Marktplatzangebote
11 Angebote ab € 3,50 €
  • Broschiertes Buch

Rafael Horzon - Möbelmagnat, Originalgenie und Apfelkuchentycoon. Als Student und Paketfahrer gescheitert, baute er über Jahre hinweg das modocom-Imperium auf: Modelabel, Partnertrennungsagentur, Nachtklub, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel - eine bahnbrechende Idee jagte die nächste, und jedes Projekt sorgte für enormes Aufsehen: Mit einem Föhn begeisterte er die Kunstwelt, mit der Kopfkrawatte revolutionierte er die Welt der Mode und schaffte es, mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter vollständig vom Markt zu verdrängen. Auf dem Höhepunkt seines an…mehr

Produktbeschreibung
Rafael Horzon - Möbelmagnat, Originalgenie und Apfelkuchentycoon. Als Student und Paketfahrer gescheitert, baute er über Jahre hinweg das modocom-Imperium auf: Modelabel, Partnertrennungsagentur, Nachtklub, Fachgeschäft für Apfelkuchenhandel - eine bahnbrechende Idee jagte die nächste, und jedes Projekt sorgte für enormes Aufsehen: Mit einem Föhn begeisterte er die Kunstwelt, mit der Kopfkrawatte revolutionierte er die Welt der Mode und schaffte es, mit der Erfindung des perfekten Buchregals einen schwedischen Möbeldiscounter vollständig vom Markt zu verdrängen. Auf dem Höhepunkt seines an Ereignissen nicht armen Lebens hält er inne und blickt zurück. Und siehe da: Horzon erweist sich auch noch als überaus charmanter und intelligenter Erzähler seiner selbst.
Autorenporträt
Rafael Horzon studierte Philosophie, Latein, Physik und Komparatistik in Paris, München und Berlin, bevor er sich 1995 zum Paketfahrer der Deutschen Post ausbilden liess. Ab 1996 Gründung zahlreicher Unternehmen. 2010 erschien seine Autobiografie Das Weisse Buch. Rafael Horzon lebt und arbeitet in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.10.2010

Der Lebensschock

Was sagt die deutsche Literatur heute über unser Land? Manche Romane benehmen sich wie Sachbücher, mit anderen geht es mitten hinein ins blühende Brandenburg, in eine ostdeutsche Kindheit, westdeutsches Seniorenfernsehen und vor allem in die Wahrheit der Literatur.

Von Volker Weidermann

Plötzlich: eine schwarze Seite. Das ist so ein genialer Moment beim Lesen der neuen deutschen Bücher in diesem Herbst. Nur Bleistiftschraffur, daneben ein Totenkopf und ein Wort: "Memento!"

Unter der Schraffierung ahnt man weitere Buchstaben, aber der Autor wollte sie verschwinden lassen. Auf dieser Seite sollte Schweigen sein. Schwarze Striche. Tod. Es ist eine Seite aus den Kriegstagebüchern Ernst Jüngers, die in diesen Tagen erstmals publiziert werden: der Rohstoff seines Kriegsbuches "In Stahlgewittern", und diese schwarze Seite aus dem Tagebuch findet sich natürlich nicht in dem für die Öffentlichkeit umgearbeiteten, in Literatur transformierten Stahlgewitter-Buch. Es war der 28. Dezember 1915, ein Granateinschlag hatte dem niemals wortlosen, großen Selbststilisierer für einen Moment die Sprache geraubt. So sieht es zumindest aus.

Dieser schwarze Moment ist eindrucksvoller als jede detaillierte Schreckensbeschreibung. Bleistiftstriche. Leere. Soldat Jünger schweigt. Mühsam findet er zu den Worten zurück: "Als ich von diesem furchtbaren Schrecken noch zitternd, nach dem Unterstand von Pook und Plak zustrebte, platzte bei der Kirche ein ganz schweres Shrapnell, das einen Pionier bis zur Unkenntlichkeit auseinanderriß und eine Salve von Splittern durch die Weißbuchenhecke schleuderte, an der ich eben langging. Doch was war das gegen den eben gehabten Schrecken? Un jeu d'enfant!"

Ein Kinderspiel lässt sich beschreiben. Ein Lebensschock nicht. Gibt es eine Sprache für die Wirklichkeit? Ist das überhaupt die Aufgabe von Literatur? Ist die Literatur nicht gerade der Fluchtort vor dem Alltagsterror der Wirklichkeit? Wie wirklich soll es denn noch werden? Die Antwort ist: noch viel wirklicher. Die Literatur muss wirklicher als die Nachrichtenwirklichkeit sein, als die Vernunftwirklichkeit, die Durchschnittswirklichkeit. "Schreib Dich nackt!" Dies schrieb der amerikanische Essayist David Shields in seinem aufsehenerregenden Manifest "Reality Hunger", das vor einigen Monaten in Amerika herauskam. In 618 Punkten fordert er stakkatoartig Bücher für Menschen, die Fernsehen zu langsam finden. Schnellere Bücher, Bücher, die der Realität standhalten, die die Realität von heute in neuer Weise beschreiben.

Ein wenig wundert man sich über das große Pathos, mit dem die zusammengeraubten Thesen hier herausgebellt werden. Manifeste, wie etwa die der "Neuen Sachlichkeit", aus denen sich Shields freudig bedient, sind ja nun schon bald hundert Jahre alt. Aber es ist doch schön, zu sehen, wie wenig etwa Sätze Joseph Roths altern, diese hier: "Es handelt sich nicht mehr darum zu dichten. Das wichtigste ist das Beobachtete." Und dass Roth selbst sich in seinem späteren Leben und Schreiben von diesen Sätzen und der ganzen Sachlichkeit distanzierte, macht sie noch lange nicht falsch.

Im Gegenteil. Mehr denn je muss man sich in der Literatur unserer Zeit durch jede Menge Kunstwillen, Willen zur Stilisierung, Selbststilisierung und Kunstnebel hindurchkämpfen, bis man zu den Büchern gelangt, die etwas zu erzählen haben, die nicht Nebel werfen, um wichtig zu erscheinen, sondern einen radikalen Blick wagen - auf sich selbst und auf die Welt. Sprengstoffbücher! "Ich möchte mein Thema wie einen Bombengürtel tragen, mich mit ihm in die Luft jagen. Anders gelingt mein Roman zur Mutter nicht", heißt es im radikalsten, besten deutschen Roman dieses Herbstes, Peter Wawerzineks "Rabenliebe".

Die Welt der Politik hat ein Leben entzweigerissen, und da liegt es nun, das Leben, und muss gelebt werden. Die Geschichte einer Besessenheit, einer lebenslangen Suche: Es ist Peter Wawerzineks Lebensgeschichte. Als kleiner Junge hatte ihn seine Mutter allein in einer Wohnung in der DDR zurückgelassen, sie war in den Westen geflohen. Er wird gefunden, lebt im Kinderheim, dann bei wechselnden Adoptiveltern, die ihn wieder zurückgeben oder auch nicht. Ein hin und her gewirbeltes Leben, eine verrückte, traurige Geschichte. Beim Aufschreiben hätte man alles falsch machen können, und Wawerzinek hatte diese Geschichte auch schon einmal aufgeschrieben, damals völlig ohne Erfolg. Jetzt hat er die Sprache dafür gefunden. Eine Sprache, die von Rührseligkeit ebenso weit entfernt ist wie von scheinobjektiver Nachrichtensprache. Die Sprache seiner Wirklichkeit, gegen jede sogenannte Vernunft: "Die Vernunft lehnt sich gegen die Wirklichkeit auf. Eine schändliche Neigung ist die Vernunft. Kein größeres Laster gibt es in unserer Welt als den Hang zur Vernunft. Kein größeres Übel weiß ich." Mit diesem Sprengstoffgürtel gegen die Vernunft schreitet Wawerzinek durch seine Lebensgeschichte. Dinge, die unwahrscheinlich erscheinen, wie etwa, dass er in einer schwarzen Limousine aus seinem DDR-Kinderheim abgeholt wurde, bleiben wahr, weil er sich genau so erinnert.

Haut ab, ihr anderen, mit eurer angeblichen Geschichtswahrheit! Es kommt immer auf die Suggestivkraft der Sprache an, ob die Sprengkraft des Vernunftzerstörungsgürtels ausreicht, um eine eigene, neue Wirklichkeit zu erschaffen. Bei Wawerzinek reicht sie unbedingt. Erst lange nach dem Mauerfall reist er hinüber in den Westen, in den Teil des Landes, der ihm seine Mutter geraubt hat, unterwegs zu seiner Mutter, nach all den Jahren. Es ist die leiseste Stelle im Buch: "Mit meinem Wagen auf die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland zufahrend, weiß ich nicht, warum mir die Tränen kommen, ich die Welt vor mir verschwommen sehe, welche unscheinbaren inneren Regungen mich während der Durchfahrt ergreifen."

Der Reporter Moritz von Uslar ist in der Gegenrichtung unterwegs, von West nach Ost. Und alles andere als leise. "Deutschboden" heißt sein Buch, im Untertitel "Eine teilnehmende Beobachtung". Er hat sich eine sonderbare Weltreise vorgenommen: Von Berlin-Mitte nach Brandenburg, vom irre schicken Champagner-Steak-Club-Restaurant der Lebens-Insider zur Kümmerling-Kneipe der Lebens-Outsider in einem Ort, den der Reporter Oberhavel nennt, in der Wüste Brandenburgs. Mit dem Auto ist es nur eine Stunde von hier nach dort. Doch die beiden Orte könnten einander nicht ferner sein. Uslar weiß, dass er nichts von dieser fernen, nahen Welt weiß, dass es ausschließlich Klischees sind, die er über die Bewohner dieses Landstrichs kennt: Nazis, Assis und Hartz IV, Hoffnungslosigkeit und Öde. So ist es doch, dieses ferne Brandenburg. Ist es so? Uslar fährt los, den Klischees hinterher.

Leider macht er es den Lesern zu Beginn schwer, ihm zu folgen, weil er selbst als ein Klischee durch sein Buch hindurchläuft. Die penetrante Selbstbezeichnung als "der Reporter" und "der Mann mit Hut" treibt den Leser nach relativ kurzer Zeit in den Wahnsinn. Kommen ihm die Ostdeutschen mit ihren gefürchteten Ost-Themen, kommentiert der Reporter sich so: "Als Reporter mit Hut musste ich mich auch um diese kümmern. Nützte nichts. Ich musste tapfer weiterfragen." Oha - wozu man heutzutage schon Tapferkeit benötigt! Dabei wird daraus im weiteren Verlauf noch ein herrliches Buch.

Weil Uslar eben wirklich total anderes findet und sieht als Armutsklischees, Hässlichkeit, Glatzköpfigkeit. Weil er Partys feiert, zum Boxen geht, trinkt, nachts mit 15o und ohne Licht über Landstraßen fährt, sich einlässt und sich beinahe, ja, verliebt, in die Jungs dort, aus Oberhavel. Und die Welt sieht plötzlich so überraschend anders aus, wie auf den Bildern Ostdeutschlands von Tobias Zielony, von denen Sie eins hier auf der Seite sehen. Irre schöne Momente gibt es in Uslars Buch, zum Beispiel beim Anblick eines Tattoos am Hals eines plötzlichen Freundes: Dort "konnte ich mehr Lebendigkeit, mehr Würde, Trotz und Kraft erkennen - ein großartiges Anherrschen der Welt und ihrer Grenzen - als in den Gesichtern der meisten erfolgreichen Großstadtmenschen, die ich kannte." Und wenn der Großgeldbesitzer staunend offenbar zum ersten Mal einem Menschen begegnet, der den ganzen Tag arbeitet und dabei weniger als den Hartz-IV-Satz verdient, da ist das eben keine blöde, langweilige Nachricht, sondern ein Erkenntnisblitz, der das Gesetz für einen bundesweiten Mindestlohn poetisch-ultimativ einfordert.

Immer weiter befreit sich Uslar von den Fesseln seiner Vorstellungen. Und auf der allerletzten Seite wird ihm sogar sein Klischee vom Kopf genommen.

"Kunst ist nicht Wahrheit", heißt Punkt 82 in "Reality Hunger"; "Kunst ist eine Lüge, die uns ermöglicht, die Wahrheit zu sehen." Ein Satz, der dem Tischler Rafael Horzon sicher ausgezeichnet gefallen hätte, der vor zwanzig Jahren von München nach Berlin-Mitte kam und entsetzt eine Stadt entdeckte, in der von jungen Menschen ausschließlich Kunst hergestellt wurde. Und in der die Wirklichkeit, Horzon nennt es Arbeit, den Menschen in ihrem Kunst-Delirium völlig aus den Augen geraten war. Er setzte dagegen auf Regalbau. Hat nun die Geschichte seines Lebens geschrieben und legt ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass "nichts an diesem Buch erfunden ist". Shields hat recht: So weit ist das Ansehen des Romans also gesunken, dass man sich als seriöser Sachbuchautor schon vor dem Romanverdacht schützen muss.

Oft fehlt es den Romanautoren einfach an Neugierde, oft an Bereitschaft für den neuen Blick. Oder an Wut. Wie sie zum Beispiel die ewig großartige achtundsiebzigjährige Gabriele Wohmann in ihren neuen Geschichten unter dem Titel "Wann kommt die Liebe" beweist. Ja, ihr Ton ist immer der gleiche, seit Jahrzehnten schon. Aber die Wut und Verstörung und Schonungslosigkeit ihrer Geschichten nehmen mit dem Alter zu. Existenzliteratur des höheren Alters: Eine Frau in einer katastrophalen Notsituation in einem Drogeriemarkt, zwei greise Schwestern planen eine innere Revolution gegen ein Fernsehprogramm, in dem sie nicht vorkommen. Ein Leben, das sie vergessen hat. Vor sich hin klagend, ermutigen sie sich: "Versuchs nicht mit Anpasserei und denke an das, was dir gefällt, frag deinen Kreislauf."

Radikalität am anderen Ende der Alterspyramide hat der junge Autor Marcel Maas geschrieben.

Fortsetzung auf Seite 35

Er ist dreiundzwanzig, kommt aus Oberhausen, hat an der Dichterschule von Hildesheim studiert, und seine Debüt-Erzählung "Play. Repeat.", die er selbst ein "Prosa-Set" nennt, liest sich überraschend unschreibschulig. Ja, auch hier wird die Wirklichkeit verschoben. Es geht um Tanz, um Samples, Drogen und Musik, es beginnt etwas irritierend, so, als wäre ein alter Herr in einen Jugendsprachtopf gefallen und würde nun wahllos mit angelsächsischen Musikwörtern wie "Fade out - Fade in" um sich werfen. "automatische feelings überall". Aber die Geschichte findet rasch zu sich, der Ton ist aggressiv, mal verloren, suchend. Vier Freunde verlieren den Boden unter den Füßen, verlieren jede Haftung an einen Lebensgrund. Es ist ein tanzender Abschied von einer Kinderwelt, Aufbruch in ein Neues: "Wir tanzen und sehen der Welt beim Wachsen zu." Und schreiben mit.

"Ein Hellboy muß umarmen", schreibt Peter Handke in seinem hyperdunklen Aufwachbuch "Ein Jahr aus der Nacht gesprochen", in dem er jeden müden Morgen einen plötzlichen neuen Satz notiert hat. Und an einem andren Tag: "Dem Text geht es nicht gut." Das hat sich der Weltnotierer Rainald Goetz vielleicht auch gedacht und hat seinen Verlag gebeten, einen schönen blauen Umschlag um das Fotoalbum mit den Bildern seiner Freunde zu binden. Das hat Suhrkamp gerne gemacht. Es wird viel getanzt in dem Buch "elfter september 2010". Der Reporter mit Hut kommt auch drin vor. Leider ohne Hut.

Und dann ist da noch dieses verrückt-schöne Debüt der dreiundzwanzigjährigen Mariam Kühsel-Hussaini mit dem Titel "Gott im Reiskorn". Die Autorin wurde in Kabul geboren, sie lebt heute in Berlin. Sie erzählt die Geschichte einer alten Kalligraphenfamilie aus Kabul, die ein junger deutscher Kunsthistoriker aus Berlin besucht. Er wird in die Zauberwelt der orientalischen Poesie eingeführt und erliegt dem Taumel dieser neuen Welt. Hussaini verfügt über eine ungeheure Sprachkraft. Sie verschwendet sie oft, verrutscht in Kitsch und übergroße Blumigkeit. Aber dass das Werk insgesamt glaubwürdig und stimmig und für Leser des Westens unbedingt neu erscheint, liegt an der genauen Kenntnis der Autorin von den Gegenständen, über die sie schreibt. Es ist ihre Familiengeschichte. Über den jungen Kunsthistoriker auf Besuch kann man lesen: "Jakob war sich nicht mehr ganz sicher, ob das, was er eben noch über die Wirklichkeit dachte, nicht doch längst schon wieder ein Schweben im Unmöglichen war."

Sie selbst scheint sich meist traumwandlerisch sicher in ihrem Schweben zwischen den Welten, zwischen den Wirklichkeiten und den Möglichkeiten. Am Ende ist es ein Abschied von einer untergehenden Welt und ein Klageruf: "Die Welt vergisst gern, und solch ein Vergessen ist der Tod. Welche Glocke soll man dann noch läuten, welche Banner noch schwenken, wenn alles abgerissen ist?"

So schön klang selten eine Welt aus. Und eine neue, eine andere Wirklichkeit scheint auf.

Mariam Kühsel-Hussaini: "Gott im Reiskorn", Berlin University Press, 315 Seiten, 22,90 Euro. Gabriele Wohmann: "Wann kommt die Liebe", Aufbau, 224 Seiten, 19,95 Euro. Peter Wawerzinek: "Rabenliebe", Galiani Berlin, 428 Seiten, 22,95 Euro. Marcel Maas: "Play. Repeat.", Frankfurter Verlagsanstalt, 124 Seiten, 17,90 Euro. Moritz von Uslar: "Deutschboden", Kiepenheuer & Witsch, 378 Seiten, 19,95 Euro. Peter Handke: "Ein Jahr aus der Nacht gesprochen", Jung und Jung, 216 Seiten, 20 Euro. Rainald Goetz: "elfter september 2010", Suhrkamp, 224 Seiten, 34,90 Euro. Rafael Horzon: "Das weisse Buch", Suhrkamp, 216 Seiten, 15 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.10.2010

Die uneinträgliche Leichtigkeit des Seins
Unternehmerbiographie im Spaziergängerparlando: Rafael Horzons Nichtkünstlerabhandlung „Das weisse Buch“
Endlich mal wieder ein Buch, nach dessen Lektüre das ganze Leben leichter wirkt. Dazu noch ein Sachbuch. Oder ist es doch ein Roman? Eine Autobiographie? Egal, jedenfalls blickt man sich nach der Lektüre verwundert im eigenen Alltag um und versteht für einen Moment lang gar nicht, warum man sich die ganze Zeit derart viele Sorgen macht.
Wobei es nicht allen Lesern so zu gehen scheint: Im Internet gibt es ziemlich verständnislose, zuweilen auch wütende Reaktionen auf das „Weisse Buch“. Auf Talkteria.de schimpft jemand, die ganze Geschichte sei doch erfunden, und „wahrscheinlich gibt es den Menschen Horzon gar nicht wirklich“. Das wird dem Menschen Rafael Horzon, den es sehr wohl gibt, sicherlich gefallen haben. Schließlich erzählt er zur Zeit selber allen, die es hören wollen, dass gar nicht er, sondern Helene Hegemann sein Buch geschrieben habe. Für diese Theorie spricht, dass Hegemann kürzlich in Horzons „Sach- und Fachbuchhandlung“ in der Berliner Torstraße ein Praktikum absolviert hat. In dem Laden wird ein einziges Buch verkauft, sein eigenes, und es gibt ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Horzon die junge Autorenkollegin einführt in die Kunst der professionellen Buchanpreisung, sie solle den Kunden „in ein Beratungsgespräch verwickeln und ihm zeigen, dass da Bilder drin sind, alles so Dinge, die ein guter Buchhändler auch so macht.“  
Also gut. Hier erst mal ein Beratungsgespräch. „Das Weisse Buch“ ist ein Schelmenroman über die Berliner Szene, eine Unternehmerbiographie und eine Abhandlung darüber, was heute noch Kunst sein kann. Gleichzeitig macht es sich permanent über all diese Genres lustig. Die vielen Lateinzitate erinnern den, der’s mag, an Eichendorffs „Leben eines Taugenichts“. Das Leben dieses Taugenichts kommt in Ich-Form und in bewundernswert leichtem Spaziergängerparlando daher und setzt im Studium in Paris, im Seminar von Derrida ein.
Nach einer ganz kurzen Station im erzlangweiligen München geht der erfrischend größenwahnsinnige Ich-Erzähler nach Berlin, in die Stadt, in die Anfang der neunziger Jahre alle strömten, die irgendwas mit Kunst machen wollten. Er selbst macht zunächst Kunst mit irgendwas: Er eröffnet die Galerie Berlintokyo und stellt dort japanische Künstler aus, die es gar nicht gibt. Mal werden Chipstüten an die Wand genagelt, mal Haushaltsutensilien aus Horzons Küche ausgestellt und zu Kunst erklärt. Als die Kunstschickeria darauf einsteigt und Berlintokyo zur Documenta eingeladen wird, sagt Horzon nicht wie die meisten: geil, endlich geschafft. Stattdessen wundert er sich, dass der Betrieb auf solchen Quatsch noch immer reinfällt, schließt umgehend die Galerie und macht das Antizyklischste, was man im Berlin-Mitte der Neunziger machen konnte. Er wird Unternehmer. Im Folgenden setzt er mit Verve, Aplomb und unerschütterlichem Selbstbewusstsein eine Geschäftsidee nach der anderen in den Sand, gründet idiotische Dienstleistungsbetriebe wie die Trennungsagentur Separitas, widmet sich mit Redesign Deutschland einer umfassenden Verbesserung aller Lebensverhältnisse, nimmt am Wettbewerb zur Neugestaltung von Ground Zero teil, gründet ein Geschäft für Apfelkuchenhandel, designt für sein Modelabel Gelée Royale die Kopfkrawatte und schreibt ein Buch mit dem Titel „Der Dritte Weg“. Das Schicksal dieses Buches ist symptomatisch für die meisten seiner Aktionen: „Es verkaufte sich in der ersten Woche zehnmal, dann brach der Absatz dramatisch ein.“ 
Die psychischen und finanziellen Rückschläge, die oftmals in eins fallen, führen immer wieder zu extremen Notsituationen: „Wochenlang ernährte ich mich aus Geldnot nur von Eiweißpulver und Haferflocken, die ich, um teures Wasser zu sparen, trocken miteinander vermengte und einatmete.“ Glücklicherweise aber ist der Held dieses Buches mit einem wohltemperierten Gemüt ausgestattet. Er bricht zwar nach jedem Scheitern jäh in Tränen aus. Das aber scheint jeweils purgierende Wirkung zu haben: Zwei Sätze später schreitet er jeweils wieder frischen Mutes ins Leben aus, immer mit dem Ziel, reich und berühmt zu werden.
Was ihm mit zwei seiner Projekte auch gelingt: Zum einen ist da die 1997 gegründete Akademie der Wissenschaften, an der man durch Teilnahme an vier Vorträgen zu Themen wie „Schabrackentapir – Säuger des Dschungels“, „Hüftgelenkoperationen in Indien“ oder „Brutalistische Architektur“ ein ganzes Studium absolvieren kann. Und in seinem Ladengeschäft Moebel Horzon baut er ab 1997 das „formschöne Regal Modern“, das er auch selbst ausfährt, oftmals zusammen mit seinem Praktikanten Christian Kracht. Die Uni macht ihn in Berlin-Mitte weltberühmt. Der Laden wirft zumindest so viel Geld ab, dass Horzon nicht mehr Haferflocken essen muss.
Bei der Eröffnungsparty dieses Ladens fragt ein Student irritiert, ob das ein echter Laden sei oder nicht doch eher Kunst. Genau derselbe Effekt stellt sich natürlich beim Lesen dieses Buches ein. Ist das nicht alles nur erfunden? Den Studenten nimmt Horzon freundlich beiseite und erklärt ihm, dass heutzutage „natürlich alles, was ein Mensch zu Kunst erklärt, auch tatsächlich Kunst ist. Aber genauso gut ist alles, was ein Mensch nicht zu Kunst erklärt, keine Kunst. Und wenn ich diesen Möbelladen nun nicht zu Kunst erkläre, sondern zu einem Möbelladen, dann ist er natürlich auch keine Kunst, sondern ein Möbelladen.“
Einer von Rafael Horzons Hausgöttern ist seit mehr als 20 Jahren Marcel Duchamp. Duchamp, der zu Brancusi auf der Luftfahrtschau 1912 sagte: „Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?“ Duchamp, der mit seinem Flaschentrockner alle Kunst zum alten Eisen warf. Duchamp, für den ästhetische Erfahrung fortan gleichzusetzen war mit immer neuen Welt- und Selbstentwürfen und der sagte, es sei „von allergrößter Wichtigkeit, sich über die Eigenart des Lebens als Spiel klar zu werden“. Horzon macht ernst mit dem Spiel. Oder wie er selber sein merkwürdiges Treiben einmal Hans Ulrich Obrist gegenüber definiert: „Das ist ungefähr mein Beruf: Interessante Dinge tun, die keine Kunst sind.“ Das ist der zutiefst irritierende, der nicht wirklich stillzustellende Kern. Alle paar Seiten will jemand Horzons Projekte zur Kunst erklären, eine weinrote Kordel spannen zwischen das Leben und das jeweilige Projekt, und es damit gewissermaßen abheften, ach so, Kunst, na dann. Horzon aber weigert sich, hinter diese Kordel zu treten.
So aber stellt er mit diesem Buch, dessen tieferer Witz gerade darin liegt, dass die allerunwahrscheinlichsten Dinge darin tatsächlich stattgefunden haben, unser aller Leben, das ängstliche Scheine- und Diplomsammeln, den ganzen öden Pragmatismus in Frage. Warum nur beharren wir so darauf, immer schön auf dem Teppich zu bleiben, wenn der doch nur steingraue Auslegware ist, statt wie Horzon den „Dritten Weg“ zu gehen, den er einmal so beschreibt: „Der Dritte Weg biegt als fast unsichtbarer Pfad an der Stelle ab, an der sich zwei breite Wege in die Verzweiflung gabeln.“
Weil Horzon nun schon seit 15 Jahren diesen Pfad langläuft, den außer ihm kaum einer findet, lieben ihn mittlerweile alle in Berlin dermaßen, dass man sich manchmal fragt, ob es in der ganzen Stadt überhaupt noch irgendjemanden gibt, der nicht in Spontanekstase verfällt, wenn von „dem Rafi“ die Rede ist, der im wahren Leben tatsächlich das ausstrahlt, was er in den letzten Sätzen seines Buches ironisch überhöht: „Ich fühle mich leicht. Ich habe keine Angst. Ich bin frei.“ ALEX RÜHLE
RAFAEL HORZON. Das weisse Buch. Suhrkamp, Berlin 2010. 218 S., 15 Euro.
„Wochenlang ernährte ich mich
aus Geldnot von Eiweißpulver und
trockenen Haferflocken“
Rainald Goetz und dreihundert andere berühmte Menschen, die auch alle in Rafael Horzons Buch vorkommen, tanzen im Pelham, einem Club, den Horzon selbstverständlich kurz nach der Öffnung wieder schließen ließ.  
Fotos: Horzon/ Suhrkamp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Spontanekstase auch bei Alex Rühle. Ein Phänomen, das nach Informationen des Rezensenten im Herzen der Berliner Kulturschickeria inzwischen gang und gäbe sein soll, wenn es um Rafael Horzons "Weißes Buch" geht. Dieses preist Rühle als Unternehmensgeschichte eines "erfrischend größenwahnsinnigen Erzählers", der erst mit der Hochstapler-Galerie Berlintokyo die hauptstädtische Kunstszene aufmischte, dann als Entrepreneur in Apfelkuchenhandel, Akademiebetrieb und Möbelbranche reüssierte. Die Fragen, wann das Leben Kunst ist und wann die Kunst ein gewinnbringendes Unternehmen, hat Rühle von Horzon mit tieferem Witz und höherer Ironie ganz neu gestellt gesehen, und Rühle weiß schon gar nicht mehr, warum er die Probleme in seinem Leben (Scheinbesorgung an der Uni zum Beispiel) jemals ernst genommen hat.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Aus [seiner] Chronik macht Horzon mit gezielter Münchhausenscher Übertreibung in hochstaplerischen fiktionalen Passagen einen Entwicklungsroman, der sich permanent selbst auf die Schippe nimmt.«
Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.09.2010