tötungsabsicht
Die Verfolgung der Zigeuner im "Dritten Reich"

Guenter Lewy: "Rückkehr nicht erwünscht". Das Schicksal der Zigeuner im Dritten Reich. Propyläen-Verlag, Berlin 2001. 471 Seiten, 59,90 Mark.

Bis 1937 ging das nationalsozialistische Regime über die herkömmlichen Mittel zur Überwachung und Diskriminierung der Zigeuner nicht hinaus. Zuständig war das Reichskriminalpolizeiamt unter Arthur Nebe. Der spätere Führer der Einsatzgruppe B und Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörte - wie Guenter Lewy jetzt hervorhebt - entgegen den apologetischen Erinnerungen Fabian von Schlabrendorffs und Rudolph-Christoph von Gersdorffs zu den rassistischen Scharfmachern des Regimes.

Den Zigeunern wurden asoziales Verhalten und kriminelle Neigungen unterstellt. Ihre Freizügigkeit wurde durch Verbote des Wandergewerbes und die Einweisung in die in den Großstädten bestehenden Zigeunerlager eingeschränkt. Die Jenischen, die "nach Zigeunerart Herumziehenden", waren in die Verfolgung einbezogen, obwohl sie als deutschstämmig galten. Viele wurden mittels der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" zu Unrecht kriminalisiert, vor allem im Zuge der im Januar 1938 verfügten Aktion "Arbeitsscheu". Damals erfolgte die Einlieferung von angeblich "Asozialen", unter ihnen ein hoher Anteil von Zigeunern, in die KZs.

Der von "Reichsführer-SS" Himmler unterzeichnete Runderlaß vom 8. Dezember 1938 zur "Bekämpfung der Zigeunerplage" und die Errichtung der "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" legten die Grundlage für eine umfassende Lösung des "Zigeunerproblems", wie Heydrich formulierte, "im Reichsmaßstabe". Die angekündigte Verabschiedung eines Zigeunergesetzes unterblieb jedoch, da das Regime, wie auch im Falle der Euthanasie, vor gesetzlichen Selbstbindungen zurückscheute.

Lewy macht in seiner Darstellung deutlich, daß die bestehenden öffentlichen Ressentiments gegen die Zigeuner - und nicht primär die rassenpolitische Ausgrenzung, die im Erbgesundheitsgesetz und in den Nürnberger Gesetzen einen Niederschlag fand - das Vorprellen Reinhard Heydrichs erklären. 1936 hatte das Reichsministerium des Innern eine "Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle" unter der Leitung des Nervenarztes Dr. Robert Ritter im Reichsgesundheitsamt eingerichtet. Sie sollte Informationen über die "Nichtseßhaften" zusammentragen.

Durch zahlreiche Veröffentlichungen trug die Forschungsstelle dazu bei, die selbst in akademischen Kreisen bestehenden extremen Vorurteile zu verstärken. Der Runderlaß zur "Bekämpfung der Zigeunerplage" von 1938 folgte Ritters Unterscheidung zwischen "reinrassigen" Zigeunern, Zigeunermischlingen und nach Zigeunerart Umherziehenden. Damit wurde die Ende 1942 mit Himmlers "Auschwitzerlaß" eingeleitete Zigeunerpolitik vorweggenommen.

Der Runderlaß leitete zu der 1939 von Arthur Nebe zusammen mit Adolf Eichmann betriebenen Deportation der Zigeunermischlinge über, die jedoch erst im Frühjahr 1940 mit der Abschiebung von 2500 Zigeunern nach Lodz begonnen wurde. Heydrichs Absicht, etwa 30 000 deutsche und österreichische Zigeuner in das Generalgouvernement abzuschieben, mußte jedoch im Herbst 1941 bis nach Kriegsende vertagt und hinter die "Lösung der Judenfrage" zurückgestellt werden. Im Unterschied dazu betraf die von Himmler am 16. Dezember 1942 verfügte und im März 1943 durchgeführte Deportation nach Auschwitz in erster Linie Zigeunermischlinge, für deren Selektion die Gutachten der Forschungsstelle den Ausschlag gaben.

Himmlers Befehl, die "reinrassigen" Sinti und Lalleri von der Deportation auszunehmen, stieß zwar auf Widerspruch bei Martin Bormann und der NS-Elite, blieb aber bestimmendes Prinzip. Lewy folgert daraus, daß diese Maßnahmen nicht auf einen förmlichen "Genozid", damit auf eine vollständige Liquidierung der Volksgruppe abzielten. Die Unterbringung der Deportierten im Familienlager in Auschwitz und der Umstand, daß sie jedenfalls zunächst nicht zum Arbeitseinsatz herangezogen wurden, sprächen gegen eine generelle Vernichtungsabsicht.

Lewy schildert zugleich die extreme Notlage der teils im Reichsgebiet verbliebenen, teils ins Generalgouvernement abgeschobenen Zigeuner, die dort unter unerträglichen hygienischen Bedingungen vegetierten. Er dokumentiert das Elend der später großenteils in den Vernichtungslagern umgekommenen österreichischen Zigeuner. Mit Bitterkeit beschreibt er die fortwirkenden Ressentiments der lokalen Behörden und der Bevölkerung, die zur Unterbindung des Schulbesuchs von Zigeunerkindern, zu arbeitsrechtlicher Diskriminierung und willkürlichen Eheschließungsverboten führten. Desgleichen betont er die Passivität der Bevölkerung, aber auch des hohen Klerus gegenüber dem rücksichtslosen Vorgehen der Kriminalpolizei, die selbst Kleinkinder und Schwangere von der Deportation nicht aussparte. Eingehend schildert Lewy die desolaten Verhältnisse im Zigeunerlager in Auschwitz und zeigt, daß Zigeuner zu den bevorzugten Objekten medizinischer Versuche gehörten, so in Auschwitz, Dachau, Buchenwald, Ravensbrück, Natzweiler-Struthof, daß viele von ihnen in die Todesfabrik von Mittelbau-Dora verlegt oder für das Sonderkommando Dirlewanger rekrutiert wurden.

Gleichwohl sieht Lewy, ohne die Leiden und Opferzahlen der Zigeuner zu verkleinern, die Kriterien für einen gegen die Zigeuner gerichteten Genozid nicht gegeben. Im Unterschied zu den Juden bestand keine totale Tötungsabsicht. Die Auflösung des Zigeunerlagers in Auschwitz war in der Tat ursprünglich nicht intendiert, und es wurde ein Teil der Insassen vorher in das Hauptlager oder in andere Konzentrationslager verlegt. Auch die Liquidationen in Chelmo betrachtet Lewy nicht als Bestandteil eines allgemeinen Vernichtungsplans. Michael Zimmermanns Kompromißformel eines "planmäßig praktizierten, jedoch nicht vorhergeplanten Massenmordes" hält er für eine Verwässerung. Er widerspricht zugleich der vom Zentralrat der Sinti und Roma vertretenen Gleichsetzung von Juden und Zigeunern als Opfer des "Holocaust" und wendet sich gegen dessen Tendenz, mit überzogenen Opferzahlen zu operieren und angesehene Zigeunerforscher wie Johann S. Hohmann und Michael Zimmermann zu disqualifizieren.

Andererseits beanstandet Lewy schwerwiegende Versäumnisse der Bundesrepublik, den spätestens seit 1938 eindeutig verfolgten Zigeunern angemessene Entschädigungen zu gewähren. Erst 1980 habe die Bundesregierung pauschale Abfindungen an Zwangssterilisierte geleistet und Entschädigungsansprüche der Zigeuner grundsätzlich anerkannt, obwohl es in deren praktischer Behandlung auch weiterhin Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Ein nicht weniger trübes Kapitel stellen aus Lewys Sicht die voreilig eingestellten Ermittlungen gegen Robert Ritter und seine Mitarbeiter dar, desgleichen der Skandal, daß noch in den fünfziger Jahren Mittel der DFG für eine indirekte Fortsetzung der nationalsozialistischen Zigeunerforschung bereitgestellt wurden.

Lewys lebendige und anschauliche Darstellung ordnet die Zigeunerverfolgung in die nationalsozialistische Gesamtpolitik ein und beleuchtet eindrucksvoll die widersprüchliche Willensbildung und die divergierenden ideologischen Positionen der NS-Führungselite.

HANS MOMMSEN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2001

Verfolgt und vergessen
Allein nach Auschwitz deportierten die Nazis 13000 Zigeuner
GUENTER LEWY: „Rückkehr nicht erwünscht”. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Propyläen-Verlag, München 2001. 471 Seiten, 59,90 Mark.
Das Interesse an der Geschichte des Dritten Reiches ist bei Teilen der jungen Generation stark gestiegen. Weil sie eine größere Distanz zu den damaligen Ereignissen haben, können sie unbefangener als die Älteren an die Auseinandersetzung mit dem Holocaust herangehen, können fragen, was man damals über die Vernichtungspolitik der Nazi wusste. In diese Auseinandersetzung sollte man dringend auch Guenter Lewys umfassende Untersuchung über die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich einbeziehen, weil der Autor ausführlich ein Thema erörtert, dessen Behandlung im Vergleich zur monströsen Nazi-Politik der Juden-Ausrottung im Hintergrund geblieben ist.
Der emeritierte Politologe, der aus Breslau stammt und über Palästina in die USA emigrierte, hat sein Werk auf umfassende Quellenstudien aufgebaut – eine Fleißaufgabe, auch deshalb, weil das Material über die Behandlung von Zigeunern im Dritten Reich rar und verstreut ist. Bei der Auseinandersetzung mit der Opfergeschichte der Zigeuner im Dritten Reich ist es unvermeidlich zu vergleichen, oder, zynisch formuliert, aufzurechnen, was Vernichtung und Massentötung auf der einen, was Genozid und Holocaust auf der anderen Seite bedeutet – und welche Begriffsunterschiede beziehungsweise Ähnlichkeiten es zwischen dem Leidensweg der Zigeuner und der Ausrottung der Juden gibt.
Alle waren Opfer
Die Debatte darüber, wer mehr Verfolgung und Vernichtung erdulden musste, steht im engen Zusammenhang mit dem Beharren auf der Einzigartigkeit von Verbrechen. Lewy besteht auf einer Differenzierung zwischen den Opfergruppen, betont aber ausdrücklich, dass dies nichts, aber auch gar nichts mit der Verharmlosung des Schicksals von nichtjüdischen Opfern zu tun habe.
Er begründet außerdem, weshalb er in seiner Untersuchung durchgängig die Bezeichnung „Zigeuner” anstelle von „Sinti” und „Roma” verwendet – eine Benennung, für die sich der „Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland” immer wieder ausgesprochen hat. Der Zentralrat möchte die von vielen als negativ empfundene Bezeichnung „Zigeuner” aus dem Sprachgebrauch verbannen. Andere Zigeunergruppen – und ihnen schließt sich Lewy an – fordern die Weiterführung des herkömmlichen Volksnamens als ein Zeichen dafür, dass die Kontinuität der Stammesgeschichte gewahrt werden soll. Für eine historisch orientierte Untersuchung erscheint die von Lewy gewählte Bezeichnung also plausibel.
Wie sehr der Umgang mit der Volksgruppe der Zigeuner stets mit Vorurteilen besetzt war, zeigt der Autor in seiner Einführung, in der er die Geschichte der Unterdrückung und Misshandlung der fahrenden Leute beschreibt. Nach dem Ende des Krieges und den Massentötungen durch die Nazis hat sich diese Diskriminierung fortgesetzt.
Auch nach dem Krieg gab es Schikanen, die finanzielle Wiedergutmachung wurde erst nach langer Verzögerung gewährt. Diese Auseinandersetzungen zwischen Tätern und Opfern beschreibt Lewy im vierten Teil seines Werkes, nachdem er in den vorangegangenen Abschnitten die drei Phasen der Verfolgung in den Vorkriegsjahren, dann die Maßnahmen von Vertreibung, Internierung und Ermordung zwischen 1939 und 1942 sowie schließlich die endgültige Zerstörung der Gemeinde durch die Deportationen in die Konzentrationslager der Nazis behandelt hatte.
Von den mehr als 13000 Zigeunern, die aus dem Deutschen Reich nach Auschwitz geschafft worden waren, dürften 90 Prozent ums Leben gekommen sein. Die genaue Zahl derer, welche die Nazis vernichtet haben, wird sich, so Lewy, nicht mehr bestimmen lassen, denn die Opfer waren nicht systematisch erfasst worden. Diejenigen, die mit dem Leben davonkamen, waren traumatisiert und demoralisiert: In den KZs war gegen grundlegende Stammessitten verstoßen worden, etwa die rituelle Reinheit oder das Verbot, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Familienverband war zerstört, Teil ihrer Identifikation und ihres Selbstwertgefühls war den Zigeunern durch die Massensterilisationen genommen; sie waren nicht mehr zeugungs- und gebährfähig.
Die Ursachenforschung, die Lewy über die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich betreibt und die vergleichenden Untersuchungen, die er einbezieht, demonstrieren auch, dass es eine Wiedergutmachung, sei sie moralisch, juristisch oder finanziell, immer nur in begrenztem Umfang geben kann – aktueller Beleg dafür ist die anhaltende Kontroverse um den Standort und die Errichtung eines Mahnmals in Berlin.
BIRGIT WEIDINGER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Historiker Hans Mommsen bespricht mit großem Respekt Guenther Lewys Buch über die Zigeunerverfolgung im Dritten Reich, das auch zur Debatte um das sogenannte Holocaust-Denkmal Stellung bezieht, insofern der Autor der diesbezüglich vom Zentralrat der Sinti und Roma vertretenen Position widerspräche. Denn Lewy, so Mommsen, komme zu dem Schluss, nicht ohne all die schmerzlichen und leidbringenden Maßnahmen des NS-Regimes zu benennen, dass es nicht die Absicht der NS-Ideologen gewesen sei, die Zigeuner durch einen Genozid völlig auszulöschen. Deportiert wurden überwiegend Zigeunermischlinge, während "reinrassige" Zigeuner auf Himmlers Befehl von der Deportation ausgenommen blieben. Einen überzeugenden Grund für diese Entscheidung nennt Mommsen nicht, außer dass die Zigeunerfrage eben hinter die "Lösung der Judenfrage" zurückzutreten hatte. Mommsen betont den lebendigen und anschaulichen Charakter von Lewys Geschichte der Zigeunerverfolgung, die dieser kritisch in den nationalsozialistischen Gesamtkontext einordne. Auch bundesrepublikanische Versäumnisse werden laut Mommsen beim Namen genannt.

© Perlentaucher Medien GmbH