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In seiner fulminanten historischen Studie befreit Michel de Certeau die Mystiker der frühen Neuzeit von der Aura einer religiösen Nischenexistenz und rückt sie in die Mitte der geistig-politischen Auseinandersetzungen um die Moderne. Sie sind sensibel für die Krise der religiösen Institutionen, bemerken als erste, was sich verändert, wenn überkommene Sinnkontexte zerbrechen und die soziokulturellen Transmissionsriemen des Religiösen nicht mehr funktionieren. Mystik begründet nicht eine Geheimsprache, sondern kämpft mit den Mitteln der untergehenden Welt um deren mögliche Zukunft. Die Tradition…mehr

Produktbeschreibung
In seiner fulminanten historischen Studie befreit Michel de Certeau die Mystiker der frühen Neuzeit von der Aura einer religiösen Nischenexistenz und rückt sie in die Mitte der geistig-politischen Auseinandersetzungen um die Moderne. Sie sind sensibel für die Krise der religiösen Institutionen, bemerken als erste, was sich verändert, wenn überkommene Sinnkontexte zerbrechen und die soziokulturellen Transmissionsriemen des Religiösen nicht mehr funktionieren. Mystik begründet nicht eine Geheimsprache, sondern kämpft mit den Mitteln der untergehenden Welt um deren mögliche Zukunft. Die Tradition wird zum Ruinenfeld, das es neu zu bewohnen gilt im Interesse einer wiederzugewinnenden Plausibilität. Als Figuren des Übergangs markieren Mystiker die Genealogie eines epistemologischen Bruchs: Religion und Moderne unterhalten eine schwierige, aber enge Beziehung, sie liegen nicht so weit auseinander wie oft vermutet. Certeau bietet eine genaue Analyse des historisch-literarischen Materials auf höchstem methodischem Niveau. Souverän verfügt er über linguistische, psychoanalytische und theologisch-hermeneutische Methoden und stellt vor Augen, worum es der frühneuzeitlichen Mystik geht: die Erotik des Gotteskörpers fühlbar zu machen als Spur eines untergehenden, vermißten, wiederzugewinnenden Sinnanspruchs.
Autorenporträt
Michel de Certeau (1925–1986), Historiker und Theologe, war Mitglied des Jesuitenordens und Mitbegründer der École Freudienne in Paris. Er lehrte unter anderem am Institut catholique in Paris, Genf und San Diego.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2010

Unerreichbar fern und fremd
Verkannte Mystik: Michel de Certeau bewegt sich zwischen seinen Quellen wie in einem Spiegelkabinett
Wer kennt hierzulande Michel de Certeau? Der Jesuit, Theologe und politische Intellektuelle, Religionshistoriker, Kulturanthropologe und Geschichtstheoretiker (1925-1986) ist wohl der in Deutschland am wenigsten bekannte unter den französischen Poststrukturalisten. Erst in letzter Zeit beginnt sich das zu ändern. Die „Mystische Fabel“, kurz vor seinem Tod als erster Teil eines nie vollendeten Ganzen erschienen, ist jetzt auf Initiative von Hans Joas und Daniel Bogner erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Es ist ein Schlüsselwerk, aus dem man allerdings weniger über die mystische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts lernt als über den Autor selbst. Certeau bewegte sich zwischen seinen Quellen wie in einem Spiegelkabinett. Nicht nur als Historiker, auch als Freudianer erkannte er sich in der frühneuzeitlichen Mystik wieder. Sie war für ihn das vormoderne Äquivalent zur Psychoanalyse, eine Form, Verborgenes zur Sprache zu bringen.
Das Leitmotiv seines ganzen Werkes ist die Erfahrung spiritueller Leere, sozialer Ortlosigkeit und unerfüllter Suche, der er in immer neuen Metaphern und Gleichnissen Ausdruck verleiht. Die zentrale Chiffre ist das leere Grab Christi, der „uranfängliche Mangel“, auf den das Christentum gegründet ist. Melancholie prägt seine Geschichtstheorie: Das Objekt des Bemühens ist unerreichbar fern und fremd. Genau darin aber fühlt sich Certeau paradoxerweise mit den Helden seines Buches verwandt. Er ist kein antiquarischer Historiker, der seine Objekte historisiert und damit beerdigt, sondern einer, der sie sich identifikatorisch aneignet und zu neuem Leben erweckt – allerdings nicht naiv, sondern im vollen Bewusstsein der hermeneutischen Konstruktion, die er vornimmt.
Certeau kreist die Mystik der frühen Neuzeit weiträumig ein. Das Buch beginnt mit der spätantiken Legende einer anonymen Gottesnärrin und endet mit einem Gedicht aus dem 20. Jahrhundert. Im Zentrum stehen die vielen mehr oder weniger bekannten Mystikerinnen und Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts, unter denen Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz, Jean-Joseph Surin und Jean de Labadie die Prominentesten sind. Was Certeau an ihnen fasziniert, ist der Mangel eines stabilen sozialen Ortes. Ihr Nährboden war der heruntergekommene spanische und französische Provinzadel, aber auch die Kreise der als Kryptojuden beargwöhnten zwangsgetauften Neuchristen.
Im 17. Jahrhundert kamen die mystisch Inspirierten vor allem aus der Societas Jesu, die sie spirituell zu erneuern suchten und sich dadurch bei den Oberen verdächtig machten, der Zensur unterworfen, eingesperrt oder ausgeschlossen wurden. Die mystischen Texte verliehen sozialen Außenseitern und Grenzgängern eine Stimme: Kindern, Narren, Kranken, Bettlern, einfachen Leuten aus dem Volk – anonymen „Heiligen“, die an Weisheit und Gotteserkenntnis alle Theologen und Prediger zu übertreffen schienen und die soziale und religiöse Hierarchie auf den Kopf stellten. Certeau sieht darin den Kern des mystischen Sprechens, das, von keiner Institution autorisiert, ganz auf sich selbst gestellt ist.
Erst in der frühen Neuzeit, als sich vertraute Glaubensgewissheiten auflösten und konfessionelle Konfrontation das Klima beherrschte, gewann der mystische Diskurs Certeau zufolge klar definierte Konturen. Im Mittelalter hatte man Menschen, die sich spiritueller Kontemplation und ekstatischer Gottesliebe hingaben, noch nicht Mystiker genannt. Erst zu Beginn der Neuzeit wurde „Mystik“ zum Begriff für eine Art neuer Theologie und „Mystiker“ zur Bezeichnung einer unsichtbaren sozialen Gemeinschaft. Die sie betrieben, waren Heilige neuen Stils, die sich nicht mehr durch Wundertätigkeit, sondern durch ein geheimes Wissen und eine neuartige Sprache von gewöhnlichen Menschen unterschieden. Der geheime Charakter ihres Wissens machte sie in den Augen mancher verdächtig und ließ sie zum Objekt von Verschwörungsängsten werden. Der mystische Geist schien sich wie eine bedrohliche neuartige Krankheit zu verbreiten. Die Hüter der kirchlichen Institutionen suchten ihn zunehmend aus dem theologischen Milieu zu verbannen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gelang es, ihn nahezu völlig auszumerzen.
Die Texte der Mystiker liest Certeau als „moderne“ Antworten auf den Verlust des Glaubens, und zwar vor allem des Glaubens an stabile Beziehungen zwischen den Wörtern und den Dingen. Anders als in der mittelalterlichen Tradition ließ sich die Welt nicht mehr als Symboluniversum begreifen, das in allen Erscheinungen auf den göttlichen Heilsplan verwies. Als Chiffre für diese Entzauberung der Welt dient Certeau Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“, dem er ein langes Schlüsselkapitel widmet. Das Bild suggeriere auf trügerische Weise, es enthalte eine Fülle an verborgenem Sinn, und führe dabei den Betrachter, der es symbolisch zu lesen versucht, unaufhörlich an der Nase herum. Denn tatsächlich zeige es nur, was es zeigt, ohne jeden entzifferbaren Hintersinn. Certeau nimmt das Bild als Indiz für das Ende der Lesbarkeit der Welt und zugleich für die Autonomie der Malerei, die nur auf sich selbst verweist.
Wenn man Certeau überhaupt so etwas wie eine zentrale These attestieren kann, dann die, dass die Mystiker auf diesen Gewissheitsverlust durch einen neuen Umgang mit der Sprache reagierten. Das mystische Sprechen bildete keine alte Wahrheit mehr ab, sondern erschuf eine eigene. Die spirituelle Kommunikation mit Gott erscheint ihm als performativer Sprechakt, der die Wirklichkeit hervorbringt, die er bezeichnet. Certeau verwendet breiten Raum auf die Beschreibung dieser neuen Art zu sprechen und zu schreiben: Es ist eine Sprache der syntaktischen Unordnung und der lexikalischen Exzesse, der „verdrehten“ Bedeutungen und Barbarismen, der monströsen Metaphern und Paradoxa. Diese Sprache verweist immer nur auf sich selbst. Der Eindruck drängt sich auf, dass Certeau hier auch seine eigene Art zu schreiben thematisiert.
Wie die Mystiker der frühen Neuzeit war er ein Grenzgänger zwischen Institutionen, Disziplinen und Genres. Er erhob das Überschreiten sämtlicher Diskursrahmen zum Erkenntnisprinzip; Metaphorik war für ihn Methode; seine Lieblingsinstrumente waren das Metonym und das Paradox. Das macht seine Texte für jeden Übersetzer zum Problem. Im Deutschen spricht man eine solche vieldeutige, metaphernverliebte Wissenschaftssprache nicht. Was im Französischen inspirierend sein mag, klingt hier leider oft nur dunkel, hölzern und gespreizt. Als Einstiegslektüre in die Mystik eignet sich das Buch daher kaum. Für deutsche Leser, die nicht im postmodernen Diskursbad gestählt sind, ist die Lektüre harter Stoff.
BARBARA STOLLBERG-RILINGER
MICHEL DE CERTEAU: Mystische Fabel. 16. und 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble, mit einem Nachwort von Daniel Bogner. Suhrkamp, Berlin 2010. 542 S., 32 Euro.
Die mystischen Texte verliehen
sozialen Außenseitern und
Grenzgängern eine Stimme
Der in Deutschland am wenigsten bekannte unter den französischen Poststrukturalisten: Michel de Certeau (1925 - 1986). Er war Jesuit, Soziologe, Historiker und Kulturphilosoph.
Foto: Jacques Robert_ Editions Gallimard
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2011

Sich von etwas Unaussagbarem verletzen lassen

So wird das Werk Michel de Certeaus von einer Geschichte der Spiritualität her verständlich: In vorzüglicher Übersetzung ist seine "Mystische Fabel" nun auch der deutschen Leserschaft zugänglich.

Michel de Certeau ist nie ganz im Pantheon der "French Theory" angekommen - als Jesuit wurde er sowohl von kirchlicher Seite als "Abtrünniger" empfunden wie auch umgekehrt vom Zeitgeist der Sechziger und Siebziger, der sich eher für Maoismus als für das Christentum interessierte, als verdächtig angesehen. Certeaus Weg in die aktuelle, vor allem kultur- und sozialwissenschaftliche Rezeption in Deutschland führt über die englischsprachigen Cultural Studies - bekannt geworden ist so in erster Linie ein Denker, der sich mit Raumpraktiken und Fragen des Alltagslebens beschäftigt, wie in "L'invention du quotidien" (ins Deutsche übersetzt unter dem unspezifischen Titel "Kunst des Handelns"). Aus dieser Rezeption bleibt aber ein anderer Aspekt komplett ausgeblendet, ohne den sein Werk im Grunde nicht verständlich ist: die Geschichte der Spritualität.

Allein schon deswegen gebührt der Initiative des Erfurter Max-Weber-Kollegs und dem Suhrkamp Verlag das große Verdienst, diesen Certeau geschlagene achtundzwanzig Jahre nach der Publikation seines Hauptwerks "La fable mystique" einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben. Michael Lauble hat eine genaue Übersetzung der "Mystischen Fabel" und der Certeau-Experte Daniel Bogner ein informatives Nachwort vorgelegt, das sich aber weitgehend auf eine sozialwissenschaftliche Sicht beschränkt und eines unterschlägt: dass Michel de Certeau - neben vielen anderen Dingen - auch ein höchst sensibler Textwissenschaftler war. Genau das verbindet ihn mit seinen Zeitgenossen aus dem Pantheon der "French Theory".

Auf die Gefahr einer enormen Verkürzung hin könnte man das französische Theorieumfeld Certeaus in zwei Lager einteilen, das der Positivisten und das der Unverfügbarkeitstheoretiker: Liest man nur die "Kunst des Handelns", ist man möglicherweise versucht, Michel de Certeau mit dem "anderen" Michel, das heißt mit Michel Foucault, als Positivisten zu verstehen, der gegen die Techniken der Macht die alltäglichen Praktiken und Listen im städtischen Raum setzt und bei aller Kritik an Foucault im Prinzip doch auf dem gleichen sozialen Feld operiert wie er. Aber eine solche, durch partielle Rezeptionsverläufe geförderte Sicht verkürzt Certeaus Denken um einen entscheidenden Begriff, der sich quer durch sein gesamtes Werk zieht: die Heterologie. In der Heterologie erhält etwas sprachlichen Ausdruck, das als solches generell unverfügbar ist und sich nur spurhaft in diskursiven Ordnungen realisiert. Als "Heterologe" steht Michel de Certeau dem Differenz- und Spurdenken eines Jacques Derrida, der lacanianischen Psychoanalyse und auch der Ontologiekritik eines Emmanuel Lévinas, der doch aus einer ganz anderen religiösen Tradition stammt als er, sehr viel näher als der Epistemologie Foucaults.

In der "Mystischen Fabel" untersucht Michel de Certeau das Spiel von Sprach- und Körperpraktiken, in dem sich die Heterologie vielleicht am deutlichsten zeigt, nämlich die Mystik in der Frühen Neuzeit. Certeau versteht die Mystik nicht überzeitlich, sondern als ein emergentes Phänomen, das aus der Krise der mittelalterlichen Glaubensgewissheit hervorgeht. Mit ihr bricht eine Sehnsucht nach einer unverfügbaren Alterität auf, die theologisch in der Hinwendung zu einem "corps manquant", dem unverfügbaren Leichnam Christi greifbar wird. Die Mystik, die sich überhaupt erst als Symptom einer Krise formiert, wird dabei nie zum herrschenden Diskurs, sondern schon bald von den kirchlichen Institutionen wieder marginalisiert. In dieser Marginalisierung verbreitet sich aber die mystische Heterologie nach Certeau in andere, scheinbar säkulare Konstellationen: in die Erotik, die Reiseliteratur und - das dürfte wohl bis zum heutigen Tag die provozierendste These Certeaus geblieben sein - nicht zuletzt in die Psychoanalyse: Auch sie darf als Supplement der mystischen Suche nach einem verlorenen Körper gelten, der nunmehr allerdings den Namen Phallus trägt.

Die "Mystische Fabel" entwickelt jedoch keine allgemeine Theorie der Heterologie (die Certeau im Übrigen nie geschrieben hat und die nur aus verstreuten Fragmenten seines Nachlasses zu erschließen ist), sondern eine durchaus detail- und voraussetzungsreiche historische Studie, die Exegese des Johannes vom Kreuz anhand "mystischer Phrasen" ebenso untersucht wie die Raummetapher der Burg bei Teresa von Ávila und die Wandlungen der Figur des "Wilden" als mystisches Subjekt ausgehend von einem Brief des Jesuiten Jean-Joseph Surin. Die Besonderheit aller Analysen liegt darin, dass sich Certeau in sprachspielerischer Umwidmung des Ausdrucks von der "Verkündigungsszene" (scène de l'annonciation) stets für die "Szene der sprachlichen Äußerung" (scène de l'énonciation) interessiert, die keine direkte Botschaft verkündet, sondern wortreich einen konstitutiven Mangel umkreist.

Nach Certeau ist das mystische Sprechen der Rest, der bleibt, wenn die frühneuzeitliche Gesellschaft durch eine immer leistungsfähigere Schriftkultur auf Operationalität getrimmt wird; sie ist eine Art des Sprechens, in dem, so Certeau, "das Aussagbare unablässig von etwas Unaussagbarem verletzt" wird - kein Wunder, dass das mystische Sprachspiel Affinitäten zur Literatur, vor allem zur Lyrik, aufweist. Die mystische Rede erfolgt als Selbsteinsetzung eines Sprechersubjekts und seines institutionellen Orts aus unverfügbarem Grund. Sie ist somit eine performative Geste, die von dem paradoxen Willen geprägt ist, eine letztlich unbenennbare, körperliche Erfahrung von Transzendenz zu bezeugen - das genaue Gegenteil eines selbstgewissen cartesianischen cogito.

Während die "leere" sprachliche Performanz der Mystik in der religionsgeschichtlichen Krisenzeit des sechzehnten Jahrhundert floriert, wird sie vom siebzehnten Jahrhundert an zunehmend an den Rand der kirchlichen Institution und ins Deviante, Pathologische, ins "Außen" der Wissensordnung gedrängt. Doch dies bereitet wiederum der Verbindung zwischen frühneuzeitlicher Mystik und moderner Erotik, Reiseliteratur und Psychoanalyse den Boden, mit denen sich Certeau in seinen besser bekannten Werken beschäftigt. Insofern bietet es sich auch an, die "Mystische Fabel" als fundierendes Palimpsest dessen zu lesen, was in den profanen Studien Certeaus zur Erfindung des Alltags, zur Geschichtsschreibung und zur Psychoanalyse meist unausgesprochen bleibt.

Die französische Originalausgabe der "Mystischen Fabel" enthält auf der Innenseite des Umschlags ein Detail aus Hieronymus Boschs "Garten der Lüste", das zwei Menschen in erotischer Umarmung in einer Blase zeigt, die selbst aus der Blüte einer Blume hervorzugehen scheint. Für Michel de Certeau verdichtet sich in dieser Blase der Rückzugsraum der "mystischen Fabel", ein utopischer Raum des Taktilen und der Mündlichkeit, die dem direkten interpretatorischen Zugriff entzogen ist. Es ist schade, dass diese Abbildung in der deutschen Übersetzung fehlt, denn die "Mystische Fabel" ist nicht die einzige Studie Certeaus, das sich gleichsam als Bildkommentar entfaltet und damit auch als Buch in gewisser Weise das Prinzip der Heterologie realisiert: Die Schrift wird zum Kommentar einer bildlich dargestellten Szene, der der Text von vornherein äußerlich bleiben muss. Certeaus Lektüre des "Gartens der Lüste" ist zentral für sein Verständnis der Mystik als entzogener Raum jenseits positiver Wissensordnungen. Im Zusammenhang damit ist es aufschlussreich, wie anders im deutschsprachigen Raum ein anderer Raum-Denker, nämlich Peter Sloterdijk, die Blase der Liebenden verstanden hat, wenn er im ersten Band seines Sphären-Projekts genau anhand dieses Details aus dem "Garten der Lüste" seine Theorie der autogenen Gefäße entwirft: Bei Sloterdijk mündet das Leben in einer Blase letztlich in die These von der unvermeidbaren "Selbstklimatisierung" menschlicher Atmosphären - die Existential-Anthropologie vertreibt somit die Heterologie.

Wie die Relektüre dieses Details zeigt, scheint die Deutungshoheit über die Blasen aktuell eher den positivistischen Anthropotechnikern zu gehören als den Heterologen oder Melancholikern einer verlorenen Präsenz. Was immer man gegen Certeaus radikales Heterologiedenken einwenden kann, ist die am Beispiel der Mystik veranschaulichte Heterologie doch das Konzept, das seine bleibende Bedeutung markiert: Gegenüber der Konjunktur der Präsenztechniker kann man mit ihm, wenn nicht eine bestimmte Glaubensüberzeugung, so doch die grundlegende Denkfigur eines ursprünglichen Entzugs verteidigen, der kulturelle Praktiken allererst ermöglicht und sie stets nur im Zeichen eines Ursprungs beziehungsweise eines Ziels operieren lässt, die nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht werden können.

JÖRG DÜNNE

Michel de Certeau: "Mystische Fabel".

Aus dem Französischen von Michael Lauble. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 542 S., geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Michel de Certeau lesen? Gern, aber nur mit poststrukturalistischer Rüstung, meint Barbara Stollberg-Rillinger. Ob der Autor selber dem mystischen Schreiben fröhnt, wer weiß. Der Rezensentin erscheint es manchmal so, auch weil ihr Certeaus metaphernselige Sprache in der Übersetzung eher dunkel und hölzern im Ohr klingt. Obgleich die Rezensentin das Buch als Einführung in die Mystik also nicht empfehlen kann, als Einstieg in Certeau eignet es sich. Laut Stollberg-Rillinger begegnet der Autor einem nicht als Historiker, sondern als Hermeneutiker, wenn er die großen Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts behandelt, denen der Glauben abhanden kam und die sich eine eigene Wahrheit schufen im Sprechen einer Sprache, die nur auf sich selbst verweist.

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»So wird das Werk Michel de Certeaus von seiner Geschichte der Spiritualität her verständlich: In vorzüglicher Übersetzung ist seine Mystische Fabel nun auch der deutschen Leserschaft zugänglich.« Jörg Dünne Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111031