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Individuen kann man bekanntlich daran erkennen, daß sie einen Knick in der Optik haben. Sie gewinnen allen öffentlich zugänglichen Dingen und Ereignissen einen zweiten Sinn ab, der zunächst einmal nur für sie selbst zugänglich ist. In dieser höchst persönlichen Optik mag dann etwa als Langsamkeit eines Mitmenschen erlebt werden, was dieser der Ungeduld des Erlebenden selbst zurechnen würde. Besonders konsensfähig ist diese individualisierte Art des Erlebens also nicht. Immerhin kann der Fall eintreten, daß ein anderer, statt einfach nur mit dem Kopf zu schütteln, sich in meine Weltsicht…mehr

Produktbeschreibung
Individuen kann man bekanntlich daran erkennen, daß sie einen Knick in der Optik haben. Sie gewinnen allen öffentlich zugänglichen Dingen und Ereignissen einen zweiten Sinn ab, der zunächst einmal nur für sie selbst zugänglich ist. In dieser höchst persönlichen Optik mag dann etwa als Langsamkeit eines Mitmenschen erlebt werden, was dieser der Ungeduld des Erlebenden selbst zurechnen würde. Besonders konsensfähig ist diese individualisierte Art des Erlebens also nicht. Immerhin kann der Fall eintreten, daß ein anderer, statt einfach nur mit dem Kopf zu schütteln, sich in meine Weltsicht hineinversetzt und dann sogar anfängt, sie durch eigenes Handeln zu bestätigen: Statt mir Ungeduld vorzuwerfen, handelt er selbst etwas schneller. Für die anderen ist mein Erleben dann immer noch unmaßgeblich, aber für den anderen hat es offenbar die Kraft eines starken Motivs. So wird es mir leichter gemacht, der zu sein, der ich bin.In dieser Bestätigung fremden Erlebens durch eigenes Handeln sieht Niklas Luhmann die kommunikative Grundlage dessen, was wir Liebe nennen. Sein 1982 erschienener Klassiker Liebe als Passion hatte vor allem die Ideengeschichte des Themas vor Augen. Der nun edierte Aufsatz, geschrieben 1969 als Vorlage zu einem der ersten Bielefelder Seminare Luhmanns, behandelt die Liebe ohne den Apparat des Gelehrten. Er bietet eine direkte und pointierte Darstellung der bis heute einzigen soziologischen Theorie der Liebe, die wir haben.
Autorenporträt
Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation. 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden Funktionen und Folgen formaler Organisation sowie Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: Die Gesellschaft der Gesellschaft. André Kieserling ist Professor für allgemeine Soziologie und soziologische Theorie an der Universität Bielefeld und Leiter des Akademieprojekts Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses an der Universität Bielefeld.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008

Pardon, dass wir so einfältig sind

Was weiß man, wenn man all das weiß, was Niklas Luhmann in seinem frühen Traktat über die Liebe darlegt? Es wurde soeben aus dem Nachlass publiziert.

Kann man jemandem das Lieben ausreden? Genügt der Hinweis auf das - historische, soziologische - Gewordensein des Gefühls, um es als "uneigentlich" zu "durchschauen": wahlweise als Selbsttäuschung, Wahn oder Illusion? Ist Liebe gegen ihre Erklärung immun? Kann sie durch das, was man ihre Erklärung nennt, nur verfehlt werden? Können noch so reflexiv Liebende über einen, der ihr Gefühl aufdröseln will, nur verlegen lachen und es sich weiter gemütlich machen?

Es ist ein Hochgenuss, Niklas Luhmanns kleines Bändchen über die Liebe zu lesen, ein Manuskript für ein Seminar von 1969, das jetzt im Nachlass publiziert wurde. In Händen hält man einen schönen Gegenbeleg zu der Ansicht, Luhmanns Sachen seien doch nur selbstgenügsame Theorie, mit schmächtiger empirischer Basis und entmoralisierender Allüre. Die Virtuosität, mit der Luhmann in seinem Liebes-Traktat die Theorie als prächtiges Kleid für lebensweise Assoziationen und bonmots schneidert, macht ihm keiner nach. Gerade in der überbordenden theoretischen Architektur, die er selbst um aufreizend naheliegende Befunde herum baut, gibt sich Luhmann als fundierter Theoriekritiker zu erkennen. Auch in der Hitze der Theorieküche wird nur mit Wasser gekocht, sagt er in diesem gelehrten Konzentrat, aus dem der Bestseller "Liebe als Passion" hervorging.

Tatsächlich kann man fragen: Was weiß man, wenn man all das weiß, was Luhmann über die Liebe darlegt? Was weiß man, wenn man erfährt: "Man liebt das Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann"? Oder wenn man liest: "Im übrigen ist für den Normalfall eine mehr oder weniger klischeeförmige Außensteuerung dieses auf Liebe gerichteten Liebens bezeichnend"? Oder wenn man gesagt bekommt: "Wer einen schönen Menschen liebt, kann andere und sogar sich selbst leichter von seiner Liebe überzeugen." Oder wenn es schließlich heißt: "Man kann am Morgen danach schon wieder zweifeln, ob das Liebe war." Es spricht nicht gegen Luhmann, dass man den Eindruck hat, nichts zu wissen, wenn man das alles weiß; jedenfalls nichts zu erfahren, was der konkreten Erfahrung von Liebe etwas hinzufügen oder nehmen könnte. Natürlich stimmt es, dass es "kulturelle Klischees" sind, die uns anleiten, ein Gefühl als Liebe zu interpretieren. Oder es als Liebe zu verabschieden. Aber eigentümlicherweise wird das Gefühl durch solche Erklärungen kein bisschen erhellt. Pardon, dass wir so einfältig sind: Liebende lesen Luhmann, rascheln mit den Blättern und genießen. Für die Theorie muss das kein Nachteil sein.

CHRISTIAN GEYER

Niklas Luhmann: "Liebe". Eine Übung. Herausgegeben von André Kieserling. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 95 S., geb., 8,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2009

EIN AUFSATZ
Reden ohne Unterlass
Niklas Luhmann beobachtet das Lieben
Man erkennt Soziologen an ihrem Knick in der Optik: Ganz banale Erscheinungen unseres Lebens – Schuhmoden oder platzende Hypotheken – interpretieren sie so lange, bis das Ergebnis nur noch wenig mit der menschlichen Normalwahrnehmung zu tun hat. Niemand hat diese Differenz von alltäglicher und wissenschaftlicher Beobachtung so weit ausgedehnt wie der 1998 verstorbene Niklas Luhmann. Wenn sich der Bielefelder Antihumanist („für Menschen interessiere ich mich eigentlich nicht”) ausgerechnet mit der Liebe beschäftigt, erwartet die interessierte Öffentlichkeit das Unerwartete und zeigt sich investitionsfreudig: Die Monographie „Liebe als Passion” von 1982 ist Luhmanns persönlicher Bestseller; und auch das Bändchen „Liebe – eine Übung” (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 95 Seiten, 8 Euro) verkauft sich sehr gut.
Knallrot ist der Einband des Buchs, als handele es sich um eine romantische Gedichtsammlung. Aber natürlich verklärt Luhmann nicht die Liebe, sondern erfasst mit routiniert kaltem Blick ein „kulturelles Klischee”, über das er sich gar nicht genug wundern kann. Aus der Solidarität zur Großgruppe bei den Griechen wird im ausgehenden Mittelalter die leidenschaftliche Liebe zu einer einzigen Person; dieses literarisch geformte Gefühl avanciert seit dem achtzehnten Jahrhundert zur Ehegrundlage.
Weil Liebe für Intimbeziehungen reserviert wird, fehlt sie nun anderswo, etwa im Großraumbüro oder im ärztlichen Behandlungszimmer (daher auch die oft beklagte emotionale Kälte der Moderne), die derart spezialisierte Liebe aber verstärkt sich bis zur Selbstbezüglichkeit. Man liebt nicht nur den Partner, sondern auch die Liebe selbst, oder wie Luhmann formuliert: „Setzt nicht Liebe auf den ersten Blick voraus, dass man auch schon vor dem ersten Blick verliebt war?”
Während der Einzelne für die gesellschaftlichen Teilsysteme nur als Rollenträger relevant ist – Börsenhändler, Brötchenkäufer, StVO-Sünder – wird er in der Beziehung als „ganzer Mensch” akzeptiert, das macht die Zumutungen des Alltags erträglicher. Alles Erlebte ist auch für den Geliebten relevant (deswegen muss man auch ohne Unterlass reden!). Aber wie findet man in einer hochindividualisierten Gesellschaft überhaupt noch jene Person, die eigene Vorlieben und Abneigungen teilen könnte? Und wenn geteilte Weltsicht die Basis passionierter Liebe ist, wie lässt sich verhindern, dass Geschmacks- oder Meinungsdifferenzen die gesamte Beziehung beschädigen? Liebe ist anspruchsvoll und daher höchst enttäuschungsanfällig.
Viele Rezensenten haben sich kaum mit Luhmanns Analyse moderner Paarbeziehungen beschäftigt, sondern spöttisch oder ehrfürchtig dessen systemtheoretisches Insidervokabular wiederholt. So wird das Vorurteil bestärkt, dass Luhmanns komplexe Theorie eigentlich nichts über die so genannte Realität aussage. Tatsächlich kann man gerade im sehr verständlich geschriebenen „Liebe”-Bändchen feststellen, dass Luhmann radikaler Empiriker ist.
Ohne große Vorannahmen (wie etwa Bourdieus Glaube an permanente Statuskämpfe) beobachtet er ganz schlicht, wie im Lauf der Geschichte die Möglichkeit entsteht, den Unterschied von einer Person zu allen anderen Personen zu übertreiben, wie man diesen Menschen dann lieben und ihm nicht nur Lächerliches ins Ohr flüstern darf, sondern sogar muss. Er beschreibt, wie sich Muster des Erlebens und Handelns historisch wandeln, wie Problemlösungen neue Probleme schaffen. Und so lernt man nicht nur die Liebe besser verstehen, sondern auch Luhmann. JAKOB SCHRENK
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Erfreut zeigt sich Christine Pries über dieses aus dem Nachlass stammende Buch von Niklas Luhmann mit dem Titel "Liebe". Sie warnt allerdings Romantiker und mit der Luhmannsch'en Systemtheorie unvertaute Leser vor der Lektüre, geht es in dem Buch doch keineswegs um Gefühle, was sie mit Luhmanns Bestimmung der Liebe ("Liebe übermittelt Selektionsleistungen durch Orientierung an dem individuellen Selbstverständnis und der besonderen Weltsicht eines anderen oder einiger anderer Menschen") gleich unter Beweis stellt. Wie Pries berichtet, handelt es sich bei dem Buch um einen ursprünglich als Seminarvorlage dienenden Text aus dem Jahr 1969. Luhmann-Kenner werden ihrer Einschätzung nach darin nichts Neues finden. Gleichwohl scheint es ihr faszinierend zu sehen, dass der Text in knapper Form alle zentralen Gedanken von Luhmanns Klassiker "Liebe als Passion" von 1982 bietet.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Diese kleine Studie ist neugierig, sie hat etwas Lachendes, sie ist wie für Studenten gedacht und verfasst, sie will im Seminar diskutiert werden. « Elisabeth von Thadden DIE ZEIT