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Produktdetails
  • Verlag: Artemis & Winkler
  • Seitenzahl: 310
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 490g
  • ISBN-13: 9783538070981
  • ISBN-10: 3538070989
  • Artikelnr.: 24620054
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2000

Ein Kollege namens Zweifel
Im Dunkeln: Manfred Dierks schreibt einen Roman über C. G. Jung

Manfred Dierks, Literaturpsychologe in Oldenburg, hat sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vor allem mit dem neunzehnten Jahrhundert und mit Thomas Mann befasst. Das ist nahe liegend, denn wo sonst stehen die Symptome der Literatur und die Befunde der Psychologie in so berechenbarem Austausch wie eben hier? Jetzt hat Dirks unter dem Titel "Das dunkle Gesicht" eine "literarische Phantasie" über C. G. Jung geschrieben. Ein bisschen gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, Dierks habe sich dieser Phantasie auch deshalb hingegeben, um einmal so richtig in den Dekors und Valeurs seines literarischen Meisters Thomas Mann schwelgen zu können. Streckenweise hantiert er mit diesen Requisiten ganz souverän und ungezwungen. Aber es kann nicht ohne unfreiwillige Komik abgehen, wenn man aus dem Tageslicht des "Sex" hinab in die Urgründe des "Sexus" zu steigen versucht, wo manch "dunkles Gesicht" wartet.

"Bei seiner Liebkosung seufzte sie tief auf und wies ihm die Stellen an ihrem Leib, wohin sie weiteren wünschte. Dem kam er nach." Aus den Tiefen der Literaturpsychologie fördert Manfred Dierks erotischen Schwulst zutage. Sein Schreibstil neigt zur Brillanz, aber manchmal denkt man dabei eher an Brillantine als an Gottfried Kellers "Glanz". Erzählt wird im Wesentlichen von dem Jahrzehnt zwischen 1900 und 1909, das Jung (im Roman heißt er freilich "Alt") als Assistent Eugen Bleulers am Zürcher Bürghölzli verbrachte. Dierks' Roman bietet eine plausible und anschauliche Erzählung der Ur- und Frühgeschichte des Unbewussten in Zürich; zugleich aber nimmt er sich die dichterische Freiheit, seine Hauptfigur C. G. Jung alias Alt mit einem ganz und gar fiktiven Seelenleben auszustatten. In dessen Zentrum steht die Metapher "Nachtgebet". Das Nachtgebet ist der Ausdruck für Alt/Jungs körpereigene okkulte Erfahrung, für eine Zone psychologischer Evidenz und Empirie am eigenen Leibe, die, wie Dierks es darstellt, als Quellgrund der gesamten Jung'schen Psychoanalyse zu gelten hätte.

Nacht und Tag, die "zweite Person" und die bürgerlich aufstrebende Existenz, das Schattenreich und die Lichterwelt, sie stehen bei Dierks in einer fast schon zu schulmäßigen Opposition. Entsprechend schematisch sind auch die Frauenrollen verteilt. Zoia, die Bündner Saaltochter, die beim Geschlechtsakt rätische Urlaute ausstößt, weist als Seelenführerin dem Medizinstudenten Alt den Weg zu seinen dunklen Gesichtern; es kann in solchen Momenten geschehen, das aus Alts Munde ein fremdes Männchen mit knarziger Stimme Undeutliches spricht. Auf der Tagseite hingegen werden Karrieren geplant, Familien gegründet und der Einstieg ins Zürcher Patriziat vorbereitet. Meret, die spätere Ehefrau, verkörpert das dazugehörige Ideal einer ganz und gar undämonischen und diesseitigen Weiblichkeit, die in Verbindung mit einem Elternhaus an der Goldküste zumindest unter Karrieregesichtspunkten dem Nachtgeschöpf vorzuziehen ist.

Im Zentrum des Romans steht indes die Klinik. Im Burghölzli herrscht Bleulers strenges lebensreformerisches Regime. Hier gelingen Dierks eindringliche Schilderungen, von Ärzten ebenso wie von Patienten. Während Bleuler für sich die Geister des Wahns im ärztlichen Blick gebannt zu haben scheint, navigieren die Assistenten, Jung/Alt und ein unglücklicher Kollege namens Zweifel, unablässig in den eigenen Nachtgebieten, ständig auf der Jagd nach Bildern, die erst der Traum oder der Rausch entbinden, und ständig auf der Suche nach Erklärungen, die die alten materialistischen und psychologischen Ideen vom Seelenleben überwinden. Vor diesem Jung ist der Weg nicht weit zu Jünger, und von Jünger führt ein Weg zu LSD, zum Unbewussten aus dem Hause Hoffmann LaRoche. Man versteht nach Dierks' Roman besser, warum C. G. Jung, zumindest eine Zeitlang, einer esoterischen Popkultur als Idol diente. Und man möchte über den Jung hinter Alt gern mehr wissen.

CHRISTOPH BARTMANN.

Manfred Dierks: "Das dunkle Gesicht. Eine literarische Phantasie über C. G. Jung". Roman. Artemis & Winkler Verlag, Zürich und Düsseldorf 1999. 310 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Ton des Rezensenten ist herablassend, wenn nicht gar abfällig, auch wenn Ludger Lütkehaus nach zwei Drittel seiner Besprechung behauptet, er habe den Roman bis auf die eingebaute Kriminalgeschichte gern gelesen. So geht es einem ja manchmal, man findet keine Argumente für etwas, das man widersträubend tut, ohne es lassen zu können. Einige Argumente für und wider diese biografisch-literarische Erkundung des Lebens von C.G. Jung liefert Lütkehaus dennoch: als Minuspunkt vermerkt er, daß Dierks imaginierte Biografie vor den eigentlich brisanten Punkten im Leben Jungs halt macht, also vor seiner Bekanntschaft mit Freud und Spielrein. Dagegen gefallen dem Rezensenten die Frauenfiguren, die er weniger blass als die Hauptfigur vorkommen. Dierks` lakonische Sprache neige gelegentlich zum Kitsch, wovon er die eindrucksvollen Landschaftsportraits ausnimmt. Insgesamt findet Lütkehaus die biografische Spurensuche des Thomas Mann-Experten Dierks legitim. Doch dann zitiert er den schönen Satz von Jung: "Die Psychiatrie ... verwandelte Tiefe in Oberfläche", um dieses legitime Unterfangen gleich wieder in Abrede zu stellen.

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