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Bologna, 5. Dezember 1709: Lucia Cremonini bringt in den frühen Morgenstunden ein Kind zur Welt, das kurz nach der Geburt unter zunächst ungeklärten Umständen stirbt. Die Behörden beginnen zu ermitteln, der Verdacht auf Kindsmord bestätigt sich. Ein typischer Justizfall der frühen Neuzeit nimmt seinen Lauf. Adriano Prosperi rekonstruiert anhand der originalen Prozeßakten den Fall der Lucia Cremonini als das Drama einer unverheirateten jungen Frau am Rande der Gesellschaft. Aber es geht in diesem spannenden Buch nicht nur um ein individuelles Schicksal, sondern auch um die Frage, wie sich der…mehr

Produktbeschreibung
Bologna, 5. Dezember 1709: Lucia Cremonini bringt in den frühen Morgenstunden ein Kind zur Welt, das kurz nach der Geburt unter zunächst ungeklärten Umständen stirbt. Die Behörden beginnen zu ermitteln, der Verdacht auf Kindsmord bestätigt sich. Ein typischer Justizfall der frühen Neuzeit nimmt seinen Lauf. Adriano Prosperi rekonstruiert anhand der originalen Prozeßakten den Fall der Lucia Cremonini als das Drama einer unverheirateten jungen Frau am Rande der Gesellschaft. Aber es geht in diesem spannenden Buch nicht nur um ein individuelles Schicksal, sondern auch um die Frage, wie sich der Umgang mit dem Delikt des Kindsmordes und seine Bewertung durch Juristen, Theologen und Mediziner im Laufe der Zeit verändert haben. Denn während in der Antike Kindstötung und Abtreibung als Instrument zur Bevölkerungsregulierung akzeptiert waren und noch im Mittelalter als läßliche Sünde behandelt wurden, kam es im 17. Jahrhundert zu einem Einstellungswandel, der bis heute fortwirkt. Von nunan, so Prosperi, geriet die Furcht vor dem Kindsmord zur Obsession, Abtreibung und Kindstötung wurden zunehmend genauer definiert und das ungeborene und neugeborene Leben zu einer Sache staatlicher Kontrolle. Mit detektivischem Spürsinn und großer erzählerischer Kraft erschließt Prosperi ein bisher kaum beachtetes Kapitel europäischer Kultur- und Geistesgeschichte. Er läßt uns an der Entwicklung eines Diskurses teilhaben, der bis heute von ungebrochener Aktualität ist und dessen zentrale Frage nach wie vor lautet: Wie definiert die westliche Tradition den Beginn des Lebens?
Autorenporträt
Schulte, JoachimJoachim Schulte ist Autor mehrerer Bücher über Ludwig Wittgenstein und Mitherausgeber der Kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.07.2007

Weihwasser und Gebärmutter
Wann erhalten Menschen eine Seele? – Adriano Prosperi erzählt eine Geschichte des Kindsmordes
Eine ledige junge Frau bringt in ihrer Wohnung ein Kind zur Welt, tötet es und verhält sich still, als wäre nichts geschehen. Das Kind wird gefunden, Angehörige und Nachbarn sind entsetzt, aber niemand will etwas bemerkt haben – weder von der Schwangerschaft, noch von der Geburt, noch von dem Mord. Die Behörden ermitteln, die Frau wird verurteilt, das öffentliche Aufsehen ist groß.
Der Fall ereignete sich in Bologna im Jahre 1709, aber er kommt uns bekannt vor. In einer Zeit, in der Sexualität und Fortpflanzung entkoppelt sind, schon der Embryo im Uterus beobachtet werden kann und Schwangeren lückenlose Betreuung zuteil wird, stellt Kindsmord noch immer einen Einbruch des Archaischen und Unerklärlichen dar; er irritiert unser Vertrauen in elementare soziale Normen, medizinische Kontrolle und wohlfahrtsstaatliche Fürsorge. Kaum etwas weckt so widerstreitende Gefühle, und kaum etwas sagt so viel über eine Gesellschaft aus wie die Art und Weise, mit diesem Phänomen umzugehen: über kollektive Ängste, soziale Kontrollmechanismen, über Grundüberzeugungen vom menschlichen Leben.
Der renommierte Pisaner Historiker Adriano Prosperi erzählt die Geschichte der Lucia Cremonini aus Bologna, die, von einem Priester im Karneval geschwängert, am 5. Dezember 1709 ihren ungetauften neugeborenen Sohn umbrachte und dafür öffentlich hingerichtet wurde. Er entwickelt aus diesem bruchstückhaft überlieferten Einzelfall eine umfassende historische Anthropologie der vormodernen europäischen Gesellschaft: ihres Umgangs mit Sexualität und Schwangerschaft, Geburt und Tod, Leib und Seele, männlicher und weiblicher Ehre, Schuld und Sühne. Der Einzelfall soll aber nicht bloß als Exempel vorgeführt werden. Im vollen Bewusstsein der methodischen Schwierigkeiten will Prosperi dem Individuum gerecht werden und verstehen, „was diese Person zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens getan, gedacht und empfunden hat”. Lucia Cremonini sollen Anteilnahme und Gerechtigkeit widerfahren – auch wenn es kaum gelingt, ihre individuelle Persönlichkeit aus den Akten zum Leben zu erwecken.
Prosperi beschreibt den Kindsmord als die Obsession der christlichen Gesellschaft. Der Geburtsvorgang als Extremfall einer geheimnisvollen, gefährlichen und tabubesetzten Grenzsituation machte ihn zum Gegenstand massiver Ängste. Wie einst die Urchristen selbst, so zogen sich später die vermeintlichen Feinde der Christenheit – Juden, Ketzer und Hexen – den Ruf zu, Kindsmörder zu sein. Für ihre Rituale benötigten sie die Körper ungetaufter Kinder, die als undefinierbare Zwischenwesen ohne Seele dem Teufel ausgeliefert waren und über magische Qualitäten verfügten. „Die Gabe der Seele” – mit dem Titel ist die populäre Vorstellung gemeint, erst durch das Taufsakrament erhalte die neugeborene Kreatur eine unsterbliche menschliche Seele und werde zu einem individuellen Wesen mit einem Namen und einer unverwechselbaren Identität.
Die Kernthese Prosperis lautet, dass es im Mittelalter eine allgemein verbreitete, stillschweigend tolerierte Praxis der Abtreibung und Tötung Neugeborener gegeben habe, die erst im Laufe der frühen Neuzeit zunehmend kriminalisiert worden sei. In der grausamen Mutter, die ihre Kinder tötet, sieht er eine fixe Idee vor allem der katholischen Kultur nach dem Trienter Konzil, die sich von den Protestanten moralisch unter Druck gesetzt fühlte. Die schärfere Durchsetzung des Zölibats habe weitreichende soziale Auswirkungen gehabt: Die von Priestern geschwängerten Frauen durfte es nicht geben; sie mussten sozial ausgegrenzt, es mussten Findelhäuser eingerichtet, aber vor allem Abtreibung und Kindstötung strenger bestraft werden. Die Sünde verwandelte sich in ein – genuin weibliches – Verbrechen, an die Stelle der Kirchenbuße trat die Todesstrafe. Auf ganzer Linie drangen die Obrigkeiten in die Sphären von Sexualität, Zeugung, Schwangerschaft und Geburt ein.
Verschärfung der Taufpflicht
Hand in Hand damit ging nach Prosperi ein neuer, intensiver Diskurs über die Seele. Antike Philosophen und Kirchenväter hatten dazu unterschiedliche Positionen eingenommen. Nach aristotelischer Lehre war es allein der männliche Samen, der als formatives Prinzip der mütterlichen Materie bei der Empfängnis die Seele verlieh. Mit Augustinus setzte sich die Lehre durch, dass der Fötus stufenweise zuerst mit vegetativer, dann tierischer und zuletzt vernünftiger, menschlicher Seele begabt werde – also erst dann, wenn der Körper die Form des Menschen als Gottes Ebenbild angenommen hatte. Bei männlichen Ungeborenen war das nach vierzig, bei weiblichen erst nach achtzig Tagen Schwangerschaft der Fall – mit entsprechend unterschiedlichen Konsequenzen für die Bewertung der Abtreibung.
Diese Vorstellung veränderte sich im Laufe der frühen Neuzeit. An die Stelle mehrerer Seelen trat die eine, individuelle, unsterbliche Seele, die dem Körper am dritten Tag nach der Empfängnis von Gott eingeflößt wird und schon dem Embryo die Qualität einer Person verleiht. Damit ging die Seele nun der körperlichen Form voraus. Prosperi beschreibt das als theologischen und zugleich medizinischen Paradigmenwechsel von größter Tragweite: Die Gestalt des Körpers hörte auf, ein Kriterium für das Wesen des Menschen zu sein. Abtreibung ebenso wie die Tötung von missgestalteten Neugeborenen wurden seither von der Kirche rigoros verurteilt.
Das Taufsakrament war das Mittel, den Seelen den Weg zum Heil zu öffnen. Schon das IV. Laterankonzil von 1215 hatte das menschliche Leben durch ein festes System sakramentaler Übergangsriten geregelt und dem Heilsmonopol der Kirche unterstellt. Im 15. Jahrhundert hatte man die Lehre von der ewigen Verdammnis aller Ungetauften durchgesetzt. Seither wurde, so Prosperi, die Taufpflicht zunehmend verschärft und kontrolliert. Ungetaufte Kinder hatten keinen Ort in der Gesellschaft der Lebenden und der Toten. Sie durften nicht in geweihter Erde beigesetzt werden, ihnen war die ewige Seligkeit versperrt, sie hielten sich in einem Schwebezustand jenseits von Gut und Böse, dem Limbus, auf, von wo sie als Geister auf die Erde zurückkehren konnten.
Die Angst um das Schicksal der ungetauft gestorbenen Kinder wuchs und führte zu einer Reihe bizarrer sakramentaler Praktiken. Man konstruierte Geräte zur Einführung des Weihwassers in die Gebärmutter, diskutierte die Notwendigkeit, im Zweifelsfall den Mutterleib zu öffnen und den Tod der Mutter in Kauf zu nehmen, um das Kind rechtzeitig taufen zu können, und suchte Wallfahrtsstätten auf, wo die Verstorbenen für die Dauer der Taufe kurzfristig zum Leben erweckt wurden.
Das kirchliche Lehramt verhielt sich zu solchen Praktiken tendenziell ablehnend. Aber die beunruhigenden Fragen, was das Wesen der Seele sei, woher sie komme, wo sie im Tod bleibe und wie man ihr helfen könne, waren Gegenstände eines überaus vielstimmigen Diskurses, in dem auch die katholischen Theologen nicht mit einer Stimme sprachen.
Das letzte Kapitel des Buches widmet sich dem Ende der Kindsmörderin und dem Auseinandertreten von Körper und Seele im Tod. Prosperi beschreibt Vorbereitung und Vollzug der Hinrichtung als vollkommen komplementäres Geschehen: Der vollständigen Heilung ihrer Seele entsprach die Vernichtung ihres Körpers. Mitglieder einer Marienbruderschaft sorgten dafür, dass die Delinquentin Buße tat und an der Wiederherstellung der Rechtsordnung durch ihr bereitwilliges Sterben aktiv mitwirkte. Der Körper wurde anschließend in einem öffentlichen Spektakel seziert. Damit schließt sich für Prosperi der Kreis: Auch der Tod konnte – wie in diesem Fall – „die Gabe der Seele” sein.
Metaphysik und Macht
Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Es ist barock und ausschweifend, oft faszinierend und manchmal bizarr, vielfach redundant und dabei doch überaus raffiniert. Der Verfasser bewegt sich assoziativ und souverän kreuz und quer durch die gesamte abendländische Geistes- und Kulturgeschichte, allerdings mit erheblich größerer Kompetenz für den katholischen Süden als für den protestantischen Norden. Seine moralische Emphase trübt ihm dabei gelegentlich den Blick. Da ist die Rede von finsterer Moral, klerikaler Sexualphobie, alltäglichem Inzest, hexenden Hebammen, engmaschigen Überwachungsnetzen, repressiven Gesetzen und allgegenwärtigen Greuelstrafen.
Das aber heißt die zeitgenössischen Phantasmen allzu wörtlich nehmen und die tatsächliche Effizienz der vormodernen Staatsgewalt bei weitem überschätzen. Die historische Spezialforschung hat längst herausgefunden, dass der Vernichtungsfeldzug der Obrigkeiten gegen das Verhütungswissen der Hexen-Hebammen ein modernes Märchen ist. Ebenso klar nachgewiesen ist inzwischen, dass grausame Exempelstrafen nur in wenigen Ausnahmefällen verhängt, geschweige denn vollzogen wurden. Kurzum: Man hat den Eindruck, dass Prosperi den Obsessionen seiner Quellenautoren näher steht, als für eine historische Untersuchung gut ist – auch wenn das seine Erzählung zweifellos effektvoller und spektakulärer macht.
Prosperis Anliegen ist klar: Es geht ihm darum, deutlich zu machen, dass metaphysische Konzepte wie das der Seele nicht jenseits von sozialen und politischen Machtkämpfen angesiedelt sind. Sie lassen sich darauf aber auch nicht reduzieren. Die Fragen, die eine Kindstötung aufwirft – worin bestehen Wesen und Wert des menschlichen Lebens, wann beginnt und wann endet es? – sind heute zwischen Philosophen und Theologen, Politikern und Medizinern genauso umkämpft wie im 17. Jahrhundert. Dass von der Empfängnis bis zum Tod alles dem Licht wissenschaftlicher Erkenntnis ausgesetzt ist, macht es keineswegs leichter, diese Fragen zu beantworten. BARBARA STOLLBERG-RILINGER
ADRIANO PROSPERI: Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmordes. Aus dem Italienischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 517 Seiten, 32,80 Euro.
„Einflößung der Seele in den Körper des Embryos” aus dem Liber Scivias (1141- 1151) der Hildegard von Bingen Foto: Lessing, Faksimile nach dem Rupertsberg Codex/Suhrkamp Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Barbara Stollberg-Rilinger hat sich durch dieses "barocke" Buch gekämpft. Was der Historiker Adriano Prosperi anhand eines Einzelfalles entwickelt ("eine umfassende historische Anthropologie der vormodernen europäischen Gesellschaft") findet sie achtenswert. Ebenso, dass der Autor dem historischen Personal um einen Kindsmord im Jahr 1709 mit gerechter Anteilnahme begegnet. Die Aufmerksamkeit der Rezensentin gilt jedoch der Kernthese des Autors, die Abtreibung als eine im Mittelalter übliche Praxis auszuweisen, die erst in der Neuzeit "kriminalisiert" und von einem "intensiven Diskurs über die Seele" begleitet worden sei. Prosperis "assoziativ" gestaltete Ausführungen sieht Stollberg-Rilinger als faszinierenden bis bizarren, mitunter redundanten, aber "überaus raffinierten" Gang durch die Geistes- und Kulturgeschichte des Abendlandes. Schade nur, meint sie, dass dem Autor seine "moralische Emphase" gelegentlich den Blick verschleiert und er den Obsessionen der Quellenautoren zu nahe kommt. Anderenfalls, glaubt die Rezensentin, hätte er feststellen können, dass Fragen die Seele betreffend heute noch genauso umstritten sind wie 1709.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit ungeheurer Gelehrsamkeit rekonstruiert Adriano Prosperi, zwischen welchen Schreckbildern der Sünde und handfesten sozialen Nöten die Menschen der frühen Neuzeit hin- und hergerissen waren. Ein Musterstück fesselnder Kulturgeschichte in bester italienischer Tradition.« DER SPIEGEL