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Anschaulich und direkt, stolz und nicht ohne Selbstironie erzählt Nicolai Lilin, Abkömmling der sibirischen Urki, eines Kriminellenclans, in seinem ersten Roman, einer Abfolge verblüffender, teils atemberaubender Geschichten, vom Aufwachsen in Transnistrien, wohin die Urki 1938 auf Stalins Befehl umgesiedelt wurden, und von der Urki-Erziehung, die aus ihm den lebenden Widerspruch eines »ehrbaren Kriminellen« machen sollte.Die Kinder sammeln ihre Erfahrungen in Kämpfen mit Jugendbanden und mit der Polizei. Dolche und Molotowcocktails, bald auch Pistolen kommen zum Einsatz. Vom Straflager…mehr

Produktbeschreibung
Anschaulich und direkt, stolz und nicht ohne Selbstironie erzählt Nicolai Lilin, Abkömmling der sibirischen Urki, eines Kriminellenclans, in seinem ersten Roman, einer Abfolge verblüffender, teils atemberaubender Geschichten, vom Aufwachsen in Transnistrien, wohin die Urki 1938 auf Stalins Befehl umgesiedelt wurden, und von der Urki-Erziehung, die aus ihm den lebenden Widerspruch eines »ehrbaren Kriminellen« machen sollte.Die Kinder sammeln ihre Erfahrungen in Kämpfen mit Jugendbanden und mit der Polizei. Dolche und Molotowcocktails, bald auch Pistolen kommen zum Einsatz. Vom Straflager sprechen sie wie andere vom Militärdienst oder den sonstigen Aussichten eines Erwachsenenlebens.Die Alten dagegen, die »Großväter«, bringen ihnen durch selbst erlebte und beglaubigte Exempel Freundschaft, Loyalität, Freigebigkeit und die Pflicht, Kinder, Alte und Behinderte zu schützen, bei - sowie die strengen Urki-Regeln erlaubter Gewaltanwendung.Infolge einer Festnahme wird Nicolai rekrutiert und muß auf russischer Seite an den Kämpfen in Tschetschenien teilnehmen - bis ihm der Absprung gelingt, nach Italien.Sibirische Erziehung ist Nicolai Lilins erstes Buch, erschienen 2009. Nicht zuletzt durch die enthusiastische Besprechung Roberto Savianos, Autor des Mafia-Bestsellers Gomorrha, wurde dieser Bericht von einer faszinierend unwahrscheinlichen Welt des »ehrbaren Verbrechens« zu einem sensationellen Erfolg.
Autorenporträt
Lilin, NicolaiNicolai Lilin, geboren 1980 in der Stadt Bender in Transnistrien, kam 2003 nach Italien, ins piemontesische Cuneo, wo er als Tattoo-Künstler lebt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2010

Himbeere im Kopf
Nicolai Lilin über eine Kindheit unter Dieben

Ein beliebter Schlager aus Sowjetzeiten erzählt die Geschichte einer gewissen Murka, die im Schlepptau einer Gangsterbande aus Sibirien ins Verbrecher-Eldorado Odessa kam. Dort wird der Dame ein Techtelmechtel mit einem Staatsdiener zum Verhängnis. Die eigenen Leute blasen ihr daraufhin eine ,Himbeere' - eine Kugel - in den Kopf. Murka gehörte zum Klan der ,Urki', einer seit Jahrhunderten in Russland existierenden legendären Verbrecheraristokratie. Deren Ehrenkodex untersagt jeglichen Kontakt zur Staatsgewalt. Ausgerechnet Stalin, der in den dreißiger und vierziger Jahren Millionen Angehörige von Minderheiten nach Sibirien deportieren ließ, brachte die Urki aus dem Osten ans andere Ende des Reiches, nach Transnistrien.

Diese Deportation markiert, so der 1980 im transnistrischen Bender/Tighina geborene Nicolai Lilin, den Anfang vom Ende des Klans, der über Jahrzehnte mit Raub und Diebstahl, vorzugsweise auf den langen transsibirischen Eisenbahnlinien, sein Auskommen hatte. In seinem autobiographischen literarischen Debüt erzählt der heute in Italien lebende und auf Italienisch schreibende Autor vom Heranwachsen unter den "Dieben im Gesetz", wie man diese Kriminellen in der Sowjetunion nannte. Beschrieben werden Sitten und Gebräuche einer Gemeinschaft, in der jeder Junge im zarten Alter von sechs Jahren seine erste Waffe erhält und mit spätestens zwölf ein echter Verbrecher ist, Gefängnisaufenthalte eingeschlossen. Früh müssen die Kinder beim Schlachten der Tiere zusehen, um sich an den Anblick von Blut und körperlicher Gewalt zu gewöhnen. Gleichzeitig herrschen strikte Rollenverteilungen. Jeder Urki-Junge bekommt einen älteren Erzieher, der nicht sein Vater ist. Dieser weist ihn in die Urki-Lebensphilosophie und Praxis ein, zu der angeblich auch gehört, dass man den Reichtum nicht zur Schau stellt und nur tötet, wenn es unbedingt sein muss. Bei Lilin gibt es nur edle Verbrecher, die die Schwachen schützen und Behinderte als heilige Narren verehren und die, auch das gehört zum Ehrenkodex, sich nie einer anderen Macht - etwa der Armee oder der Polizei - unterordnen. Ein Urki darf - siehe Murkas Schicksal - einen Polizisten nicht einmal anschauen, geschweige denn das Wort an ihn richten. Bevor der Held des Buches gegen seinen Willen zur Armee - in den Tschetschenien-Krieg - eingezogen wird, erlernt er wie der Autor die Kunst der Tätowierung, ebenfalls eine Urki-Tradition, die ihm in der Fremde ein Überleben sichern wird.

Lilins in schlichter Sprache geschriebener Anti-Erziehungsroman bedient eher ethnographische Interessen, wobei die wichtigen historisch-soziologischen Hintergründe und politischen Zusammenhänge dieser ausgerechnet im Stalinismus aufblühenden Unterwelt wenig erhellt werden. Denn erst im Kosmos der Diktatur und der GULags erlangten die sich dort organisierenden Kriminellen Legendenstatus. In der bereits 1973 erschienenen Autobiographie Michail Djomins "Die Tätowierten" sowie in den Lager-Erzählungen Warlam Schalamows lässt sich dazu einiges nachlesen. Am Ende seiner Geschichte deutet Lilin an, dass mit dem Untergang der Sowjetunion auch die Welt der roten Diebe zerfiel: Die einen kehrten nach Sibirien zurück, andere breiteten ihre Geschäfte über ganz Europa und Amerika aus, ohne dass das Reizwort "russische Mafia" erwähnt wird. Beim Lesen des Buches, so der Mentor Lilins und Mafia-Experte Roberto Saviano, müsse man die Kategorien von Gut und Böse vergessen. Das ist richtig, allerdings nur, weil uns die Gangsterwelt als Robin-Hood-Romantik präsentiert wird.

SABINE BERKING

Nicolai Lilin: "Sibirische Erziehung". Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 450 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wieso Roberto Saviano ausgerechnet diesen Autor als Mentor begleitet, scheint sich Sabine Berking zu fragen. Vorliegenden Roman über die Gesetze des legendären sibirischen Verbrecherklans der Urki, dem der inzwischen in Italien lebende Autor selber angehörte, über Theorie und Praxis des Verbrechens, findet sie jedenfalls ziemlich schlicht. Sprachlich, aber auch was die Darstellung der Gangster betrifft. Die bedient laut Berking vor allem das guten alte Robin-Hood-Schema: Sie nehmen's den Reichen, um es den Armen zu geben. Das lässt sich Berking nun nicht auf Brot schmieren. Über interessante historische und soziologische Zusammenhänge, etwa über die Blüte der Urki im Stalinismus, erfährt sie hingegen nichts.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Lilin erzählt mit der Selbstverständlichkeit eines Insiders. Die ungläubige Faszination für diese komplett andere Welt. Sie kommen aus dem Staunen überhaupt nicht mehr raus. Ich jedenfalls habe mir vor lauter Kopfschütteln eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen. Das schafft auch nicht jedes Druckerzeugnis!« Antje Deistler WDR 2 20100610