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Die Biographie des Kommune I-Gründers Dieter Kunzelmann verbindet die Erfahrungen einer Jugend in der fränkischen Provinz mit der Geschichte der subversiven Avantgarde um 1960, der so genannten "Kulturrevolution" der sechziger Jahre und der zunehmenden Radikalisierung und Militanz des beginnenden deutschen Terrorismus seit 1969. In jeder Phase dieser Entwicklung war Kunzelmann an zentraler Stelle an den Aktivitäten der meist sehr kleinen aber einflussreichen Gruppierungen beteiligt, die in den oppositionellen Aufbrüchen der alten Bundesrepublik kreative, anarchische und schließlich…mehr

Produktbeschreibung
Die Biographie des Kommune I-Gründers Dieter Kunzelmann verbindet die Erfahrungen einer Jugend in der fränkischen Provinz mit der Geschichte der subversiven Avantgarde um 1960, der so genannten "Kulturrevolution" der sechziger Jahre und der zunehmenden Radikalisierung und Militanz des beginnenden deutschen Terrorismus seit 1969. In jeder Phase dieser Entwicklung war Kunzelmann an zentraler Stelle an den Aktivitäten der meist sehr kleinen aber einflussreichen Gruppierungen beteiligt, die in den oppositionellen Aufbrüchen der alten Bundesrepublik kreative, anarchische und schließlich gewalttätige Akzente setzten. Sein weiterer Weg durch die orthodoxe K-Gruppen-Szene der siebziger Jahre bis in die Berliner AL und das West-Berliner Abgeordnetenhaus komplettieren eine Biographie, die niemals für die Protestbewegung repräsentativ war oder generationentypisch verlaufen ist, dafür aber zahlreiche symptomatische Einblicke in die Geschichte der Subversion nach 1945 ermöglicht.
Autorenporträt
Dr. Aribert Reimann ist A.F. Thompson-Fellow in History und DAAD-Fachlektor für Geschichte am Wadham College in Oxford.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2009

Der Großkasperl
Eine wissenschaftliche Biographie versucht sich dem ewigen Bohemien Dieter Kunzelmann zu nähern
Am 3. April 1998 erschien in der Berliner Zeitung eine grabsteinknappe Todesanzeige: „nicht nur über sein Leben,/ auch über seinen Tod / hat er frei bestimmt / Dieter Kunzelmann / 1939 –1998”. In der Wochenzeitung Jungle World folgte sogleich ein Nachruf von Ulrich Enzensberger, der mit einem Satz von Hans Arp schloss: „Seine Büste wird die Kamine aller wahrhaft edlen Menschen zieren.”
Doch war Dieter Kunzelmann längst nicht büstenreif, sondern nur wieder einmal verschwunden, ehe ihn die Gefährten, die Polizei, die Zeitungen hätten fassen konnten. Statt seiner erschienen unter dem Titel „Leisten Sie keinen Widerstand!” Lebenserinnerungen, denen der Vielbelesene einen sehr literarischen Satz als vorläufige Deutung vorangestellt hatte. „Der Verstorbene hatte, wie ich gestehen muss, das Unglück, während seines Lebens alles anders anzufangen als andere Leute, weshalb ihm auch wenig gelang.”
Das Motto aus „Briefen eines Verstorbenen” des Lebemanns Hermann von Pückler-Muskau zeigte eine keineswegs überraschende Koketterie, denn dem Verschwinde-Künstler Kunzelmann war einiges gelungen in seinem abenteuerlichen Leben. Der Sohn eines freigeistigen Bamberger Sparkassendirektors hatte bereits mit 16 Jahren den Höhepunkt seiner bürgerlichen Laufbahn erreicht, als er Jugendsieger bei den bayrischen Tischtennismeisterschaften wurde. 1957, zwei Jahre darauf, brach er die Schule ab, versuchte es mit einer Banklehre und verschwand dann auch schon per Anhalter nach Paris. Ob der junge Mann dort bloß hungerte und sonst vorschriftsmäßig unter den Seine-Brücken schlief oder tatsächlich Kontakt zur Szene an der Rive gauche fand, zu den Algerien-Sympathisanten, den Jazz- und Heroin-Junkies, den versprengten Anarchisten oder gar die großen Debatten zwischen Sartre und Camus wahrnahm, kann auch die umfangreiche Biographie Aribert Reimanns nicht ergründen.
Der in Oxford lehrende Historiker hat in Kunzelmann nicht ohne Grund den „letzten deutschen Bohemien des 20. Jahrhunderts” entdeckt. So arg viele gab es gar nicht, umso nutzbringender, dass sich ein Akademiker dieses ewig flüchtigen Gesellen annimmt. Es seien Männer, hieß es früher einmal, die Geschichte machten, und wenn es neben Rudi Dutschke einen Einzelnen gab, der an den Barrikaden der deutschen Kulturrevolution stand, dann ist es Kunzelmann.
Es gehört mittlerweile zum guten Ton, den großen Zampano schlechtzureden. Für den ehemaligen SDS-Funktionär Tilman Fichter ist er ein „Drecksack”, in Gretchen Dutschkes Erinnerungen („Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben”) bebt die Angst nach, Kunzelmann könnte ihr den Rudi doch noch abspenstig machen, und Wolfgang Kraushaar ist es mit seinem Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus” gelungen, Kunzelmann als bête noire, als den allerschlimmsten Finger, zu denunzieren, der die bis dahin so ehrbare Linke zum Antisemitismus der Elterngeneration zurückgeführt haben soll.
Er habe der Studentenbewegung unendlich geschadet, klagt Fichter noch heute. Den Schauspieler und Schriftsteller Hanns Zischler erinnert er an den Sektenführer Charles Manson. Dieter Kunzelmann ist eine unheilbringende Gestalt, bewundert und gefürchtet wegen seiner Rücksichtslosigkeit, mit der er andere in die Illegalität trieb, die von früh auf sein Spielfeld war. Aus Paris kehrte er 1960 mit einem gewaltigen intellektuellen Vorsprung nach Deutschland und zwar nach München zurück, in die ehemalige Hauptstadt der Kosmiker, der Elf Scharfrichter und der relativ freien Liebe. Kunzelmann wurde Sekretär und Chefideologe der Malergruppe „Spur”, die sich der Situationistischen Internationale anschloss. Hier handelte es sich um ein Missverständnis, das der lebenslange Proselytenmacher Kunzelmann allerdings begeistert förderte. Denn die von dem stalinistischen Streuner Guy Debord gegründeten Situationisten lehnten die Kunst als bürgerlichen Schwindel ab und ostrakisierten alle Mitglieder, die auch nur ein halbes Auge auf den Kunstmarkt hatten, während die Münchner Maler –, ja nun, sie wollten malen.
Kunzelmann konnte nicht malen, aber er konnte reden und schreiben. Seinen „Spur”-Freunden verschaffte er rasch die für den weiteren Erfolg unerlässlichen Skandale, indem er sich mit dem erzbischöflichen Ordinariat oder der brauchtumsverpflichteten Kultusbürokratie anlegte. Eine Anzeige wegen „Gotteslästerung, Religionsbeschimpfung und Verbreitung unzüchtiger Schriften” war ein erster Triumph; der Anlass ein harmloses Lied, in dem das Wort „schwanz” (selbstverständlich klein geschrieben) vorkam.
In ihrem „Januar-Manifest” proklamierte die Gruppe „Spur” das Kunzelmann’sche Grundgesetz: „Wer in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft, Parteien, soz. Organisationen keine Gaudi sieht, hat mit uns nichts zu tun.” Ganz gleich, um welche Behörde oder Institution es sich handelt, jeder Art von Autorität muss schon der leiseste Anflug von Ironie ein Gräuel sein. So kann Reimann schön zeigen, dass der Gaudibursch Kunzelmann innerhalb weniger Jahre fünf Mal aus Organisationen ausgeschlossen wurde, die er zum Teil selber gegründet hatte.
Das größte oder jedenfalls bekannteste Projekt wurde die „Kommune 1”, die Ende 1966 passgenau als Hassobjekt für die willfährigen Skandalschreier bei Bild und B. Z. entworfen wurde. Zuvor hatte Kunzelmann Bernd Rabehl und Rudi Dutschke für die „Subversive Aktion” geworben, und Teil der Gaudi war, dass er die eben aus der DDR geflohenen „Abhauer” mit dem ihm eigenen Hochmut in Camus und Proust examinierte, von denen die beiden naturgemäß noch nie gehört hatten. Wie alle Unternehmungen davor litt auch die Kommune unter dem „Missverhältnis von Analyse und Aktion”, weshalb Kunzelmann den „Psycho-Amok” bald sein ließ und die anderen nach draußen, in die offene Kunst-Schlacht drängte.
Die Rauchbomben, die die Kommunarden 1967 beim „Puddingattentat” auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey ausbringen wollten, um gegen die Bombardierung Vietnams zu demonstrieren, überforderten nicht nur die Berliner Polizei, sondern auch die stramme Leninistin Ulrike Meinhof. Sie warf den von Kunzelmann angeführten Attentätern vor, sie hätten es versäumt, „in Fernsehen und illustrierter Presse ihre Aktion zu erklären”. Noch vor ihr beschritt Kunzelmann todernst den Weg in den Untergrund, verschwand im Vorderen Orient und kehrte als Fedajin nach Berlin zurück, um den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen.
Am 9. November 1969 platzierte Albert Fichter im Auftrag Kunzelmanns einen Sprengkörper im Jüdischen Gemeindehaus, der, wäre er denn funktionstüchtig gewesen, leicht 250 Menschen hätte umbringen können. Dass Kunzelmanns Untat antisemitisch war, wird heute nicht einmal er selber bestreiten. 1969 mag es für ihn der ultimative surrealistische Akt gewesen sein, die Berliner Gedenkfeier in ihrem selbstzufriedenen Philosemitismus zu erschüttern.
So grauenhaft und wenig verzeihlich das ist, so wenig sollte einem die Zerstörungslust fremd sein, die der Avantgarde seit je zugehört. Die Avantgarde war nie nett zu ihrem Publikum. Die Schüsse, die André Bretons Amokläufer in die Menge feuern sollte, waren so aggressiv gemeint, wie sie klangen. Karl Heinz Bohrer beschrieb diese Brutalität damals klar und nicht ohne Sympathie: „Der surrealistische Zynismus terrorisiert die Nerven des moralisch Ansprechbaren. Die Technik der Satire ist um jenen Grad weitergedreht, wo sie ein Gefühl von blutigem Ernst um sich zu verbreiten vermag.” Genau das gelang dem Attentäter Kunzelmann. Für Horst Mahler war es dieser Anschlag auf das falsche Ziel, der ihn veranlasste, im Jahr darauf die RAF zu gründen, um „es besser zu machen”. Der Spaß war vorbei. Wenn es Tote gibt, ist nichts mehr surreal.
Über Jahrzehnte blieb die Forschung über Wahn und Wirklichkeit der sechziger Jahre Zeitgenossen und Zaungästen vorbehalten, beschränkte sich die Erkenntnis auf die serielle Reproduktion der Abziehbilder vom Macho Andreas Baader und der Mater dolorosa Ulrike Meinhof. Reimann hat mit der Analyse dieses ebenso phänotypischen wie einmaligen Charakters einen erhellenden Beitrag geleistet, der die Rechthabereien der letzten Jahre hoffentlich wegblendet. Er präsentiert den Großkasperl Dieter Kunzelmann einleuchtend als dauererregten Aktionisten. Er ist ein Künstler ohne eigenes Werk, ein Verkünder, ein Anstifter. Damit gehört er in die kleine Reihe deutscher Kunst-Darsteller von Bazon Brock über Joseph Beuys bis Christof Schlingensief, die lieber über die Kunst triumphierten, als um die Aufnahme ins Museum zu betteln.
Das Spätwerk des Event-Gardisten Kunzelmann fällt gegen die großen Skandale der Sechziger unvermeidlich ab. 1970 wurde er verhaftet, was ihn eigener Aussage nach vor dem Terrorismus bewahrte. Noch im Gefängnis affiliierte er sich mit der betonharten KPD und ließ sich dann als Abgeordneter der Alternativen Liste ins Berliner Abgeordnetenhaus wählen. Dort entwickelte er sich schnell zum büro- und sogar demokratiebegeisterten Gschaftlhuber, der seine Parlamentskollegen zur Weißglut reizte. Trifft es zu, fragte er mit Hinweis auf die immer noch symbiotisch verbundene Bild-Zeitung, dass „das Berliner Polizeipferd Elke nach 23 Dienstjahren ins Schlachthaus gebracht, auseinandergeschnitten und dann zu Buletten, Würstchen und Gulasch verarbeitet wurde”? Ansonsten bewarf er den „Regierenden Dieb”, den Bürgermeister Eberhard Diepgen, regelmäßig mit rohen Eiern, was ihm seine bislang letzte Gefängnisstrafe eintrug. Ansonsten heißt es, der Siebzigjährige wirke als liebender Großvater.
So erfreulich es ist, dass der ehemals rein akademische Verlag Vandenhoek & Ruprecht diese Biographie in sein Programm aufgenommen hat, so bestürzend ist die lieblose Herstellung, die man ihr angedeihen ließ. Bei einem derart materialreichen und fleißig recherchierten Buch ist es unvermeidlich, dass dem Autor Fehler unterlaufen, von denen ihm ein Lektorat die meisten hätte ersparen können. Die Auslegung der Orthographieregeln blieb offenbar gleich einem toleranten Korrektursystem überlassen. Das ehemalige SED-Blatt Berliner Zeitung, das inzwischen weiter im Westen angekommen ist, als seinen Redakteuren lieb ist, gehört dennoch nicht zum Haus Springer. (Hier liegt eine Verwechslung mit dem Boulevard-Blatt B. Z. vor.) Wenn aus Rudi Dutschke ein „Deutschke” wird, scheint unbewusst der späte, der deutschnationale Bernd Rabehl mitzuschreiben. Und vielleicht ist es auch kein Fehler, wenn Reimann bei der legendären Formulierung, die Jürgen Habermas für den Revolutionsprediger Hans Magnus Enzensberger fand, er spiele den „zugereisten Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre”, glaubt, sie wäre vornehmlich auf Kunzelmann gemünzt. Anstifter waren beide, Enzensberger und Kunzelmann, vollkommen ernst war es damit beiden nicht, und vielleicht sind sie deshalb auch beide davongekommen.
Tilman Fichter fällt bei seinem Feind nur ein Western-Titel ein: „Leichen pflastern seinen Weg.” Seine Mit-Kämpfer Georg von Rauch und Thomas Weisbecker starben durch Polizeikugeln, seine Freundin Ina Siepmann, die wie Kunzelmann selber vom Leid der Palästinenser angesteckt wurde, kam wahrscheinlich bei einem israelischen Luftangriff im Libanon ums Leben. Fichters Bruder Albert musste wegen des Bombenanschlags aus Berlin fort und jahrzehntelang untertauchen.
Nur der ehemalige Innensenator Neubauer, der die Bombe seinem Agenten Peter Urbach in die Hand drückte, um die linke Szene zu kriminalisieren, verzehrt bis zum heutigen Tag eine stattliche Pension, ein weiterer Beweis dafür, dass gegen die Autorität Gewalt so wenig wie Kunst ausrichtet. Nur der Gaudi gelingt es hin und wieder, aber dann droht auch schon wieder der blutige Ernst. Daran sollte eine demnächst fällige Kunzelmann-Büste erinnern. WILLI WINKLER
ARIBERT REIMANN: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2009. 392 Seiten, 29,90 Euro.
„Seine Büste wird die Kamine aller wahrhaft edlen Menschen zieren.”
Die Avantgarde war nie nett zu ihrem Publikum
Trifft es zu, dass „das Berliner Polizeipferd Elke nach 23 Dienstjahren ins Schlachthaus gebracht, auseinandergeschnitten und dann zu Buletten, Würstchen und Gulasch verarbeitet wurde”? – Dieter Kunzelmann bei der Blockade amerikanischer Kasernen im Oktober 1983 in Berlin Foto: Paul Glaser
Künstler ohne Werk: Dieter Kunzelmann 1971 (in verschiedenen Verkleidungen auf Passfotos) Foto: Ullstein
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit merklicher Faszination und trotz allem auch Sympathie zeichnet Willi Winkler den Lebensweg des Dieter Kunzelmann nach, dem Aribert Reimann die erste wissenschaftliche Biografie gewidmet hat. Was Winkler an Kunzelmann so bewundert, ist sein "Gauditum", seine Kunst, zu verschwinden und jeder Verantwortung auszuweichen, so scheint es. Dass Kunzelmann Antisemit ist, stört ihn nicht weiter. Natürlich verurteilt Winkler das für den 9. November 1969 vorbereitete Attentat auf das Berliner jüdische Gemeindehaus, aber er sieht es auch als eine Art surrealistische Aktion. Es klingt eine Spur Verständnis mit für einen, der "jede Art von Autorität" bekämpft. Reimanns Biografie, über deren Inhalt wir nicht viel erfahren, hat Winkler in seinem intellektuellen Abenteurertum jedenfalls zufrieden gestellt, auch wenn er ein nachlässiges Lektorat und zahlreiche Fehler im Detail bemängelt. Winkler kann sie viel eher empfehlen als Wolfgang Kraushaars Buch über "Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus", das die nur zufällig gescheiterte Terroraktion gegen die jüdische Gemeinde erstmals wieder in ein breiteres Bewusstsein rückte. Kraushaar, so Winkler in seiner humorvollen Prosa, habe Kunzelmann "als den allerschlimmsten Finger" denunziert.

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