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Berlin 2005. Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Statt dessen eine junge, vielleicht letzte Liebe, die ihn zu lange aufgeschobenen Reisen in die eigene Vergangenheit bewegt ... Zweimal stand er im Blitzlicht der Geschichte: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern.Davor, dazwischen und…mehr

Produktbeschreibung
Berlin 2005. Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Statt dessen eine junge, vielleicht letzte Liebe, die ihn zu lange aufgeschobenen Reisen in die eigene Vergangenheit bewegt ... Zweimal stand er im Blitzlicht der Geschichte: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern.Davor, dazwischen und dahinter liegen Schattenzeiten, wo sich die verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses Lebens abspielen: als in den Endwirren des Weltkriegs verlassener Säugling mit Familienspuren bis nach Buchenwald; als Drogenzauberlehrling, dessen Blut auch über drei Jahrzehnte nach dem letzten Schuß noch rebelliert; und nicht zuletzt als konsequenter Anti-Bourgeois in bourgeoiser Gegenwart, der seine kleinen Weigerungen immer teurer zu bezahlen hat. Aber macht sie das nicht um so kostbarer? Mit elegantem Understatement, doch ohne Rücksicht auf Verluste zieht Bernd Cailloux die Lebensbilanz von einem, der von Bilanzen nie viel wissen wollte.
Autorenporträt
Cailloux, BerndBernd Cailloux, Jahrgang 1945, lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2012

Zierleisten der Persönlichkeit
Bernd Cailloux zieht heiter-melancholisch Bilanz

Bernd Cailloux ist kein Geschichtenerfinder. Er schichtet stattdessen fabulierend die eigene Lebensgeschichte um. Sein Lieblingsmotto kommt von Kierkegaard: "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden." Im Rückspiegel tauchen dann zahlreiche Versäumnisse und Verfehlungen auf - Verluste, die gutgeschrieben werden wollen. Allem voran der notorisch verbummelte Lebenslauf. Seht ihn an, den Niemandsmann, "eingedreht in eine eschersche Selbstbezichtigungsspirale ohne Anfang und Ende, festgesessen in immergleichen Cafés".

Alte Lieben, erste Zigaretten, die Drogen der Frühe - vieles passiert in diesem "Roman mémoire" Revue. Aber erst einmal gilt es, die aktuelle Lage im Stammcafé zu klären. Am Anfang steht eine amüsante, menschenkundige Porträtgalerie der Dauergäste im Café Fler, diesem Schöneberger Reservat der "Übriggebliebenen", die noch im höheren Alter das ambulante Wohnzimmer dem familiären Heim vorziehen. Da sitzen sie, in gegenseitigem Respekt und tischferner Distanz, etwa der Finanzchef einer Parteistiftung: ein "offenbar naturberuhigter Spätleser, der gelegentlich seine buchhalterischen Bilanzausdrucke mitbrachte und sie meterlang über dem Tisch ausfaltete".

Das liest man gern, aber es ist nicht romanfüllend. So tritt nach fünfzig Seiten Ella ins Café: eine prächtige Lady im Abendkleid, dazu zwanzig Jahre jünger. Sie kann sich für den Erzähler erwärmen, diesen Langzeitsingle, der mit seiner Sechzigjährigkeit hadert und schon befürchtete, dass sein Liebesleben endgültig Schlagseite bekommt: von Eros zu Caritas. Nun also noch mal Feuer und Flamme, dank Ella, auf die eine Sportverletzung - Bänderriss beim Altherrenfußball - enthemmend wirkt.

Nach kurzen Schüben des Glücks aber entwickelt sich daraus eine Beziehungskomödie der ständigen Verstimmungen. Der Prozess gegenseitiger Adaption, der zum Verlieben gehört, erweist sich als schwierig - sind im höheren Alter doch allerhand Marotten als "Zierleisten der Persönlichkeit" längst ausgebildet und lassen sich nicht einfach abschlagen. Der Autor ist auch im Leben ein Ironiker, sie dagegen eine Frau starker Gefühlsausbrüche. Ihre Bestätigungssucht und seine "mörderische Skepsis" ergeben ein veritables "Mismatch". Der "sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener" ist nicht mehr zum gemeinsamen Nestbau zu überreden. Ella ihrerseits laboriert am Männerhass, seit sie mit ihrer Tochter von deren Erzeuger sitzengelassen und zur Alleinerziehenden gemacht wurde. Und so liegt bei aller Komik auch viel Melancholie über dem späten, mit feiner Psychologie ausgeleuchteten Liebesversuch.

Mit seinem letzten, vor sieben Jahren erschienenen Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" hat Cailloux die Kritik begeistert. Auch im neuen Buch ist 1968 das Schlüsseljahr. Cailloux ist kein Polemiker wie Götz Aly, der der eigenen Kohorte die Leviten liest. Aber in seine Veteranen-Hymne mischt sich doch allerhand Hader. Cailloux teilt die Achtundsechziger ein in Linke und Hippies, in SDS und LSD. Auf der einen Seite Polit-Ideologen und Terrorköpfe, auf der anderen die frei flottierenden Experimentalgeister der Subkultur, zu denen er sich selbst zählt. 1968 brachte ihm, neben den bekannten Umbrüchen und Euphorien, eine einträgliche Geschäftsidee. Mit Lightshows und Stroboskopen verdiente er ausgerechnet zur Hochzeit des antikapitalistischen Protests so viel Geld wie später nie wieder. Rückblickend stilisiert er sich gern zum Hippie-Businessman. Er neigt da ein bisschen zur Selbstverklärung, aber er hat auch viel Zerknirschung auszugleichen. Denn 1968 fing er sich den Virus fürs Leben ein: Der Hedonismus führte übers Heroin zur Hepatitis C. Dreißig Jahre später die Diagnose: Mottenfraßnekrose der Leber, zwei Jahre Restlebenszeit. Nur eine neue, riskante, schwer schlauchende Interferon-Therapie bietet noch Rettung. Auch der Virus wird dann herangezogen zur Erklärung für biographische Lücken und die eigene Karriere-Unfähigkeit: diese seltsame Müdigkeit, diese chronische Minderung der Lebensenergie - hepatitische Boheme.

Neben dem Geschäftsjahr 1968 spielt das Geburtsjahr 1945 eine wichtige Rolle. Gemeinsam mit der streitlustigen Ella fährt Cailloux ins thüringische Hinterland von Erfurt und besucht eine uralte Bauersfrau, bei der er als Flüchtlingskind erste dramatische Lebensmonate zubrachte. Zur Nachkriegsnot kam die hasserfüllte Trennung der Eltern als Grundmelodie einer Existenz, die später selbst nie in den Familienhafen einlief. Auch da ist, mit Hilfe der netten Bauersfrau, manches aufzuklären, was im bürgerlichen Sinn womöglich zu Fehlprägungen führte.

Wichtig auch das New-Wave-Jahr 1979. Im Café Mitropa, das sich später auf den Anfangsbuchstaben verkürzte, konnte Cailloux die Szeneberühmtheiten studieren. Es entstanden Experimentalfilme und die Bilder junger Wilder. Ein Musiker, spillerig und schwarzgekleidet, schiebt eine Karre Schrott vorbei: Einstürzende Neubauten im Aufbau. Und Iggy Pop tastet sich in den Morgenstunden an den Wänden entlang, als wäre ganz Berlin eine expressionistische Kulisse. Alle saßen sie damals im Mitropa, dem "Gemeindesaal der Subkultur" - und Cailloux ist dabei gewesen, wie einst Goethe bei der Kanonade von Valmy. Eines Nachts will er sogar mit der Geliebten Otto Schilys im brennenden Bett aufgewacht sein.

Das Buch hält sich nicht an die Chronologie des Lebens, sondern unternimmt kreisende Reflexionsprozesse, die an immer neuen biographischen Schmerzpunkten ansetzen. Es gibt scheinbar Abschweifungen, die sich als perspektivische Erweiterungen herausstellen: sehr komisch ein Kapitel über den Schöneberger Wohnungsnachbarn, der sich als fatale Spiegel-Existenz erweist. Nach einem Liebesdesaster kam er nicht mehr auf die Beine - arbeitslos seit zwanzig Jahren, ein Sonderling, aber ebenfalls ganz auf die Sechziger fixiert, wenn er immer wieder die gleichen Uralt-Hits wie "Only You" oder "I'm a Yesterday Man" durch die zu dünne Wand schallen lässt: "Musiksoße, aus der die Erinnerungen auftauchten wie verlorene Container im Ozean" - eine unfreiwillige Form der mémoire involontaire.

So funktioniert dieser wahrhaftige Roman wie ein autobiographisches Mobile, das seine Teile kunstvoll zusammenschwingen lässt. Cailloux schreibt die existentiellen "Verluste" gut, indem er gut über sie schreibt, mit einem wunderbar halbtrockenen Humor, der über manch peinlichen Abgrund hinweghilft. Das Buch lebt von seiner Sprache, seinem Parlando-Ton und einer Ironie, die nicht den Boden wegzieht, sondern stabilisierend wirkt, wo der Boden sehr dünn ist. Es ist ein gewitztes Buch über das Altern und den langen Weg vom Heroin zum Alsterwasser.

WOLFGANG SCHNEIDER

Bernd Cailloux: "Gutgeschriebene Verluste". Roman mémoire.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 271 S., geb., 21,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ina Hartwig prophezeit Bernd Cailloux für dieses Buch den Durchbruch. Ausgiebig berichtet die Rezensentin darüber, wie humorvoll und spannend sie seinen autobiografischen Roman "Gutgeschriebene Verluste" findet. Darin sieht sie den Autor auf der Suche nach der Bedeutung der Zeit um das Jahr 68, für die selbstzufriedenen Westberliner und für ihn ganz persönlich. Hartwig erzählt, wie der sechzigjährige Protagonist eine späte Romanze durchlebt, an Podien teilnimmt, bei denen sich "das gediegene Bürgertum sein restanarchisches Mütchen kühlt" und wie er immer wieder daran scheitern muss, den speziellen Zeitgeist in Worte zu fassen. Eine "formidable Selbstparodie" ist Bernd Cailloux gelungen, findet die Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2013

NEUE TASCHENBÜCHER
Unter dem Pflaster liegt der Gestrandete –
Bernd Cailloux’ „Gutgeschriebene Verluste“
„Café der Übriggebliebenen“, so wird das Lokal genannt, in dem der Ich-Erzähler regelmäßig verkehrt
– der Name passt zu seiner Lage. Denn auch der randständige Held aus Bernd Cailloux’ Roman „Gutgeschriebene Verluste“ ist ein Übriggebliebener jener „großen Zeit“, als in den „handlungsarmen Ecken“ der Berliner Szene-Disco Dschungel Hegelianer diskutierten, die jungen Wilden im Café Mitropa abhingen und Blixa Bargeld mit einem Bollerwagen voller Munition für seine musikalischen Stahlgewitter durch die Schöneberger Goltzstraße zog. Sie alle waren „liebe Kleinodbeschmuser, Lebevolk und Nebulierer“, wie Max Goldt das Berliner Soziotop beschrieb – geblieben ist nur der Flaneur als Fledermaus, der Blut saugt aus dem Mythos.
  Jetzt, im Alter von 62 Jahren, erweist sich Kierkegaards Satz, dass das Leben vorwärts gelebt und rückwärts begriffen werde, als tückisch. Für den Protagonisten, der immer tüchtig nach vorne gelebt hat, ist die Zukunft zu übersichtlich geworden, um auf die Vergangenheit zu pfeifen – zumal sich auch seine Freundin Ella nicht mehr mit dem Bohème-Kompromiss der „Schöneberger Besuchsehe“ abfinden mag. Und auch der Lack der heroischen Herkunft ist angeschrammt, wie er sich bei biografischen Tauchgängen in die Kindheit sowie die Jahre als „Schwellenwesen“ und „hedonistischer Mitläufer“ der 68er-Bewegung eingestehen muss.
  Bernd Cailloux ist ein bitterkomischer Schelmenroman gelungen über einen erotomanen Stadtneurotiker, der stets nur auf der Suche war nach dem nächsten „Kick und Fick“ und nun an den Spätfolgen seiner kurzen Heroin-Karriere und eines zur Asozialität getriebenen Individualismus laboriert. Cailloux’ Buch liest sich als selbstkritische Generationsbefragung, voller ebenso amüsanter wie erschreckender Schilderungen des linken Milieus – erst Rote-Armee-, dann ToskanaFraktion. Hier spricht einer, der die Zeit genossen hat und doch nie ihr Genosse war. Die Verluste werden ihm nicht gutgeschrieben, seine Bilanz aber ist: sehr gut geschrieben. 
CHRISTOPHER SCHMIDT
Bernd Cailloux: Gutgeschriebene
Verluste. Roman mémoire. Suhrkamp Taschenbuch 4437. Berlin 2013.
271 Seiten, 8,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»So funktioniert dieser wahrhaftige Roman wie ein autobiographisches Mobile, das seine Teile kunstvoll zusammenschwingen lässt.« Wolfgang Schneider Frankfurter Allgemeine Zeitung 20120228
»Cailloux' Buch liest sich als selbstkritische Generationsbefragung, voller ebenso amüsanter wie erschreckender Schilderungen des linken Milieus ... Hier spricht einer, der die Zeit genossen hat und doch nie ihr Genosse war. Die Verluste werden ihm nicht gutgeschrieben, seine Bilanz aber ist: sehr gut geschrieben.«