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Wir Menschen sind Bürger des Universums, aber zugleich sind wir auch Privatbesitzer unserer Lebensläufe. Wir leben im 21. Jahrhundert und zugleich in den langen Zeiten, aus denen wir kommen und die wir in uns tragen. So existieren wir in einem Babylon verschiedener Realitäten. In jedem Moment: Tür an Tür mit einem anderen Leben. Das gilt für den Bombenleger und Blitzkrieger, für Liebende, für Menschen, die einander hassen, für unsere Ahnen und für das »moderne Raubtier«, das in Gestalt globalisierter Unternehmen uns Menschen gelegentlich überholt und scheinbar zurückläßt. In den neun Kapiteln…mehr

Produktbeschreibung
Wir Menschen sind Bürger des Universums, aber zugleich sind wir auch Privatbesitzer unserer Lebensläufe. Wir leben im 21. Jahrhundert und zugleich in den langen Zeiten, aus denen wir kommen und die wir in uns tragen. So existieren wir in einem Babylon verschiedener Realitäten. In jedem Moment: Tür an Tür mit einem anderen Leben. Das gilt für den Bombenleger und Blitzkrieger, für Liebende, für Menschen, die einander hassen, für unsere Ahnen und für das »moderne Raubtier«, das in Gestalt globalisierter Unternehmen uns Menschen gelegentlich überholt und scheinbar zurückläßt. In den neun Kapiteln des Buches geht es um Welt- und Wirtschaftskriege, um Liebes- und Familiengeschichten, um den Zeitbedarf von Revolutionen und um Bastionen des Überlebens, die einer nicht aufgibt, ohne auf Leben und Tod zu kämpfen. Alexander Kluges 350 neue Geschichten, die den Erzählstrom der Geschichtenbücher Chronik der Gefühle und Die Lücke, die der Teufel läßt fortführen, handeln vom Unterschied zwischen »wirklich«und »unwirklich«. Worum geht es? Darum, daß selbst in einer »Welt des Mangels und der Abstiege« Menschen ungeahnte Kräfte entfalten und an ihrer Glückssuche festhalten, zwischen Liebe und Barbarei.
Autorenporträt
Kluge, AlexanderAlexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2006

Geknickte Karrieren grausamer Menschen
Vom leeren Moment zwischen den Zeiten und von anderen Pointen der Geschichte: Alexander Kluges historiographisches Kompendium „Tür an Tür mit einem anderen Leben” Von Thomas Steinfeld
Am 8. April 1945 flogen drei Geschwader alliierter Bomber, überraschend von Süden, vom Harzgebirge her kommend, über Halberstadt. Sie gehorchten einem Einsatzplan, der eigentlich nicht mehr gültig war. „Eine Fehlrechnung und ein Irrtum” bewirkten, dass er dennoch ausgeführt wurde. Das im Jahr 1912 errichtete Lyzeum, ein dreiachsiges Gebäude mit einem rot spiegelnden Dach, diente ihnen als „Nullpunkt des Angriffs”. Wurde er überflogen, zählten die Schützen eine festgelegte Zahl von Sekunden aus. Dann lösten sie die Bombenlast. „Die Bomben fallen schräg”, erläutert ein von der Geschichte – aber ist es die Geschichte? – gleichsam schon ausersehenes Opfer, so dass „wir an sich hätten getroffen werden müssen”. Es war der Wind, der dafür sorgte, dass das Opfer in einem Keller überlebte, und mit ihm die Familie. „Zwanzig Minuten später, mit allen Empfindungen der Panik, d.h. lebendig, eilten wir in Richtung Stadtausgang.” Das „Wirkliche” von dem diese Geschichte handelt, ergibt sich erst sechzig Jahre später, als der glücklich Entkommene die Umgebung des längst verschwundenen Hauses betrachtet: „Sechs Büsche und ein Stein können keine Wirklichkeit herstellen. Aber etwas Früheres, was in meinem Sinn lebt, und die sieben Partikel bilden einen MOMENT.”
Wer je einen Blick in eines der großen historiographischen Werke von Alexander Kluge getan hat, erkennt diesen Autor sofort wieder: an der Art der Geschichte, in der sich hier Kriegsschrecken mit der Lakonie des bloßen Berichtens vereint, an der Kette der unwahrscheinlichen, jedem Plan widersprechenden Umstände und Zufälle, aus denen schließlich das tatsächliche Ereignis hervorgeht, am plötzlichen Überschlag von der Physiognomie ins kategoriale Urteil. Es ist das dritte Mal, dass Alexander Kluge ein solches großes Kompendium der verfehlten Geschichte vorlegt, nach der „Chronik der Gefühle” aus dem Jahr 2000 und „Die Lücke, die der Teufel läßt” von 2003. Dieses Mal hat er dem Unternehmen einen besonders treffenden Namen gegeben: „Tür an Tür mit einem anderen Leben”. Denn darum geht es: um die Rückseite der Geschichte, um die Geschichte der Ereignisse, die hätten stattfinden können, aber nicht stattgefunden haben, und um die Geschichte all jener Ereignisse, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, aber von keiner Historiographie festgehalten werden – weil sie zu groß sind oder zu klein oder zu schräg, weil man über apokryphes Wissen verfügen muss, um sie identifizieren können, weil ein Historiker mit dem Zufall nichts anfangen kann.
Auch dieses Buch besteht aus lauter einzelnen Geschichten, aus Hunderten von ihnen. Eine handelt vom „leeren Moment zwischen den Zeiten”. Ein Offiziersbursche versucht den letzten Willen seines toten Herrn zu erfüllen und dessen Pferd, einen edlen weißen Hengst, aus der Konkursmasse einer österreichischen Armee zu retten. Der Schriftsteller Alexander Hernet-Holenia erzählt diese Geschichte dem Regisseur Fritz Lang, der daraus einen Film machen will. Zwei anonyme Sprecher unterhalten sich über die möglichen Beweggründe Fritz Langs: „Die Pointe scheint mir, daß irgend etwas inmitten des Untergangs ,unverkäuflich’ bleibt.” Die nächste Geschichte handelt von einem Massaker auf der Insel Chios, wo die Türken im Jahr 1821 mehr als zwanzigtausend Griechen töten. „An sich ist die Herrschaft des Osmanischen Reiches und die des Sultans auf indirekte Herrschaft, auf Autonomie der örtlichen Verwaltung ausgelegt.” Die übernächste vom „armen Leib” eines byzantinischen Kaisers, der im Jahr 1204 einem bulgarischen Fürsten unterliegt, Arme und Beine abgeschlagen bekommt und als „Stumpf”, aber lebend, den Geiern ausgeliefert wird. „Der Bulgare wollte tatsächlich durch einen Akt der Grausamkeit, den man nur an einem besonders hochrangigen Opfer begehen kann, seine Gleichrangigkeit mit dem byzantinischen Thron ,erhärten’.”In fast jeder Geschichte gibt es seine solche These, eine oft zu nur einem Satz verknappte Theorie, und viele von ihnen sind so überraschend, so ungewöhnlich und klug, dass der Leser zu exzerpieren beginnt.
Dieses Buch erzählt keine Geschichte, und es folgt keinem geschichtsphilosophischen Entwurf. Eher schon denkt da jemand vor sich hin, ein sehr neugieriger, gebildeter und scharfsinniger Mensch, und in einer einzigartigen Kameradschaft zwischen Autor und Leser gestattet Alexander Kluge, dass sein Publikum ihn bei dieser Arbeit begleitet. Für dieses – und für sich – erfindet er eine amerikanische Gelehrte namens „Eleonore Wilsh”, die an der Universität Princeton über Kaiser Heinrich IV. forscht, der im Februar des Jahres 1111 Papst Paschalis in Castel Gandolfo festsetzte: „Dies, schreibt Eleonore Wilsh, ist das Kennzeichen jeder Renaissance: Entdifferenzierung, Kraftgewinn als Produkt der Aufspaltung von Eigenschaften.” Bislang hatte man zwar eher das Gegenteil angenommen und die Renaissance für eine Zusammenführung von Spätmittelalter und Antike gehalten – und doch: Ist die Geschichte anders herum nicht mindestens genauso plausibel? Ja, und auch an diesem Punkt hört Alexander Kluge nicht auf zu denken. Denn „Eleonore Wilsh” muss ihre Planstelle rechtfertigen, und das kann sie nur, wenn sie zumindest vorgibt, in der Vergangenheit nach Vorhersagen für die Zukunft der Vereinigten Staaten zu suchen. Dabei weiß sie genau, dass sich die Spannungen zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft im frühen 12. Jahrhundert im ersten Kreuzzug entluden. „Man muß die ungebärdige Energie nach außen lenken, wenn es im Abendland nicht zu einer Explosion kommen soll.” Aber wo wäre heute das Außen?
Alexander Kluges neue Wissenschaft wäre eine Naturgeschichte der Gesellschaft zu nennen. Sie hat ihren Ort zwar „Tür an Tür” mit der Geschichtsschreibung, ist aber etwas von Grund auf anderes. Denn für diese Naturgeschichte gibt es keine Disziplin: Mit der Natur lässt es sich zwar hadern, aber nicht rechten. Aber nicht nur deshalb ist diese Art der philosophischen Historiographie so frei, so unakademisch, so rhapsodisch. Sie ist es vor allem, weil Alexander Kluge, promovierter Rechtsanwalt und erfolgreicher Produzent, sich auch als Schriftsteller wie ein Unternehmer verhält – wie ein Unternehmer im Sinne Joseph Schumpeters, wie ein „wirklicher” Entrepreneur, für den es keine Klassen, keine Genres und keine Disziplinen geben kann, wie einer, der durch die Kontinente und durch die Weltgeschichte streift, ausgerüstet mit der Fähigkeit, jede Gelegenheit im richtigen Augenblick zu erkennen, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, Ideen und Produkte in ein angemessenes Verhältnis zu setzen.
So also, unternehmerisch, entstehen Alexander Kluges Ansichten von der Rückseite der Geschichte, und wenn ihnen zuweilen etwas freundlich Gespenstisches, ja Spiritistisches anhaftet, dann liegt das daran, dass der Leser sich während der Lektüre von seinem eigenen Bescheidwissen erlöst findet. Alexander Kluge haftet das Prädikat nahezu übertriebener Klugheit und damit auch der Schwierigkeit an. Das aber ist falsch: Die Lektüre von „Tür an Tür mit einem anderen Leben” bereitet ausgesprochen gute Laune, weil die Verschiebung der Blickwinkel, die Befreiung vom disziplinierten Blick auf die Geschichte so viel mögliches neues Wissen, so viele bislang nicht einmal erahnte Möglichkeiten der Erkenntnis eröffnet, dass der Leser dahinsegelt, vom metaphysischen Rausch des Neuen erfasst. Und wo anders als bei Alexander Kluge ließe sich lesen, was für einen Charakter man braucht, um in einem Großunternehmen ganz nach oben zu kommen?
Bösartigkeit, lehrt der Autor nämlich, führe nicht weit, denn diese sei von handwerklichem Wesen, obwohl – bis zu einer gewissen Grenze – Entschlusskraft und Grausamkeit leicht zu verwechseln seien.Der beste Kandidat sei ein Mensch mit wenigen durchschnittlichen Eigenschaften, der aber fähig sei, in den ersten Wochen im neuen Amt außergewöhnliche Eigenschaften vorzuspiegeln. „Und sämtliche dieser Übertreibungen müssen dasselbe geheime Zeichen besitzen: In Wahrheit bleibe ich durchschnittlich.” Ist das nicht wahr, so erschreckend wahr, dass einem gleich ein halbes Dutzend Chefs zu dieser Theorie einfallen? Und so rauscht der Leser davon, aber Alexander Kluge achtet auf ihn, zwingt ihn, gelegentlich anzuhalten, misstrauisch zu werden gegen sich selbst wie gegen den Autor, so dass er sich vornimmt, zumindest die These von der Ankunft der Außerirdischen in der Planckzeit zu prüfen. Bei anderer Gelegenheit, später, wenn der Rausch verflogen ist.
„Ist die Geschichte anders herum nicht mindestens genauso plausibel?”
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Alexander Kluge
Tür an Tür mit einem anderen Leben
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 646 Seiten, 22,80 Euro.
Ein Bild aus lauter Ausnahmen: Hausfassaden schweben flächig vor der Wand oder sockeln den grauen Grund, gleichsam als Ornament. Der rote Rahmen, der die phantastische Szenerie von Neo Rauchs „Regel” (2000) rahmt, taucht gleich zweimal im Bild selbst wieder auf, etwa als Abgrund der Leere – und damit als Sinnbild künstlerischer Inspirationssuche –, der einen zwergenhaften Kombattanten zu verschlingen droht. Auf dessen Kampf fixiert ist das stramme Bildpersonal mit seltsamen Apparaten im Anschlag, Überlebende einer Welt des Technikglaubens. Zeit-, Größen- und Perspektivmaßstäbe werden verschoben – und der Kampf, der hier ausgefochten wird, ist das beständige Kreisen um künstlerische Originalität. Zur Ausstellung „Neo Rauch – Neue Rollen. Bilder 1993-2006” im Kunstmuseum Wolfsburg (bis 11. März 2007) erscheint bei DuMont ein lesenswerter Katalog (192 Seiten, mit Beiträgen u.a. von Markus Brüderlin, Holger Broeker, Gottfried Boehm. Im Museum 28 Euro). holi © VG Bild-Kunst, Bonn 2006 / Courtesy EIGEN + ART Leipzig/Berlin & David Zwirner, New York
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2007

Artisten in der Zirkuskuppel, rastlos

Mit seinem neuen Erzählwerk, das an seine gewaltige "Chronik der Gefühle" anschließt, verbindet Alexander Kluge abermals in kühner Weise das Intime und das Welthistorische.

Von Peter Demetz

Alexander Kluge verspricht uns in seinem neuen Buch 350 neue Geschichten, aber ich glaube, dass es fast doppelt so viele sind. Es kommt darauf an, was man als Geschichte bezeichnen will, die ganz große und die ganz kleine, Historie oder Anekdote, und die gehen in Kluges Kapiteln, wie seine Liebespaare, Hand in Hand. Der philosophische und der erzählerische Pulsschlag schlagen hoch. Dieses Buch besteht eigentlich aus neun Büchern, von denen jedes seine chaotische Ordnung hat, denn der Autor findet es nur angemessen, dass sein Blick das irdische Leben vor 650 Millionen Jahren (wenn es Leben gab) ebenso umfasst wie das neuere Halberstadt, wo er vor fast 75 Jahren als Sohn einer gutbürgerlichen Familie zur Welt kam. Dem Kritiker, der nach einer Urformel sucht, die ihm die überwältigende Konstruktion des Buches einleuchtender machen könnte, hält Kluge einen autobiographischen Köder hin: Sein ganzes Leben sei, wie er dem staunenden Martin Walser verriet, von der sehnsüchtigen Bemühung des sechsjährigen Jungen bestimmt gewesen, die Scheidung der geliebten Eltern zu verhindern.

Ich denke nicht daran, da anzubeißen, denn er fügt ja hinzu, dass auch der Siebzehnjährige und der Zweiunddreißigjährige mitrede, und da werden die anderen auch noch ein Mitspracherecht haben. Nicht ohne Grund erzählt er die Geschichte der jungen Pariser Studentin, die sich in das hochfeudale Hotel King George V auf den Champs Élysées durchschwindelt, um dort im Wellness Center luxuriös zu baden um dann wieder in ihr anderes Leben zurückzukehren: "Sie suchte keine neue Identität, sondern die eigene, davon aber mehrere."

Das endlose Glücksverlangen.

Kluge vertraut der Paläontologie, der Anthropologie und Soziologie mehr als der Spekulation, aber seine Grundgedanken haben (obwohl im ganzen Buch nur ein Elefant im Zoo von Chicago Hegel wörtlich zitiert) metaphysisches Gewicht. Kluge sagt uns, dass unsere Vorfahren glücklich waren, dem Eise zu entrinnen, um sich in den wirtlicheren Winkeln der Erde einzunisten. Beflügelt von einem unendlichen Lebenswillen und einem endlosen Glücksverlangen, schufen sie sich Ackerbau und Viehzucht, Liebe, Religion, Staat und Revolution - allerdings Aug in Aug oder eben "Tür an Tür" mit einem lebensfeindlichen und lebensverneinenden Element, mit Krankheit, Feuer, Tod, Krieg und Zerstörung jeglicher Art. Kluge zählt zu den Optimisten, die an den Triumph des Glücksverlangens glauben, aber er zögert nicht, sich in jenen fatalen Zonen zu bewegen, in welchen die negative Zerstörungsmacht den Lebenswillen bedroht, die napoleonischen Feldzüge, Verdun und die Westfront 1918, das Massaker von Smyrna, Hitlers Kriege und die Ereignisse im Irak.

Sein Optimismus ist nicht unbegrenzt, und je tiefer er sich in die Historie und in die Geschichte seines eigenen Lebens begibt, desto deutlicher wird seine melancholische Skepsis und seine Trauer um das Verlorene, das im Bombenkrieg zerstörte Vaterhaus, das er mit stifterscher Pietät beschreibt, oder die Revolutionen von gestern, die immer auf halbem Wege liegenblieben.

Kluge schlüpft als Prosaautor in die widersprüchlichsten Rollen und kommt uns, um seiner Geschichten willen, als Colonel einer britischen Interventionsarmee oder als Eisenhändler, der den Wert alter Waffen kennt, um nur einige wenige zu nennen. Ich lese Kluges Gespräche, Analysen und Geschichten über Zirkus und alte Lokomotiven mit Aufmerksamkeit, denn sie implizieren Autobiographisches deutlicher als andere Abschnitte, und eine elegische Tonart beginnt die ironische Skepsis zu verdrängen. "Die Kinderphantasie ,Zirkus' richtet sich darauf, dass Menschen ,alles möglich' ist." Sie erfüllt die "Sehnsucht nach dem Unwahrscheinlichen", und selbst internationale Gelehrte diskutieren das Miteinander von Zirkus, der im Zeitalter der Französischen Revolution entstand, des Vernunftzeitalters und der Guillotine, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.

Kluge ist ein unterhaltsamer Kenner der Zirkusgeschichte, auch der amerikanischen, und bewundert, mit Recht, die Opulenz des ehemaligen sowjetischen Staatszirkus. Allerdings verfährt er auf seine Weise, denn er präsentiert uns eine Aufnahme aus dem berühmten Sowjetmusical "Tsirk/Zirkus" (1936), in welchem die Diva Luba Orlova auf einer Kanone tanzt, also ein kinematographisches Zirkus-Wunschbild, aber wer wollte das ihm, dem Filmfan, verübeln?

Die Lokomotive des Fortschritts.

Auch die Lokomotiven der alten Art ziehen Kluges Imagination mächtig an, weil sie eine Metapher des Fortschrittes gewesen sein mochten. Ich fürchte nur, dass Kluge da auf einige Abwege gerät; sein scholastisches Verfahren, die Lokomotive, in theologisch-allegorischer Art, in ihre mechanischen Bestandteile zu zerlegen und zu fragen, welche Institutionen der Französischen Revolution dem sogenannten "Lokomotiven-Kreuzkopf" entsprechen, welcher die senkrechte Bewegung in eine gleitende verwandelt, ermangelt leider jeder Ironie, oder sie ist nicht deutlich genug. Zum Glück hat er dem Buch eine Fotografie vorangestellt, die den schläfrigen Knaben Kluge zeigt, der in kindlicher Hingabe mit seiner Modellbahn spielt. Abschied von alten Lokomotiven? Es geht auch ohne Marx-Zitate.

Kluge hat als Autor seine eigene Physiognomie besonderer Neigungen und Leitmotive, die seine Geschichten auslösen (wie Kleists Anekdoten "offen zur Philosophie hin"). Auf die Folge der Geschlechter blickend, rücken Gene, Clans und Generationen eng aneinander (Story: ein Neffe Nietzsches, vom Reichssicherheitshauptamt als Pförtner angestellt und dann als Mitläufer eingestuft). Amerikanische Kollegen aus Soziologie und Philosophie werden gern zitiert (so oft, dass ich mir viele der Namen googelte, um mich zu vergewissern, dass sie keine fiktiven Figuren sind), gelehrte Konferenzen in Aspen, Princeton und Stanford haben ihre dramaturgische Funktion, und Revolutionäre tun gut daran, ihre Hauptquartiere in der unmittelbaren Nachbarschaft der Kommunikationsmittel aufzuschlagen - Lenin und Trotzki in Eisenbahnwaggons auf freier Strecke, aber unter den Telegraphendrähten. Davon ist er so begeistert, dass er das zwei- oder dreimal erzählt.

Inmitten der blutigen welthistorischen Kulissen leben aber die einzelnen Menschen, die in ihrem unstillbaren Glücksverlangen Wunder an Treue, Ordnungssinn, Zärtlichkeit und Liebe vollbringen, wie die Geliebte eines Strafgefangenen, den sie im Gefängnis besucht, und ihre Hände mit einem Karosserieklebstoff einreibt, sodass sie nicht mehr getrennt werden können, oder das junge Mädchen, vergewaltigt 1945 von einem Sowjetsoldaten - sie forscht nach dem Übeltäter (Vater ihres Sohnes) und findet ihn viele Jahrzehnte später, nach Öffnung der Archive, in Smolensk, wo man späte Hochzeit feiert, "mit Gurke, Kaviar, Kartoffeln, eingelegtem Kraut". Kluges Großvater mütterlicherseits entscheidet sich plötzlich auf dem Eislaufplatz, eine junge Frau zu ehelichen, die eben in der Umkleidekabine verschwunden ist, "alles in einem Moment von vielleicht 16 Sekunden im Abendlicht und zum Geschlurfe der Schlittschuhläufer", eben Großmama, die 101 Jahre alt wird.

Ich kenne in der deutschen Sprache kein anderes Buch, welches das Welthistorische und das Intime (oder: das Allgemeine und das Besondere) so ehrgeizig und kühn verbindet (ähnlich nur in der gegenwärtigen amerikanischen Literatur William T. Vollmanns "Central Europe", auch nicht weniger als 810 Seiten) und mir verdeutlicht, wie die Menschen "Ströme" von Handlungen schaffen, in denen ihnen dann andere folgen. Mit seinen formalen Diskontinuitäten stellt das Buch seine berechtigten Ansprüche, aber es ist seine besondere Tugend, Einsichten des Erzählers nicht als rettende Wahrheiten zu dekretieren. Kluge gibt, im wahrsten Sinne des Wortes, zu bedenken, was der Fall war und wie, in Historie und in den Schicksalen der Menschen, und wir sind frei, unserem Verlangen nach Erkenntnis und unserer Lust an Literatur zugleich zu frönen. Das ist ein seltenes Fest.

- Alexander Kluge: "Tür an Tür mit einem anderen Leben". 350 neue Geschichten.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 646 S., br., 22,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Martin Krumbholz zieht seinen Hut vor der spekulativen Vernunft und unerschöpflichen Produktivität Alexander Kluges, dessen "350 neue Geschichten" er mit großer Begeisterung verschlungen zu haben scheint. Immer auch den "unverwechselbaren Kluge-Sound" beim Lesen im Ohr, findet Krumbholz eine Fülle instruktiver Einsichten, starker Behauptungen und anthropologischer Erkenntnisse. Den größten Eindruck hat dabei offenbar eine ungewöhnlich persönliche Erklärung Kluges hinterlassen, derzufolge der Ursprung all seiner Kreativitätswut und speziell auch seines Erzählprinzips der offenen, variantenreichen Ausgänge in der traumatischen Erfahrung der Trennung seiner Eltern wurzelt, welche der neunjährige Alexander wegen damals noch mangelndem Verhandlungsgeschick nicht zu verhindern wusste - ein privates Bekenntnis, das in seiner Kühnheit den Rezensenten tief berührt hat und damit gleichzeitig paradigmatisch für die vielen detailreichen Episoden stehen könne, die Kluge häufig mit einem ihm eigenen Möglichkeitssinn aufgeladen schildere.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Die Lektüre von Tür an Tür mit einem anderen Leben bereitet ausgesprochen gute Laune, weil die Verschiebung der Blickwinkel, die Befreiung vom disziplinierten Blick auf die Geschichte so viel mögliches neues Wissen eröffnet, dass der Leser dahinsegelt, vom metaphysischen Rausch des Neuen erfasst.« Süddeutsche Zeitung