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Dokumentation und Zwischenbilanz der großen Debatte über das Verhalten deutscher Geisteswissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus.
Mit dem 42. Deutschen Historikertag im September 1998 in Frankfurt begann eine großes Aufsehen erregende Debatte über das Verhalten von Wissenschaftlern, insbesondere Historikern, im Dritten Reich. Diese Debatte hat in den letzten Jahre außerordentlich viel Neues zutage gefördert. Das Max-Planck-Institut für Geschichte dokumentiert in einer Folge von drei Bänden für die Gesamtheit der Kulturwissenschaften deren Vernetzungen und Verflechtungen mit dem…mehr

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Produktbeschreibung
Dokumentation und Zwischenbilanz der großen Debatte über das Verhalten deutscher Geisteswissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus.


Mit dem 42. Deutschen Historikertag im September 1998 in Frankfurt begann eine großes Aufsehen erregende Debatte über das Verhalten von Wissenschaftlern, insbesondere Historikern, im Dritten Reich. Diese Debatte hat in den letzten Jahre außerordentlich viel Neues zutage gefördert. Das Max-Planck-Institut für Geschichte dokumentiert in einer Folge von drei Bänden für die Gesamtheit der Kulturwissenschaften deren Vernetzungen und Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus. Der erste, hier angezeigte Band konzentriert sich auf Fächer, Milieus und Karrieren. Aus dem InhaltFächer: Michael Stolleis, Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945 Frank-Rutger Hausmann, Die deutschsprachige Romanistik in der Zeit des NationalsozialismusLudwig Jäger, Der Fall Beißner und die NS-Fachgeschichtsschreibung der GermanistikPamela M. Potter, Musikwissenschaft und Nationalsozialismus.Milieus: Eike Wolgast, Geschichtswissenschaft in Heidelberg 1933-1945Ingo Haar, 'Volksgeschichte' und Königsberger MilieuElfriede Uener, Kultur- und Sozialtheorie der 'Leipziger Schule' zwischen 1900 und 1945Jan M. Piskorski, Die Reichsuniversität Posen 1941-1945Agnes Blänsdorf, Autoren und Verlage unter den Bedingungen des NationalsozialismusAnsgar Frenken, Die Görres-Gesellschaft im Dritten ReichManfred Messerschmidt, Historiker an der Front und in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres.Karrieren: Heiko Steuer, Herbert Jankuhn - SS-Karriere und Ur- und FrühgeschichteEduard Mühle, Hermann Aubin, der 'Deutsche Osten' und der NationalsozialismusAnne Christine Nagel, Herbert Grundmann und der Nationalsozialismus.Die europäische Dimension: Lutz Raphael, Frankreichs Kulturwissenschaften im Schatten von Vichy-Regime und deutscher Besatzung.
Autorenporträt
Prof. Dr. Dr. h.c. Hartmut Lehmann ist Honorarprofessor an den Universitäten Göttingen und Kiel und war bis 2004 Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen.
Prof. Dr. phil. Otto Gerhard Oexle war Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Geschichte und bis 2004 Honorarprofessor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2004

Die frühen Juniorprofessuren
Studien über den Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften

Vielleicht sollte man dieses wuchtige, ehrenwerte Buch am Ende zu lesen beginnen. Dort wird die Kernfrage auf den Punkt gebracht, die den Leser, der vorne anfängt, je länger, je mehr beschäftigt: Was heißt und zu welchem Ende studiert man "Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften"?

Erinnern wir uns. Es begann mit jenen Achtundsechzigern, die in der Vorlesung riefen: "Was Sie da sagen, Herr Professor, ist faschistisch!" Mutige wagten das sofort. Andere später. Manche erst, als die Verdächtigen verstorben und sie selbst Ordinarien geworden waren - wenn sie nicht einen Doktoranden vorschickten. In den späten achtziger Jahren begann eine systematische Enthüllung der Karrieren jener deutschen Gelehrten, die nach 1945 den Ton angegeben hatten - in einer Reihenfolge, deren diskrete Logik künftige Historiker erforschen sollten. Die Bestürzung war groß. Die Gründer- und Vaterfiguren der modernen bundesrepublikanischen Geisteswissenschaften, so zeigte sich, waren viel tiefer in das nationalsozialistische Regime involviert gewesen, als man gewußt und geahnt hatte. Laut rief man nach "Aufarbeitung". Monographien und Sammelbände erschienen. Der Frankfurter Historikertag 1998 wurde zum Tribunal. Nie zuvor war deutsche Wissenschaftsgeschichte so populär gewesen.

Der Forschung nutzte es. Als 1996 das international renommierte Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen vor der Schließung stand, gehörte seine Wichtigkeit für die Aufklärung der nationalsozialistischen Verstrickungen deutscher Wissenschaftler zu den wenigen Argumenten, die auch abgebrühteste Politiker überzeugten. Der vorliegende Band dokumentiert das erste der drei Symposien, die seine beiden Direktoren seit 2000 zu diesem Thema durchführten. Daß er jetzt erscheint, da das Institut erneut schwer gefährdet ist, gibt ihm in mehrfacher Hinsicht bittere Symbolkraft.

Zusammen mit zwei Folgebänden soll er eine Art Enzyklopädie zur Rolle deutscher Kulturwissenschaftler im nationalsozialistischen Regime bilden. Das erklärt und rechtfertigt, daß seine Beiträge manches bieten, was man anderenorts nachlesen kann. Erneut berichten Michael Stolleis über die Rechtswissenschaft, Frank-Rutger Hausmann über Romanistik, Pamela M. Potter über Musikwissenschaft, Eike Wolgast über Heidelberger Historiker und Ingo Haar über "Volksgeschichte". Auch speziellere Themen rücken ins Bild: Hans Freyers "Leipziger Schule" (von Elfriede Üner), die 1941 eröffnete "Reichsuniversität Posen" (Jan M. Piskorski), die Görres-Gesellschaft (Ansgar Frenken), die Historiker Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm (Manfred Messerschmidt), Hermann Aubin (Eduard Mühle) und Herbert Grundmann (Anne Christine Nagel) sowie, als Vergleichsmaßstab, die französische Kulturwissenschaft unter dem Vichy-Regime (Lutz Raphael).

Viele der scharf mit Archiv- und Literaturnachweisen munitionierten Artikel sind auffällig lang. Auf sechzig Seiten schildert Ludwig Jäger die Intrigen, durch die die Schiller-Nationalausgabe 1943 ohne Friedrich Beißners Einleitung erschien. Neunzig Seiten braucht Heiko Steuer, um erneut die SS-Karriere seines Lehrers, des Ur- und Frühgeschichtlers Herbert Jankuhn, darzustellen. Auf hundert Seiten stellt Agnes Blänsdorf fest, daß es keine spezifisch nationalsozialistischen Schulbücher zur Geschichte gab. Auch gedanklich finden die Autorinnen und Autoren meist kein Ende. Das spricht für sie. Fast alle versuchen, das Verhalten der Zeitgenossen nicht abzuurteilen, sondern (wie Joachim Rückert in seinem Schlußwort kühn formuliert) zu "verstehen". So enden fast alle aporetisch: daß jeder irgendwie involviert gewesen sei, eine Bewertung aber je nach Blickpunkt unterschiedlich ausfallen müsse. In der Tat: Was soll man davon halten, daß etwa der Mediävist Herbert Grundmann zwar linientreue Rundfunkvorträge hielt, zugleich aber den Mut aufbrachte, einen namhaften Nazi-Ordinarius öffentlich der Inkompetenz zu überführen? Was von Herbert Jankuhn, der sich, "jung, elitär, leistungsbezogen, technokratisch", den Mächtigen andiente, mit den so gewonnenen Geldern aber Grabungen durchführte, die noch nach heutigen Standards wissenschaftlich untadelig waren? "Wäre das NS-Regime nicht ,dazwischengekommen'", meint sein Biograph, "dann hätte er - dafür sprechen alle Indizien - dieselbe Karriere aufbauen können." Das klingt makaber, trifft aber den Punkt. Überzeugte Nationalsozialisten waren die wenigsten der hier präsentierten Gelehrten. Verbrechen begingen diejenigen, die Gutachten für Umsiedlungspläne verfaßten. Alle hofierten die Regierung, um Projekte zu ergattern. Darf man ihnen das verübeln, da das Regime doch endlich junge Wissenschaftler zum Zuge kommen ließ, Juniorprofessuren einrichtete, neue, zeitgemäße Studiengänge entwickelte, die interdisziplinäre Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften anregte, sozial- und kulturhistorische Forschungsansätze förderte, die vermuffte Ordinarienuniversität zu modernisieren versprach?

Denkt man sich einmal die Doktrin weg, daß es nichts Wahres im Falschen gebe - wo liegen dann die Unterschiede zwischen den damaligen Fachvertretern und den heutigen? Oder, anders gefragt: Wenn es damals verwerflich gewesen sein soll, der Politik Zugeständnisse zu machen, warum soll man heute begeistert sein, wenn Politbürokraten, Gremienfunktionäre und zu Großordinarien mutierte Altachtundsechziger eine "Universitätsreform" anpreisen, die von Jugend, Interdisziplinarität und Praxisrelevanz faselt und doch durchsichtige politische Ziele verfolgt? Weil die Politik von heute nicht mehr gegen die Menschenwürde verstößt, sondern nur gegen die der Wissenschaft? Sollte man da nicht eher aufstehen und rufen: "Was Sie da sagen, Herr Professor, ist faschistisch."?

Gesine Schwan warnt vor dieser Konsequenz. Die Kriterien für wissenschaftliche Qualität, so erklärt sie in ihrem Schlußwort, ließen sich nie anders als vor- oder außerwissenschaftlich begründen. Der Versuch, sie wertfrei, immanent, unabhängig vom Ganzen zu definieren, habe es den Nationalsozialisten überhaupt erst erlaubt, Wissenschaft und Menschenwürde zu trennen. Wissenschaft, so wäre zu schließen, hat immer der Politik zu dienen. Aber jeder darf wählen, welcher und in welchem Maße. Jeder muß, so fügt Joachim Rückert hinzu, nach dieser individuellen Gewissensentscheidung beurteilt werden.

Die in den Vereinigten Staaten lehrende Irmeline Veit-Brause sucht die Vergehen der Wissenschaftler des "Dritten Reichs" klar zu benennen. Deren historistische Vorgänger seien dem uralten Prinzip der gelehrter Internationalität verpflichtet, vom Glauben an die "zivilisierende Macht von Wissenschaft" (Helmholtz), an den Wert von Individualität und Entwicklung beseelt gewesen. Die Nationalisierung und Zentralisierung der Forschung, ihre Unterwerfung unter die Ideologie der Steuerung und Machbarkeit habe viele Forscher zu einer "autistischen und aggressiven Verfolgung" ihrer Fachinteressen verführt, zu "einer Art von Blindheit für die Inhumanität der Taten, die ringsherum geschahen . . . Dieses Sich-hinreißen-Lassen durch die Verlockungen von Macht - war es vielleicht eine Art von Überreaktion gegen einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex von Geistes- und Sozialwissenschaftlern, die nun endlich einmal ihre ,Nützlichkeit' für die herrschenden Mächte beweisen wollten? Sie entdeckten plötzlich, daß ihr Wissen einen ,Marktwert' als ,käufliches Gut' hatte."

Der Vermarktungswahn also wäre eine charakteristische Perversion der Kulturwissenschaften im Zeichen des Nationalsozialismus. Das steht auf Seite 679. Manchmal lohnt es sich doch, dicke Bücher bis zum Ende zu lesen.

GERRITH WALTHER

Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): "Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften". Band 1: Fächer - Milieus - Karrieren. Unter Mitwirkung von Michael Matthiesen und Martial Staub. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 200. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004. 683 S., geb., 92,- [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2004

Alles Opfer
Der Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften zur Zeit des NS-Systems
Am 21. Dezember 1945 schrieb der ehemalige Rektor der Universität Leipzig, der Althistoriker Helmut Berve, an seinen früheren Kollegen, den Gräzisten Wolfgang Schadewaldt: „Vorwürfe habe ich mir im Rückblick auf die Zeit meines akademischen Wirkens seit 1933 nicht zu machen, glaube vielmehr, der Wissenschaft gedient zu haben. Ob andere Stellen das anerkennen oder nicht, kann mich daher nur äußerlich treffen.”
Für Helmut Berve bedeutete das Ende des „Dritten Reiches”, in dessen Dienst er sich seit dem 30. Januar 1933 vorbehaltslos gestellt hatte, das vorläufige Ende seiner glänzenden Karriere. Von den amerikanischen Besatzungstruppen verhaftet, konstruierte er in seinen Selbstrechtfertigungen den politik- und ideologiefreien Raum einer objektiven Wissenschaft, der gegen den nationalsozialistischen Missbrauch habe verteidigt werden müssen. Die Überzeugung, selbst zum Opfer geworden zu sein, ließ ihn vergessen, dass er bereitwillig mit braunen Funktionären kollaboriert hatte. Schon Anfang der fünfziger Jahre gelang ihm der berufliche Wiedereinstieg. Berves Vita steht stellvertretend für die Biographie vieler Hochschullehrer, die nach 1945 nicht an ihre Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus erinnert werden wollten.
Seit dem 42. Historikertag in Frankfurt 1998 widmet sich die Geschichtswissenschaft verstärkt der Rolle verschiedener Fächer und Gelehrter im NS-Wissenschaftsbetrieb. Nun wurden endlich Fragen aufgeworfen, die die Generation der Schüler aus Betroffenheit oder Verlegenheit oft nicht oder nur sehr vorsichtig gestellt hatte. Zahlreiche neue Studien wollen nicht nur die persönliche Verstrickung prominenter Wissenschaftler enthüllen, sondern auch die intellektuellen und wissenschaftlichen Voraussetzungen klären, die ihnen eine Zusammenarbeit mit dem faschistischen Wissenschaftssystem ermöglichten.
Bevor indes eine abschließende Darstellung über die Geisteswissenschaften im Dritten Reich geschrieben werden kann, ist noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. Archivbestände müssen ausgewertet, Biographien rekonstruiert, Fächerdiskurse nachgezeichnet und Netzwerke aufgedeckt werden. Ein Meilenstein auf diesem Weg sind die vom Max-Planck-Institut für Geschichte zwischen 2000 und 2002 veranstalteten Tagungen zu dem Thema „Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften”.
In dem nunmehr veröffentlichten ersten Band, der daraus hervorgegangen ist, charakterisiert Michael Stolleis die deutsche Rechtswissenschaft, und Frank-Rutger Hausmann präsentiert eine konzise Geschichte der deutschsprachigen Romanistik. Ludwig Jäger widmet sich der Germanistik und Pamela M. Potter der Musikwissenschaft, während Lutz Raphael die europäische Perspektive eröffnet und Frankreichs Kulturwissenschaften im Schatten von Vichy-Regime und deutscher Besatzung darstellt. Eike Wolgast skizziert die Heidelberger Geschichtswissenschaft, Ingo Haar die „Volksgeschichte” in Königsberg und Elfriede Üner die Soziologie in Leipzig. Jan M. Piskorski nähert sich der Geschichte der Reichsuniversität Posen von 1941 bis 1945. Den Lehrwerken für den Geschichtsunterricht an Höheren Schulen gilt das Augenmerk von Agnes Blänsdorf, Ansgar Frenken schildert das Schicksal der katholischen Görres-Gesellschaft im „Dritten Reich”, und Manfred Messerschmidt untersucht am Beispiel von Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm die Tätigkeit einzelner Historiker in den Oberkommandos der Wehrmacht und des Heeres. Heiko Steuer rekonstruiert die Vita des Ur- und Frühgeschichtlers Herbert Jankuhn, Eduard Mühle folgt dem Lebensweg des Mediävisten Hermann Aubin, und Anne Christine Nagel reflektiert über Herbert Grundmanns Verhältnis zum Nationalsozialismus.
Geistige Mobilmachung
Die Beiträge verbinden Mikro- und Makroskopie, Personen- und Strukturgeschichte. Denkmäler werden nicht gestürzt. Vielmehr wird ein differenziertes Bild wichtiger Kulturwissenschaften und ihrer Repräsentanten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeichnet. Die Geschichte der einzelnen Disziplinen verlief nicht gleichmäßig, sondern in verschiedenen Phasen. Der Gleichschaltung folgte in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die ideologische Anpassung an die Vorgaben des Regimes. Während des Zweiten Weltkrieges standen organisatorische Einsätze und Gemeinschaftsarbeiten zur geistigen „Mobilmachung” im Vordergrund. Einzelne Fachvertreter ließen sich nicht zuletzt aus forschungsstrategischen Gründen in die institutionellen Kontexte der NS-Wissenschaftspolitik einbinden. Die Möglichkeiten, die Partei, SS und Wehrmacht für die Realisierung eigener Vorhaben boten, ergriffen sie gern. Im Unrechtssystem konnte durchaus exzellente und innovative Forschung betrieben werden.
Und die dramatis personae? Die zumeist protestantischen Universitätsprofessoren waren vor 1933 mehrheitlich politisch konservativ und lehnten die demokratische Verfassung der Weimarer Republik ab. Der scheinbare Verlust normativer Werte und die offene Konkurrenz kulturell-politischer Leitsysteme verband sich mit der Kritik an einem vermeintlich degenerierten Historismus. Antirationalistische, biologistische und vitalistische Überzeugungen wiesen Wesensverwandtschaften mit der nationalsozialistischen Weltanschauung auf. Ehrgeizige Nachwuchswissenschaftler und altgediente Ordinarien beteiligten sich nach dem 30. Januar 1933 bereitwillig an der nationalsozialistischen Umdeutung ihrer Wissenschaft und rezipierten völkisch-rassistische Kategorien. Widerstand war selten, die Mehrheit der Hochschullehrer passte sich geräuschlos an.
Nach 1945 stand auch den Professoren angesichts der drängenden materiellen Probleme der Sinn nicht nach kritischer Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit. Die Wiederaufnahme von Forschung und Lehre und der Wiederaufbau der Universitäten galten als die größten Herausforderungen. Personelle Kontinuität ging in den Seminaren und Instituten mit der Vermittlung traditioneller Inhalte einher. Rasch wurden die alten Mandarine rehabilitiert, die von ihren Schülern Loyalität einforderten und die Erinnerungskultur in ihren Fächern prägten - bis in die jüngste Vergangenheit.
Die Gesamtheit der Kulturwissenschaften konnte von den Veranstaltern nicht erfasst werden. Exemplarische Auswahl war notwendig. Dennoch bleibt gerade bei der Darstellung der Fächer manche Lücke schmerzlich. Die Kunstgeschichte, die Altertumswissenschaften und die Philosophie hätten auf Grund ihrer inner- und außeruniversitären Bedeutung der Behandlung bedurft, und für die Analyse zeittypischer Karrieren hätte sich eine Schlüsselgestalt des NS-Wissenschaftssystems wie der Indogermanist und Münchner Rektor Walther Wüst angeboten. Doch die Verdienste des Bandes sind offenkundig: Er öffnet den Blick über die Geschichtswissenschaft hinaus auf die Kulturwissenschaften, bildet den Stand der fachspezifischen Diskussionen zuverlässig ab und fördert viel Neues zutage. Bleibt zu hoffen, dass die beiden Folgebände bald erscheinen werden.
STEFAN REBENICH
HARTMUT LEHMANN, OTTO GERHARD OEXLE (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer - Milieus - Karrieren, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 200. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004. 683 Seiten, 92 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr verdienstvoll findet Stefan Rebenich diesen Band, der aus mehreren, zwischen 2000 und 2002 veranstalteten Tagungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte zum Thema "Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften" hervorgegangen ist. Der Band, der erste von dreien, zeichne ein "differenziertes Bild" wichtiger Kulturwissenschaften und ihrer Repräsentanten im Dritten Reich. Die Beiträge verbänden Mikro- und Makroskopie, Personen- und Strukturgeschichte. Rebenich berichtet über die Geschichte der einzelnen Disziplinen und über die involvierten Personen, zumeist protestantische Universitätsprofessoren, die vor 1933 mehrheitlich politisch konservativ waren, die demokratische Verfassung ablehnten, sich nach 1945 aber oft genug als Opfer stilisierten. Dass die Gesamtheit der Kulturwissenschaften nicht erfasst werden konnte, sondern eine exemplarische Auswahl notwendig war, findet er zwar bedauerlich, aber verständlich. Dennoch bleibe gerade bei der Darstellung der Fächer manche Lücke schmerzlich. So hätten etwa die Kunstgeschichte, die Altertumswissenschaften und die Philosophie auf Grund ihrer inner- und außeruniversitären Bedeutung der Behandlung bedurft. Nichtsdestoweniger fällt Rebenichs Urteil positiv aus: Der Band öffne den Blick über die Geschichtswissenschaft hinaus auf die Kulturwissenschaften, bilde den Stand der fachspezifischen Diskussionen zuverlässig ab und fördere viel Neues zutage.

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