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Der Autor erforscht das Verhältnis von Fleck und Bild im frühen 19. Jahrhundert. In der deutschen Romantik spielt die Fantasie als besondere Geistesfähigkeit eine große Rolle. Nach Immanuel Kant ist die Einbildungskraft insbesondere durch ihre Autonomie gegenüber den rationellen Funktionen und der Steuerung des Willens ausgezeichnet. Diese Autonomie nennt er Selbsttätigkeit. In den nachfolgenden Generationen wird das Konzept der Selbsttätigkeit aufgegriffen, um auf dieser Grundlage neue Techniken der Bildproduktion zu entwickeln. Sowohl Künstler als auch Naturwissenschaftler nutzen diese neuen…mehr

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Produktbeschreibung
Der Autor erforscht das Verhältnis von Fleck und Bild im frühen 19. Jahrhundert. In der deutschen Romantik spielt die Fantasie als besondere Geistesfähigkeit eine große Rolle. Nach Immanuel Kant ist die Einbildungskraft insbesondere durch ihre Autonomie gegenüber den rationellen Funktionen und der Steuerung des Willens ausgezeichnet. Diese Autonomie nennt er Selbsttätigkeit. In den nachfolgenden Generationen wird das Konzept der Selbsttätigkeit aufgegriffen, um auf dieser Grundlage neue Techniken der Bildproduktion zu entwickeln. Sowohl Künstler als auch Naturwissenschaftler nutzen diese neuen Verfahren, um ein gewandeltes Verständnis von Wahrheit und Objektivität zum Ausdruck zu bringen. Ein Merkmal der so entstehenden Bilder ist die Nähe zum Fleck - einer Ästhetik, die das selbsttätige Wachstum der visuellen Erscheinung im Gegensatz zur klassizistischen Regelästhetik mit Bedeutung versieht.Die Klecksografie als Bildtechnik dient als Anlass, um die Wechselwirkungen zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Umsetzung zu untersuchen. Dabei werden zahlreiche, zum Teil bislang unpublizierte romantische Flecken untersucht. Es zeigt sich im Ergebnis, dass der Fleck als Abbild der menschlichen Fantasie gedeutet wird. Ein Anspruch der Arbeit besteht darin, die kunstwissenschaftliche Methode der Produktionsästhetik, die die Erzeugung von Bedeutung durch die Wahl eines spezifischen Herstellungsprozesses untersucht, beispielhaft vorzuführen.
Autorenporträt
Friedrich Weltzien; z. Z. am SFB »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der FU Berlin; Schwerpunkte: Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Theorie von künstlerischen Arbeitsprozessen; zahlreiche Veröffentlichungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2012

Zuerst der Fleck, dann die Idee und zuletzt ein Bild
Geahnte Formen: Friedrich Weltzien stellt Justinus Kerners berühmte Klecksographien in ihren Kontext

Es geht um Freiheit. So beginnt Friedrich Weltziens Studie, die sich einem auf den ersten Blick unscheinbaren Gegenstand widmet, dem Fleck. Dieser entwickelt jedoch gegen den Anschein des Marginalen, Unbedeutenden und Störenden im neunzehnten Jahrhundert ein erstaunliches Potential. Er wird zum Inbild von Selbsttätigkeit und Autonomie, also von zwei Kategorien, die konstitutiv sind für das Selbstverständnis der Moderne. Der Fleck entsteht von allein und bezeugt eine Aktivität des Materiellen, die ohne Einwirkung der menschlichen Hand und des menschlichen Willens unbestimmte, aber dennoch sprechende Gestalten hervorzubringen vermag. Denn im Fleck werden verborgene Wirkmächte sichtbar, seien es Naturgesetze oder aber auch Geister, die ohne ihn verborgen blieben. Doch nur durch eine spezifisch menschliche Fähigkeit wird das Entziffern von Kräften und Zeichen im Fleck möglich: durch das freie Spiel der Einbildungskraft.

Dass Flecken die wundersamsten Phantasieanregenden Gestalten bergen, wissen schon Kinder, die sich die Langeweile im Krankenbett mit der Suche nach Figuren und Zeichen in unsauberen Stellen an der Zimmerdecke vertreiben. Im neunzehnten Jahrhundert wird das Herstellen und Deuten von Klecksen zu einem wissenschaftlich begründeten und genutzten Verfahren, das Aufschluss geben soll über die Tätigkeit des menschlichen Vorstellungsvermögens einerseits und die Gesetze des Bildens und Sichtbarwerdens in einem weiten Sinne andererseits. Weltzien interessiert sich aber gerade nicht für die rezeptionsästhetische Dimension im Umgang mit dem Fleck, also für die Frage nach der Wirkung von selbsttätig entstandenen Bildern auf die Einbildungskraft. Die Studie thematisiert vielmehr die Vorstellungen von Bildlichkeit und Sichtbarkeit, die diesen Praktiken zugrunde liegen, aber auch, ja vor allem die Herstellungsverfahren selbst und deren Theoretisierung.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Klecksographie des Arztes und Dichters Justinus Kerner, der sich 1819 in einem schwäbischen Städtchen niedergelassen hatte. Ausgezeichnet für seine Forschungen zu bakteriellen Lebensmittelvergiftungen und sein Engagement in der Choleraprophylaxe, stand einiges auf dem Spiel, als Kerner darüber nachdachte, ein kleines Buch mit Klecksographien zu veröffentlichen. Sein Interesse für das Sichtbarwerden immaterieller, dem Auge verborgener Phänomene hatte schon in seinem zweibändigen Hauptwerk "Die Seherin von Prevost. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in unsere" - einer Schrift, die von Mesmers Magnetismustheorien genährt war - Spott in der Fachwelt ausgelöst. Dies mag der Grund gewesen sein, dass das druckfertige Album mit den Klecksographien dann doch erst nach dem Tod Kerners durch seinen Sohn publiziert wurde.

Das Entziffern von Gestalten und Figuren, ja sogar von porträtartigen Köpfen in Tintenklecksen war ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Zeit. Kerner wollte es in ein seriöses wissenschaftliches Unternehmen überführen, um Selbsttätigkeit als das leitende Prinzip der Natur zu verstehen und im Medium von Tintenflecken sichtbar zu machen. So einfach war es mit der Veranschaulichung wohl nicht, denn Kerner manipulierte die Fleckenbildung ganz offenkundig und ungeniert. Die meisten Klecksographien stellte er mit Hilfe einer Falz her, so dass das Bild immer gedoppelt wurde und eine symmetrische, geschlossene Form erhielt. Das Einfügen von Beischriften, Zeichen und von anderen Bildern sollte der Verdeutlichung dessen dienen, was in den Tintenbildern zu lesen war. Offenkundig sah Kerner durch solche "Unterstützung" die Aussagekraft der Selbsttätigkeit nicht beeinträchtigt. Sein Anliegen war es, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Wirkkräfte der Natur und die Gegenwart einer Geisterwelt sichtbar werden zu lassen.

Dass Kerner nicht der Erfinder solcher Praktiken war, kehrt Weltzien durch seine umfassende Darstellung vergleichbarer Versuchsanordnungen hervor. Seien es Lichtenbergs Staubfäden, Chladnis Klangfiguren oder Ritters Hieroglyphen der Lebenskraft: an allen Orten und auf den unterschiedlichsten Wegen wurden selbsttätige Bildungen zum Gegenstand von Experimenten und Deutungen, die nicht immer auf dem festen Boden naturwissenschaftlicher Methodik verankert waren. Wie sehr der Umgang mit der Klecksographie in romantischen Erkenntnisformen, in der Figur der "Ahnung" wurzelt, wird ebenso deutlich wie der Bezug auf tradierte künstlerische Praktiken.

Ästhetische Konzeptionen des Flecks, die sich bereits bei Leonardo und Vasari finden, verdichten sich um 1800, so in der Blot-Technik von Alexander Cozens. Gemeinsam ist diesen historisch weit auseinanderliegenden Praktiken, dass sie die klassische Kompositionslehre umkehren. Diente die skizzenhafte, mit locker hingesetzten Flecken arbeitende Technik als Festhalten der Idee, so wird in der Macchia-Konzeption der frühen Neuzeit wie bei den Blots der auf das Blatt gesetzte Fleck zum Generator einer Idee. Diese gelangt durch die wie von selbst entstandenen Flecken vom Blatt in den Kopf des Künstlers und nicht umgekehrt - eine Vorstellung, die auch die Klecksographien Kerners leitet. Doch wäre es falsch, in den künstlerischen Verfahren die alleinige Wurzel der Klecksographie zu sehen. Es ist das Zusammenspiel von ästhetischen und naturwissenschaftlichen Praktiken und Denkweisen, worin das Besondere dieser Anordnung liegt. Erst der Glauben an die Objektivierbarkeit der im Fleck sichtbaren Kräfte gibt die Lizenz zum Klecksen.

Dass es sich bei diesem Glauben nicht um ein heute zu belächelndes, auf die Gemengelage von Spätromantik und Positivismus zu begrenzendes Phänomen handelt, wird im Seitenblick auf andere Bildpraktiken klar. Sei es das Schweißtuch der Veronika, das uns das authentische Bild Jesu überliefert, oder die Fotografie, seien es Fingerabdrücke oder die Fixierung amorpher Strukturen wie Sternennebel oder Wolkenbänke: all diese Umgangsweisen mit dem Unsichtbaren, das sich auf wundersame Weise von allein und darum eben wahr vor Augen stellt, zeigen den enormen Radius der Vorstellung von Selbsttätigkeit. Die Reichweite dieser Vorstellung hat Weltzien zu einer Weitschweifigkeit verführt, die zwar, was die Stringenz der Argumentation betrifft, nicht immer produktiv ist; aber langweilig ist das Buch an keiner Stelle.

BEATE SÖNTGEN

Friedrich Weltzien: "Fleck - Das Bild der Selbsttätigkeit". Justinus Kerner und die Klecksographie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011. 481 S., Abb., geb., 94,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Klecksografie? Kein Witz, vielmehr ein Beispiel für die Umgangsweisen mit dem Unsichtbaren, weiß Beate Söntgen spätestens seit der Lektüre von Friedrich Weltziens Studie zum Fleck als Inbild von Autonomie. Dass im Fleck verborgene Wirkmächte sichtbar werden, ist vielleicht nicht jedem Putzteufel beizubringen, Söntgen aber interessieren die vom Autor herausgearbeiteten für das Erkennen der Fleckbedeutung notwendigen Wahrnehmungsgrundlagen durchaus. Im Zentrum, erläutert sie, steht zwar die Klecksografie des Arztes und Dichters Justinus Kerner, doch der Vorstellungsraum, den der Autor in seinem Buch eröffnet, ist um einiges größer. Mitunter zu weit sogar, findet die Rezensentin, doch langweilig wurde ihr nicht.

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