Marktplatzangebote
6 Angebote ab € 2,97 €
  • Gebundenes Buch

"Am Ende behält man wenig von einer Kindheit; einen Geruch, eine Lichtstimmung, eine Geste. Alles andere ist zum Stoff geworden, aus dem wir atmen, handeln, vergessen." Der jungen Frau, die das notiert, begegnet in nächtlichen Träumen ihre Mutter, wie sie da steht im Keller, sich umdreht und ihrer Tochter einen Apfel entgegenstreckt. Die Träume, die wieder und wieder an die inzwischen tote Mutter im duftenden Reich ihrer Äpfel erinnern, sind freilich die andere Seite dessen, was der jungen Frau tagsüber widerfährt: Mit ihrem Mann, dem exzentrischen Orion, und ihrer Tochter gerät sie in eine…mehr

Produktbeschreibung
"Am Ende behält man wenig von einer Kindheit; einen Geruch, eine Lichtstimmung, eine Geste. Alles andere ist zum Stoff geworden, aus dem wir atmen, handeln, vergessen." Der jungen Frau, die das notiert, begegnet in nächtlichen Träumen ihre Mutter, wie sie da steht im Keller, sich umdreht und ihrer Tochter einen Apfel entgegenstreckt. Die Träume, die wieder und wieder an die inzwischen tote Mutter im duftenden Reich ihrer Äpfel erinnern, sind freilich die andere Seite dessen, was der jungen Frau tagsüber widerfährt: Mit ihrem Mann, dem exzentrischen Orion, und ihrer Tochter gerät sie in eine für sie lebensbedrohliche Not. Trotz der wunderbar eigensinnigen Menschen, die ihr Dorf bewohnen, trotz der ausgelassenen Feste und der Geschichten, die man hier erzählt, muß die junge Frau, wie ihr immer klarer wird, fliehen. Ein Sommer schleppt sich dahin - bis sie endlich den Mut findet, ihrer Tochter die ganze Wahrheit ihres Vorhabens zuzumuten.
Gertrud Leutenegger erzählt in Pomona die Geschichte einer Vergewisserung - und eine Geschichte von der Notwendigkeit einer Umkehr. Und erzählt sie mit leichter Hand, in einer poetisch dichten Sprache, mit Liebe zu ihren Figuren.

Autorenporträt
Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, veröffentlicht seit 1975 Romane, Essays, Gedichte und Theaterstücke; ein Werk, für das sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, heute wohnt sie in Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2004

Lichtjahre, sternhagelvoll
Rondo der Erinnerung: Gertrud Leuteneggers neuer Roman

Pomona heißt die römische Göttin der Baumfrüchte, der so manch satyrhafter Feldgeist nachstellt. Allen voran Priapus. Doch Pomona, die dargestellt wird mit einem Apfel in der Hand, weiß ihren Garten zu schützen und sich darin zu bewahren vor solchen Verfolgern.

"Pomona" ist der Titel von Gertrud Leuteneggers neuem Roman. Auch seine Ich-Erzählerin muß sich grober Angriffe erwehren: der wüsten Beschimpfungen ihres häufig betrunkenen Mannes: "Orion drehte sich um und stieß krachend den Tisch, der ihm im Weg stand, gegen den Nußbaumschrank, stürmte zur Hofseite und schmetterte auch dort alle leicht angelehnten Fensterläden gegen die Hausmauer, er fluchte etwas von einem Gefängnis, stündlich entdecke man Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien, Gasorkane und atomare Feuersäulen, einen unablässig wirbelnden brodelnden Kosmos von furioser Aktivität, während wir uns in einem Schattenreich verkriechen würden." Orion, auf den der Begriff sternhagelvoll oft genug paßt, ist ein erfolgloser Architekt, der, daher sein Name, sich durchs Fernrohr ins All und die Sterne stürzt, weit weg von seiner irdischen Realität. Und der seiner Frau und ihrer Tochter das Leben schwermacht.

Das aber hat ein Ende, als die Erzählerin sich von ihm trennt. Und damit beginnt der Roman: "Als ich die leere Wohnung betrat, riß der Nordwind die Fenster auf, und Du warst schon in der fernen Stadt." Du, das ist die Tochter, und ihr wird von diesem Moment an erzählt - durch das vom Wind aufgerissene Zimmer zurückblickend in die Vergangenheit, und zurückblickend damit auch auf viele andere Trennungen und Abschiede. Denn "Pomona" ist vor allem ein Roman über Abschiede: große und kleine, erzwungene - und selbstverständliche im Vergehen der Zeit.

Doch wer ist Pomona? Die Erzählerin? Ihre Tochter? Alle haben Namen, nur die beiden nicht. Und auch nicht die Mutter der Erzählerin. Die Erzählerin erinnert sich an eine Mutter, "die mir nie Herkunft, Kindheit und Sprache genommen hatte", wie es gleich anfangs heißt. Denn sie selbst ist eine Mutter, die ihrer Tochter eben dies alles nimmt, indem sie sich von Orion trennt, sich dazu durchgerungen hat nach so viel erlittener Schmach, und es am Ende der Tochter sagt: "Aber du erwiderst kein einziges Wort, starrst mich nur an, mit diesem Blick des reinen und unverminderten Entsetzens, dann die Schreie, die furchtbaren Schreie, wie von einem tödlichen Erwachen, nichtendenwollende Schreie, die ich nie mehr vergesssen werde." Doch sie mußte es tun. Auf die in der "fernen Stadt" gestellte Frage nach dem Warum gibt sie am Ende die Antwort: "Weil ich, mit dir zusammen, lebendig bleiben wollte." Das Erzählen ist hier vor allem Zeugnis für diesen Lebenswillen, oder besser: für den Kampf gegen alle Erstarrung. Der Roman als Medium des Erinnerns und Kräftigung gegen das Vergessen.

Orion aber "besaß eine außerordentliche Kraft zum Vergessen". Und dennoch wird auch die vollzogene Trennung von Orion noch als Verlust empfunden, das bezeugt der schmerzhafte Trennungsprozeß, der das Buch durchzieht: "Aber ich sollte noch lange kämpfen, mit der immer wieder aufflackernden Innigkeit, doch vor allem mit mir selbst." Denn jede Trennung, auch die Befreiung von Orion reißt ein Loch in Herz und Hirn, das mit Erinnerung gefüllt wird. Aber Erinnerung darf auch verblassen, wenn sie die Lücken gefüllt hat: "Am Ende behält man wenig von der Kindheit; einen Geruch, eine Lichtstimmung, eine Geste. Alles andere ist zum Stoff geworden, aus dem wir atmen, handeln, vergessen. Ein ganzes Haus hat sich aufgelöst, wir haben Abschied genommen."

Es ist der Geruch der Äpfel, die im Herbst eingewintert wurden - und selten hat man in einem Buch so ganz nebenbei auch Lust auf Äpfel bekommen, auf die alten Sorten, die einst mit soviel Sorgfalt angebaut, geerntet und versorgt wurden, von denen so viele längst verschollen und deren Namen schon Poesie sind: Berner Rose, Schwyzer Breitich, Lederapfel und Gravensteiner, Berlepsch, Ontario und Boskoop, Karbantich, Schafsnase, Akristan und Roter Astrachan, Jonathan und Goldparmäne. Ebenso wie die Geste, mit der die Mutter, die im "schwach erleuchteten Keller vor den Apfelhurden steht, sich langsam umdreht, eine Spinnwebe aus dem schwarzen Haar streicht und mir eine Berner Rose entgegenstreckt", und wie die Tochter in den ihr liebsten Apfel beißt.

Erinnert wird auch der Abschied von der Mutter, die im offenen Sarg von der Tochter mit Rosen zugedeckt wird; erzählt wird Celestinas erzwungener Selbstmord und die Wiederkehr ihres Mörders; und von der ihrer Krebserkrankung erliegenden Klara, die immer die Äpfel gebracht hat. Tod, Trennung, Abschied grundieren die Lebenserfahrung, die die Mutter ihrer Tocher so erzählend vermittelt.

Das Buch ist gebaut wie ein Rondo, es beginnt da wieder, wo es endet - das alte Spiegelgeschichten-Prinzip. Es ist zugleich ein Triptychon; im Zentrum steht die Erzählerin, die erinnernd zurückblickt auf ihre Kindheit und die ihre Erinnerungen weitergibt an die Tochter. Und das Erzählte geschieht auch an drei Orten: im alten Dorf der Mutter mit ihren vielen Apfelsorten; in einem Ort im Tessin, von dem aus man in die Lombardei schaut, also nahe der italienischen Grenze - der Ort, in dem Mutter und Tochter mit Orion leben; und in jener fernen Stadt, in der die Zukunft ohne Orion liegt.

Leben ist ein ständiger Transformationsprozeß, Wechsel und Übergang, Abschiednehmen und Beginnen. Aber in all der Bewegung ruht eine Kontinuität: die Offenheit für den Schmerz, der in diesem Lebensprozeß auch immer vorhanden ist, wie eine der schönsten und zartesten Passagen des Buches zeigt: "Mit einem Mal war jener Abend wieder da, da ich dich vor dem Einschlafen nicht mehr stillte. Es war der erste Schmerz, den ich dir zufügen mußte, die erste ungeheure Verzweiflung, die ich in dir auslöste, ich nahm deine kleine Hand und legte sie auf meine Wange, wie du das beim Trinken stets getan hattest. Und da mir nichts Hilfreicheres einfiel, sagte ich dir alle ersten Wörter vor, die du schon kanntest, eines nach dem anderen, die ganze Reihe, unablässig wiederholend, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, ein rhapsodischer Singsang, eine magische Litanei, bis du getröstet eingeschlummert warst, immer noch deine kleine Hand auf meiner Wange, und an jedem folgenden Abend bauten wir aus deiner fassungslosen Trauer die Zufluchtsstätte der ersten Wörter, bis dir daraus ein Spiel wurde und dein wachsendes Vokabular über die Welt."

Das ist wie aus dem Zentrum von Gertrud Leuteneggers Lebenspoetik heraus geschrieben. Solcher Poesie der leisen Wörter, der empfindenden Sprache entspringen auch die anderen Geschichten in diesem Buch: die mit den härteren Abschieden, mit den Krankheiten, den Verführungen, dem Sterben. In ihrem Erinnerungsnetz fängt sich die Welt.

HEINZ LUDWIG ARNOLD

Gertrud Leutenegger: "Pomona". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 175 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rike Felka freut sich, dass nach längerer Pause wieder ein Roman der Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger vorliegt und zeigt sich von der Geschichte, die parallel von der Trennung der Hauptfigur von ihrem alkoholkranken Ehemann und von ihrem Rückblick in die eigene Kindheit erzählt, äußerst angetan. Wie aus früheren Büchern der Autorin gewohnt sieht sich die Rezensentin von den "Bilderfolgen", die der Roman in vielen "Nahaufnahmen" entfaltet, beeindruckt, und sie ist auch von der "atmosphärischen Sensibilität", die sich darin zeigt, begeistert. Besonders faszinierend findet Felka die doppelte Perspektive der Erwachsenen und des Kindes in den Schilderungen. Dabei bleibe in machen Passagen unklar, ob es sich um "Traumfetzen" oder um "Realitätspartikel" handelt, die sich in der einem "linearen Satzbau" widersetzenden Sprache spiegeln, stellt die Rezensentin fest. Sie preist den Roman als gleichzeitig "spröde und anmutig" und sie betont noch mal ihre Freude darüber, dass Leutenegger "wieder präsent ist".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Gertrud Leuteneggers Prosa ... ist meditativ und zugleich, bis in jeden Nebensatz, jede syntaktische Bewegung, jede Gedankenfolge hinein, von ungeheurer Dynamik. « DIE ZEIT