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Mithilfe von Träumen skizziert Barbara Hahns großer Essay eine Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Untersuchung widmet sich Träumen, die eine Welt aus Verfolgung, Not, Zwang und Leiden erschreckend direkt vorwegnehmen, schildern, in Bilder fassen. Sowie Berichten von Überlebenden, die in einer dauerhaft beschädigten Realität weiterexistieren - denen Wirklichkeit nur mehr ein Schatten ist - die nur in den Träumen toter Anderer sich noch 'am Leben' wähnen.
Im 20. Jahrhundert haben sich Traumaufzeichnungen als eine eigene literarische Gattung etabliert - durch eine Fülle (oft
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Produktbeschreibung
Mithilfe von Träumen skizziert Barbara Hahns großer Essay eine Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Untersuchung widmet sich Träumen, die eine Welt aus Verfolgung, Not, Zwang und Leiden erschreckend direkt vorwegnehmen, schildern, in Bilder fassen. Sowie Berichten von Überlebenden, die in einer dauerhaft beschädigten Realität weiterexistieren - denen Wirklichkeit nur mehr ein Schatten ist - die nur in den Träumen toter Anderer sich noch 'am Leben' wähnen.

Im 20. Jahrhundert haben sich Traumaufzeichnungen als eine eigene literarische Gattung etabliert - durch eine Fülle (oft entlegener) Veröffentlichungen. Nachforschend, aufstöbernd, einkreisend, ebenso sorgsam wie behende führt die Autorin durch diesen bislang wenig erschlossenen Kosmos.

Es treten Anna Achmatowa, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Charlotte Beradt, Jean Cayrol, Hélène Cixous, Franz Fühmann, Graham Greene, Wieland Herzfelde, Otto Dov Kulka, Primo Levi, Paula Ludwig, Elsa Morante, Heiner Müller, Georges Perec, Jorge Semprún, Vercors, Marguerite Yourcenar und viele andere auf.
Autorenporträt
Barbara Hahn, geboren 1952 in Esslingen, studierte Germanistik, Philosophie und Geographie in Berlin und Marburg. Sie war Professorin an der Princeton und der Vanderbilt University und ist eine der Hauptherausgeberinnen der kritischen Hannah-Arendt-Ausgabe sowie der Edition des Werks von Rahel Levin Varnhagen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2017

Wo alles schlecht ist, hilft es, das Schlechteste zu kennen
Schwarze Geschichtsromantik: Barbara Hahn deutet mit C.G. Jung das zwanzigste Jahrhundert im Licht seiner Träume

Das Grundmotiv des Essays "Endlose Nacht" von Barbara Hahn - einer Germanistin, die an der amerikanischen Vanderbilt University lehrt - besteht in der Idee, man könne die Geschichte psychoanalysieren: "Es war, als verrichteten die beiden ,großen Werkmeister' des Traums, Verschiebung und Verdichtung, ihre Arbeit nicht mehr im Unbewusstsein, sondern in der Wirklichkeit." Diese Überblendung von Traum und Wirklichkeit sei ein Merkmal der Geschichte des letzten Jahrhunderts - die Barbara Hahn, als sei das einer Begründung nicht weiter bedürftig, auf die totalitären Bewegungen des Kommunismus und des Faschismus reduziert - und vor allem auf deren innere Matrix, das Konzentrationslager.

Hahns literaturhistorischer Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass erst im zwanzigsten Jahrhundert Bücher auftauchen, die niedergeschriebene Träume versammeln, aber nicht deuten. Nun ist die Weigerung von Literaten, Träume auf ihre psychologische oder religiöse "eigentliche" Bedeutung zurückzuführen, gerade für Literaturhistoriker ziemlich leicht zu erklären, nämlich mit dem Einfluss des Surrealismus auf die Kultur des letzten Jahrhunderts. Die Surrealisten sahen den Traum als poetische Ressource, der in der Deutung seine Kraft verlieren würde und die deshalb uninterpretiert bleiben muss, um zu Poesie zu werden. Auf diese kulturhistorische Argumentation verzichtet Hahn. Und ersetzt sie durch eine politisierte Version des von Freuds Gegenspieler C.G. Jung entwickelten Konzepts eines kollektiven Unbewussten.

Da in den deutungslos niedergeschriebenen und literarisch gesammelten Träumen der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts Bilder der Gewalt vorkamen, hätten die Zeitgenossen von Auschwitz und Kolyma von den Lagern und damit vom inneren Kern ihres Zeitalters geträumt. Die Traumprotokolle des letzten Jahrhunderts seien demnach "ein Wissen, das sich einen Körper sucht". "Das Zwanzigste war ein Jahrhundert des Traums. Und das heißt auch: ein Jahrhundert der Nacht. Eine schwarze Zeit in konturloser Dunkelheit".

In der Nacht freilich sind alle Katzen grau. Nietzsche hatte in "Menschliches, Allzumenschliches" die Teilung der Welt in Physik und Metaphysik aus dem Traum abgeleitet, denn in diesem erschienen die Toten. An einer der wenigen Stellen ihres Buchs, an denen sich Hahns woolly thinking zu so etwas wie einer nachvollziehbaren Argumentation verdichtet, rechtfertigt sie ihre Gleichsetzung geträumter Gewalt mit der historischen dadurch, dass im Konzentrationslager die Welt der Toten ins Leben "eingebrochen" sei, an jenen "Orten, die für lebende Tote errichtet worden waren".

Mit dieser Denkfigur legt Barbara Hahn das literarische Bauprinzip der politischen Schauerromantik offen, die sie auf 183 Seiten in beeindruckender Materialfülle von Ernst Jünger bis Heiner Müller unter Einbeziehung zahlreicher Traumprotokolle weniger bekannter Schriftsteller und auch ganz unbekannter Träumer ausgebreitet hat. "Where everything is bad / it must be good / to know the worst", dieses Motto F.H. Bradleys, das in Adornos "Minima Moralia" zitiert wird, steht über dem Portal der Geisterbahn, in die sie die Geschichte des letzten Jahrhunderts verwandelt.

Mit politischer Schauerromantik kann man schwer argumentieren, da sie selbst die Literatur ist, deren Deutung zu sein sie vorgibt. Zwei Argumente gegen dieses Schwarzbuch des letzten Jahrhunderts seien dennoch vorgebracht. Zunächst muss man es nicht für ausgemacht halten, dass der Stalinismus, der Faschismus und deren Lager die eigentliche Essenz der Jahrzehnte zwischen 1917 und 1989 gewesen sind. Es gab in dieser Zeit auch den New Deal, die alliierte Landung an der französischen Atlantikküste, den Abstrakten Expressionismus, die Frauenemanzipation, den antikommunistischen Widerstand in Osteuropa, die Popmusik und die weltweite Ausbreitung demokratisch-hedonistischer Massengesellschaften. Es ist übrigens auch ganz unwahrscheinlich, dass vor 1900 weniger gewalttätige Träume vorgekommen seien als danach.

Ein zweites Argument gegen Hahns Buch wiegt schwerer. Denn ihre unreflektierte und politisierte Übernahme des von C.G. Jung postulierten kollektiven Unbewussten macht sich derselben Verwechslung der Traumpoesie mit der Ausdrucksfunktion des Traums schuldig wie ihr geheimer Mentor. Sigmund Freud hat sich immer geweigert, Träume zu deuten, ohne die konkreten Lebensumstände der Träumerinnen in Betracht zu ziehen, die den manifesten Trauminhalt auf den latenten zurückbeziehen. Hahn zitiert diese weise und wissenschaftliche Selbstbeschränkung verantwortlicher Psychoanalyse, zieht aber keine Folgerungen aus ihr. Mit ihrem Deutungsverfahren sieht sie ab von den individuellen Triebschicksalen konkreter Menschen, aus denen der Traum in Wirklichkeit hervorgeht und durch die er seine Bedeutung erhält. Das Individuum und seine realen Leiden gehen unter in der schlechten Allgemeinheit einer schwarzen Geschichtsromantik.

",Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben.'" So schildert C.G. Jung in seinen Memoiren das entscheidende Gespräch mit Freud. ",Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.' (...) Etwas erstaunt fragte ich ihn: ,Ein Bollwerk - wogegen?' Worauf er antwortete: ,Gegen die schwarze Schlammflut' - hier zögerte er einen Moment, um beizufügen: ,des Okkultismus.'" Freuds Plädoyer für die Sexualtheorie ist in diesem Gespräch die Parteinahme für den konkreten leidenden Menschen gewesen. Barbara Hahns Essay ist ein Beispiel dafür, dass der Okkultismus auch im Gewand antitotalitärer Aufgeklärtheit auftreten kann.

STEPHAN WACKWITZ

Barbara Hahn: "Endlose Nacht". Träume im Jahrhundert der Gewalt.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 201 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Hahns großer Essay führt eindrücklich vor Augen, dass Wachen und Schlafen im letzten Jahrhundert nicht mehr scharf voneinander zu trennen sind. Der Traum, durch das Lager gegangen, endet nicht mehr im Aufwachen - es gibt kein Aufwachen -, sondern im Tod.« Linda Maeding literaturkritik.de 20180711