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Über mehrere Jahre hat Geoffroy de Lagasnerie den Verhandlungen in einem Pariser Gericht beigewohnt. Er beobachtete, wie Menschen wegen Raub, Mord, Vergewaltigung oder Körperverletzung angeklagt und verurteilt wurden. Ausgehend von dieser eindringlichen Erfahrung, setzt er zu einer großen Reflexion über den strafenden Staat, die Macht und die Gewalt an. Wie lassen sich dieses System der Repression und seine Kategorien verstehen?
Im Herzen des liberalen Rechtsstaats und seiner Idee der Gerechtigkeit entdeckt de Lagasnerie ein Paradox: Um jemanden verurteilen zu können, muss eine
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Produktbeschreibung
Über mehrere Jahre hat Geoffroy de Lagasnerie den Verhandlungen in einem Pariser Gericht beigewohnt. Er beobachtete, wie Menschen wegen Raub, Mord, Vergewaltigung oder Körperverletzung angeklagt und verurteilt wurden. Ausgehend von dieser eindringlichen Erfahrung, setzt er zu einer großen Reflexion über den strafenden Staat, die Macht und die Gewalt an. Wie lassen sich dieses System der Repression und seine Kategorien verstehen?

Im Herzen des liberalen Rechtsstaats und seiner Idee der Gerechtigkeit entdeckt de Lagasnerie ein Paradox: Um jemanden verurteilen zu können, muss eine individualistische Erklärung der Tat und ihrer Ursachen kreiert werden; aber zugleich wird jede Straftat als Aggression gegen die »Gesellschaft« und den »Staat« aufgefasst. Das Recht wird als die Herrschaft der Vernunft präsentiert - und produziert zugleich Deprivationen und Traumata. In einer mitreißenden Mischung aus Erzählung und theoretischer Analyse zeigt de Lagasnerie, dass die Justiz mehrist als eine Antwort auf das Verbrechen: Die Szene des Tribunals ist ein Spiegel unseres Verhältnisses zum Staat und damit unseres Status als politisches Subjekt.
Autorenporträt
Geoffroy de Lagasnerie, geboren 1982, ist Philosoph und Soziologe. Seit 2013 ist er Professor für Philosophie an der École nationale supérieure d’arts de Cergy-Pontoise. Zusammen mit dem Schriftsteller und Soziologen Édouard Louis gehört er zu einem Kreis junger Pariser Intellektueller, die mit Aktionen für die Rechte Homosexueller und gegen eine neue Fremdenfeindlichkeit in der französischen Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt haben. Er ist Herausgeber der Reihe à venir bei Fayard und bloggt bei Mediapart.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2017

So seht doch nur, wie böse Polizei und Richter sind
Das soll wohl irgendwie links sein: Geoffroy de Lagasnerie wirft sich in Pose und verabschiedet jeden strafrechtlich haltbaren Begriff von Verantwortlichkeit

"Strafe setzt Schuld voraus", so beginnt eine der berühmtesten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Als auf freie, verantwortliche sittliche Selbstbestimmung angelegtes Wesen sei der Mensch dazu befähigt, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden. Dass er sich dennoch für das Unrecht entscheide, mache seine Schuld aus. Wer einmal dem Zug der traurigen Gestalten beigewohnt hat, die an einem Sitzungsvormittag vor dem Amtsgericht einer deutschen Großstadt erscheinen müssen, wird diese noch mit dem Pathos der fünfziger Jahre getränkten Sätze kaum ohne bitteren Beigeschmack lesen können. Trinkende Mutter, schlagender Vater, Schule abgebrochen, Ausbildung geschmissen, seit Jahren in einem Milieu aus Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit versunken - egal, du hättest den von dir verübten Diebstahl nicht zu begehen brauchen, wenn du dich nur genügend angestrengt hättest.

So wie jeder Begriff erhält auch der strafrechtliche Schuldbegriff seine spezifischen Konturen erst durch das, was er ausblendet. Von der Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen Beschuldigten in die Delinquenz getrieben haben, will er nichts wissen; ein komplexes soziales Ursachengeflecht bricht er auf das Modell eines isolierten Geschehensstrangs herunter, der auf eine Einzelperson zuläuft und von ihr - und niemandem sonst - zu verantworten ist. Diese individualistische Engführung des Schuldbegriffs versteht sich keineswegs von selbst. Sie bedarf deshalb einer normativ akzeptablen Begründung. Zu ihren Gunsten lässt sich insbesondere anführen, dass die Akzeptanz individueller Schuld der Preis für die Zubilligung individueller Freiheitsrechte sei und ihre Auflösung in einer allumfassenden gesamtgesellschaftlichen Verantwortlichkeit ein Regime extensiver Überwachung und Bevormundung nach sich ziehen würde, das niemand wollen könne, auch nicht die am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehenden Personen.

Man kann es sich freilich auch bequem machen und das strafrechtliche Schuldverständnis wegen seines abstrahierenden Vorgehens von vornherein als illegitim brandmarken. So verfährt der französische Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie. Dort, wo der Strafrechtsstaat von Mord rede, sollten wir in seinen Worten "die Gewalt des prekären Lebens sehen, die Gewalt der Auswanderung/Einwanderung, die Gewalt der männlichen Geselligkeit, die Gewalt des Staats, die Gewalt des wirtschaftlichen Abstiegs". Umgekehrt sollte man vom Staat nicht sagen, "dass er zum Tode verurteilt, sondern dass er mordet; nicht dass er Privatpersonen verhaftet, sondern dass er sie kidnappt; nicht dass er sie ins Gefängnis steckt, sondern dass er sie ihrer Freiheit beraubt; nicht dass er ihnen Bußgelder auferlegt, sondern dass er sie ausraubt". Das sind kräftige Worte. Sie stehen allerdings auf einem höchst instabilen Fundament, denn de Lagasnerie fehlt es in einem für einen Philosophieprofessor erstaunlichen Ausmaß an der Bereitschaft zur Selbstreflexion.

Soweit es um Positionen geht, die er ablehnt - wie etwa die Modalitäten der herkömmlichen strafrechtlichen Verantwortungszuschreibung -, ist er zwar gern dazu bereit, das postmoderne Credo von der Wirklichkeit als bloßer Konstruktion anzustimmen. Für sich selbst nimmt er demgegenüber ohne weiteres in Anspruch, "die Dinge zu sagen, wie sie sind". Mit einem geradezu messianischen Selbstbewusstsein stellt er fest, es könne keine andere als eine soziologische kritische Theorie des Staats und der Gewalt geben. "Allein die Soziologie sagt die Wahrheit über den Staat, während die politische Philosophie als Mystifikationsmaschine funktioniert." Wer die "Gewaltsamkeit des Staats, die aus seiner Verneinung und seiner Leugnung der soziologischen Sichtweise der Welt stammt", außer Acht lasse, verschließe sich deshalb der "Logik der Wirklichkeit" und betreibe eine Strategie irrationaler Vernebelung.

Mit diesem erkenntnistheoretischen Salto mortale von der Deutung zum Sein gibt sich de Lagasnerie allerdings noch nicht zufrieden. Er lässt ihm vielmehr eine kaum weniger abenteuerliche Missachtung des Humeschen Gesetzes folgen, wonach von einem Sein nicht auf ein Sollen geschlossen werden kann. Selbst wenn wir aufgrund einer extrem weitgehenden Auslegung der soziologischen Einsicht in die objektiven Determinanten individuellen Handelns den Satz de Lagasneries akzeptieren, "dass wir alle in das verstrickt sind, was jedem von uns zustößt", folgt daraus nicht, dass wir für alles, was geschieht, auch kollektiv verantwortlich wären. Oder würde de Lagasnerie allen Ernstes den Satz unterschreiben, dass er für die NSU-Mordserie oder für einen Sprengstoffanschlag in Kabul in irgendeinem moralisch oder gar juristisch greifbaren Sinn mitverantwortlich sei? Ist er dazu nicht bereit, gesteht er ein, dass sich Verantwortlichkeitsfragen nicht so kurzschlüssig soziologisieren lassen, wie er dies behauptet. Ist er hingegen willens, jenen Schritt zu tun, muss er sich entgegenhalten lassen, dass er keine Fortbildung des Begriffs der Verantwortlichkeit betreibe, sondern dessen stillschweigende Euthanasie; denn wenn alle für alles verantwortlich sind, verliert der Begriff der Verantwortlichkeit seine unterscheidende Kraft. So oder so entpuppt sich de Lagasneries hyperkritische Attitüde als Pose eines Salonlinken, einen ernstzunehmenden philosophischen Debattenbeitrag stellt sie nicht dar.

Noch unbekümmerter als bei seiner Abschaffung individueller Schuld verfährt de Lagasnerie bei seinem Plädoyer für eine Ersetzung des Strafrechts durch ein Regelungssystem, das es den Betroffenen überlasse, "dem, was ihnen zugestoßen ist, autonome Bedeutungen zuzuweisen, die die Möglichkeit der Vergebung, der Verhandlung, der Wiedergutmachung, der Wortergreifung behaupten würden". Das sind schöne Worte, und ungefähr sagt das der Pfarrer auch. Allerdings dürfte es bei großen Machtunterschieden zwischen den Beteiligten mit der autonomen Bedeutungszuweisung nicht weit her sein; auch wird eine vergewaltigte Frau sich bedanken, wenn sie den Täter als Verhandlungspartner wiedersehen müsste. Neben der Blindheit de Lagasneries für die Situation vor allem von besonders schwachen Opfern erstaunt aber vor allem die Auswahl der theoretischen Kronzeugen, die er zur Unterstützung seiner Position anruft. "Werkzeuge für die Entwicklung eines Gegenangriffs auf die Idee des Strafrechtsstaats und des Bestrafungsapparats" glaubt de Lagasnerie vor allem in der neoliberalen und libertären Tradition zu finden. Dass eine solche Koalitionsbildung angesichts der Aversion der so vereinnahmten Theoretiker gegen die Entmachtung des Individuums durch die Gesellschaft zumindest überraschend anmutet, räumt de Lagasnerie zwar ein. Gemäß der napoleonischen Maxime "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" gibt er allerdings zu bedenken: "Eine emanzipatorische Praxis muss strategisch vorgehen. Je nach Fall und Situation kann sie sich daher veranlasst sehen, auf Instrumente zurückzugreifen, die auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein scheinen."

Was heißt hier "auf den ersten Blick"? Bei de Lagasneries Soziologismus und dem dezidierten Individualismus der libertären Autoren handelt sich um diametral unterschiedliche Theorielinien, die sich lediglich in einem bestimmten Punkt - der Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Strafrecht - treffen, um danach sogleich wieder auseinanderzulaufen. Ein eigenständiger philosophischer Begründungswert kommt solchen punktuellen Übereinstimmungen nicht zu, und zu einer in sich geschlossenen Konzeption fügen sie sich erst recht nicht zusammen. Alles in allem ist der philosophische Gehalt von de Lagasneries Traktat demnach recht bescheiden. Aufschlussreich ist das Buch jedoch als Dokument des Unverständnisses, das zahlreiche sich progressiv gebende Intellektuelle - hoffentlich nur in Frankreich - den Institutionen und Verfahrensweisen des Rechtsstaats entgegenbringen.

So zieht de Lagasnerie aus dem Umstand, dass jedes Jahr Zehntausende strafgerichtlicher Verfahren mit Freisprüchen enden, nicht etwa den naheliegenden Schluss, diese Freisprüche stellten die Unabhängigkeit, Integrität und Ernsthaftigkeit der Richterschaft unter Beweis. Nein, für ihn beweisen sie, dass die Justiz- und Polizeimaschinerie auf "ungerechtfertigte und willkürliche Weise" über die Angeklagten hereingebrochen sei. Den Sinn rechtsstaatlichen Prozessierens derart zu verkennen zeugt von einer Verranntheit, die man gnädigerweise nicht mehr kommentieren, sondern nur noch schweigend zur Kenntnis nehmen sollte. Immerhin weiß man jetzt, was man von einem politischen Ideologen im Philosophenmantel zu erwarten hat.

MICHAEL PAWLIK

Geoffroy de Lagasnerie: "Verurteilen". Der strafende Staat und die Soziologie.

Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 271 S., geb., 26,- [Euro].

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» ... [als] kritische Reflexion der Justiz hochinteressant.« Til Knipper Der Tagesspiegel 20180122