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Trotz des gestiegenen Interesses an Werk und Person Ernst Cassirers wurde von seiner Wissenschaftsphilosophie bis heute wenig Notiz genommen. Das ist erstaunlich, weil in der Auseinandersetzung mit Problemen der neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften eine der wichtigsten Quellen für die gesamte spätere Philosophie Cassirers zu suchen ist. Die vorliegende Studie schließt diese Lücke und analysiert Cassirers Auseinandersetzung sowohl mit der modernen Physik - insbesondere der Relativitätstheorie - als auch der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie. Hauptziel der Untersuchung ist die…mehr

Produktbeschreibung
Trotz des gestiegenen Interesses an Werk und Person Ernst Cassirers wurde von seiner Wissenschaftsphilosophie bis heute wenig Notiz genommen. Das ist erstaunlich, weil in der Auseinandersetzung mit Problemen der neuzeitlichen und modernen Naturwissenschaften eine der wichtigsten Quellen für die gesamte spätere Philosophie Cassirers zu suchen ist. Die vorliegende Studie schließt diese Lücke und analysiert Cassirers Auseinandersetzung sowohl mit der modernen Physik - insbesondere der Relativitätstheorie - als auch der zeitgenössischen Wissenschaftsphilosophie. Hauptziel der Untersuchung ist die Ermittlung der Bedeutung und Reichweite des Cassirer'schen Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes- oder 'Funktionsbegriffs' vor dem Gegenstands- oder 'Substanzbegriff' für die Entwicklung der modernen Physik. Der Autor befasst sich mit Cassirers Auffassung vom wissenschaftlichen Experiment, von der Wissenschaftsentwicklung und von der Anwendung mathematischer Begriffe auf die Natur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2001

Mit Einstein
Ernst Cassirers Beiträge zur
Wissenschaftsphilosophie
Wer heute meint, Perspektivismus, Pluralismus und die Idee der Konstruktivität aller Formen des Erkennens seien Ausgeburten der Postmoderne, reibt sich bei der Cassirer-Lektüre die Augen. Die Gelegenheit dazu ist günstig: Von der neuen, auf 25 Bände angelegten „Hamburger Ausgabe” sind seit 1998 acht vorzüglich edierte Bände der „Gesammelten Werke” erschienen; auch aus den „Nachgelassenen Manuskripten und Texten”, etwa 21 Bände sind geplant, liegen bereits drei Bände vor; nicht zu vergessen die Cassirer-Forschungen. Bisher fünf umfangreiche Beiträge öffnen die Türen zu dieser Philosophie – von der Kulturkritik über die Theorie der Naturwissenschaften bis zur Politik (alles im Felix Meiner Verlag, Hamburg).
Wer Ernst Cassirer liest, liest einen Skeptiker: Es gibt keine Gewissheit dafür, dass die Symbole des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergeben. Er liest einen Optimisten: Im Übergang von der „Kritik der Erkenntnis” zur „Kritik der Kultur”, lernen wir die verschiedenen Grundformen des „Verstehens” der Welt kennen.
Ernst Cassirers Theorie der geistigen Ausdrucksformen – der , symbolischen Formen’ Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft – mutet uns viel zu: „Das echte ,Unmittelbare‘ dürfen wir nicht in den Dingen draußen, sondern wir müssen es in uns selbst suchen.” Cassirer ist der Philosoph der Krise der Repräsentation, also der naiven Annahme der Metaphysiker, da gebe es eine fertige Welt, die wir nur abzubilden brauchten.
Welt der reinen Zeichen
Dieser kritische Geist, der vom Ruf „Zurück zu Kant” begleitet ist, entsteht in den Naturwissenschaften selbst. Auch für Cassirer werden Physiologen, Physiker und Psychologen zu Kronzeugen; wichtige Gewährsleute für das Ende des Positivismus in den Naturwissenschaften sind Hermann von Helmholtz und Heinrich Hertz. Mit Helmholtz definiert Cassirer die Welt der Erkenntnis als eine „Welt reiner Zeichen”. Die Konsequenzen sind einschneidend: Was ist die Natur, die die Naturwissenschaften problemlos zu haben scheinen? „Natur”, so die Antwort, „bezeichnet nicht eine bestimmte Art der Gegebenheit der Dinge als solcher; sie bezeichnet vielmehr eine Grundrichtung der Betrachtung.”
Was objektive Gegenstände, Tatsachen und Gesetze sein sollten, wird nun zu Funktionen der Begriffsbildung. „Das Gesetz kann nur darum aus der Messung hervorgehen, weil wir es in hypothetischer Form in die Messung selbst hineingelegt haben.” Cassirers Kurzfassung, wie so oft mit Goethe: „Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen. Es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß aller Dinge ist.” 1921 legt Cassirer, von dieser Revolution des Weltbildes fasziniert und bestätigt, als einer der ersten Philosophen eine große Studie zu Einsteins Relativitätstheorie vor. Einstein liest sie mit Zustimmung.
Wie kaum ein Philosoph seiner Zeit weiß Cassirer, worüber er redet, wenn er Ergebnisse der Wissenschaften diskutiert und in seinen Weltentwurf aufnimmt. Dennoch ist er als Wissenschaftstheoretiker vom Rang Carnaps – die beiden sind sich weit näher, als sie wissen – noch zu entdecken. Karl-Norbert Ihmig hat jetzt in seiner Untersuchung „Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften” bei Ernst Cassirer eine Bresche geschlagen. Der Titel ist ein wenig zu anspruchsvoll; Biologie, Psychologie, Sprachwissenschaft und andere Kulturwissenschaften sind ausgeblendet. Aber der Inhalt des so gelehrten wie gut geschriebenen Buchs überzeugt.
Ihmig behandelt Cassirers Ideen zu den Voraussetzungen und zur Struktur wissenschaftlicher Experimente, Cassirers Konzeption der Wissenschaftsentwicklung und das Problem der Anwendung mathematischer Begriffe auf die Natur. Mithilfe von Ihmigs detaillierten Analysen kann man Cassirers Werke zur Wissenschaftsphilosophie besser verstehen, also „Substanzbegriff und Funktionsbegriff”, „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie”, den dritten Band der „Philosophie der symbolischen Formen”, „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik” sowie den vierten Band der „Geschichte des Erkenntnisproblems”.
Ihmigs Verdienst ist es, die Fragen sichtbar zu machen, die Cassirer umgetrieben haben. Was unterscheidet die wissenschaftliche Erfahrung von der Alltagserfahrung? In welchem Sinne spricht bereits Cassirer von der Theoriebeladenheit des Experiments? Inwiefern stellen ideale (mathematische) Grenzbegriffe eine Voraussetzung experimenteller Tätigkeit dar? Ein zweiter Problembereich betrifft Cassirers Auffassung der Wissenschaftsentwicklung, vor allem der Mechanik, und die Rezeption der Relativitätstheorie. Schließlich wendet sich Ihmig Cassirers Ansatz zu, das Problem der Anwendung mathematischer Begriffe auf die Natur als Problem der Spezifikation allgemeiner Massbegriffe oder Invarianten des Systems der Erfahrung zu deuten.
Ihmigs Buch ist nicht das Buch eines Gläubigen, sondern eines, das nachfragt, auch nach möglichen Widersprüchen im Werk des Meisters.
HANS
JÖRG SANDKÜHLER
KARL-NORBERT IHMIG: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001. 265 Seiten, 54 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gott sei Dank keine Hagiographie, denkt sich unser Rezensent und zeigt sich glücklich über die Chance, Ernst Cassirer außer durch die neue Hamburger Ausgabe seiner Werke nun auch über ein Buch kennenzulernen, das nachfragt, "auch nach möglichen Widersprüchen im Werk des Meisters", und Cassirer ausnahmsweise als Wissenschaftstheoretiker zeigt. Wenn dies auch nicht ganz so allumfassend geschieht, wie der Titel es verspricht, Hans Jörg Sandkühler ist mit der "so gelehrt wie gut geschriebenen" Darstellung zufrieden, weil sie ihm die Fragen sichtbar zu machen vermochte, die Cassirer hinsichtlich einer Wissenschaftsphilosophie umgetrieben haben.

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