Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 3,47 €
  • Buch mit Leinen-Einband

1 Kundenbewertung

Berlin, wenige Jahre nach der We, eine Großküche in Kreuzberg, die ihre Kunden in West und Ost mit abgepackter Kost versorgt. Hier, zwischen riesigen Töpfen und Pfannen, begegnen wir dem Hilfskoch Simon DeLoo, einem ehemaligen Kameramann, den der Tod seiner Lebensgefährtin aus allen Zusammenhängen gerissen hat und der nun Essen ausfährt im "geweten Berlin". Auf seinen Touren trifft er Lucilla, eine junge Stadtstreicherin aus Polen, und glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überläßt ihr die leerstehe Wohnung - doch sie zerreißt sein…mehr

Produktbeschreibung
Berlin, wenige Jahre nach der We, eine Großküche in Kreuzberg, die ihre Kunden in West und Ost mit abgepackter Kost versorgt. Hier, zwischen riesigen Töpfen und Pfannen, begegnen wir dem Hilfskoch Simon DeLoo, einem ehemaligen Kameramann, den der Tod seiner Lebensgefährtin aus allen Zusammenhängen gerissen hat und der nun Essen ausfährt im "geweten Berlin".
Auf seinen Touren trifft er Lucilla, eine junge Stadtstreicherin aus Polen, und glaubt, die Silhouette seiner früheren Frau wiederzusehen. Er versorgt sie mit deren Kleidung, überläßt ihr die leerstehe Wohnung - doch sie zerreißt sein Illusionsgespinst, entzieht sich ihm, und erst in ihrer Heimat, in der vor Hitze flirren Landschaft der Pommerschen Seenplatte, sieht er sie wirklich: ihr Gesicht, in dem es "etwas Helleres gibt als Intelligenz", ihren Körper, der ihn verwirrt.
"Plötzlich empfand er deutlich, was das ganze Leben in ihm vorbereitet hatte, so wie ein ferner Ton, seine Schwingung, die Moleküle stimmt, bis sie Jahrhunderte später eine Form annehmen, den Hauch einer Maserung im Kork, eine grüne Spitze zwischen Steinen."
Aber auch Lucilla hatte Gründe, vor ihrem Leben zu fliehen. Und so finden wir DeLoo am e des Romans im winterlichen Berlin wieder, ohne Träume, aber auch ohne Verzweiflung: frei.
Mit Hitze ist Ralf Rothmann ein Großstadtroman aus unseren Tagen geglückt, in dem er nicht nur die unterschiedlichsten sozialen Existenzen und Milieus zu beschreiben versteht; gleichzeitig - und über allem - erzählt er eine wunderbar melancholische Liebesgeschichte.
Autorenporträt
Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Seit 1976 lebt Ralf Rothmann in Berlin und veröffentlichte bereits einige Romane, Erzählungen und Gedichte, für die er mit mehreren Preisen, u.a. Märkischer Kulturpreis (1986), Förderpreis des Bundesverbandes der Industrie (1989), 19. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim (1992), Literaturpreis für das Ruhrgebiet (1996), Hermann-Lenz-Preis (2001), Kranichsteiner Literaturpreis (2002), Evangelischer Buchpreis (2003), Wilhelm Raabe Literaturpreis (2004) und Heinrich-Böll-Preis (2005), Max-Frisch-Preis (2006) und dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2008) ausgezeichnet wurde. 2010 erhielt er den Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen, 2013 den Friedrich Hölderlin-Preis und im Jahr 2014 den Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Die Mystik der Großküche
Schweigend zerfließen: Ralf Rothmanns Roman „Hitze”
„Hanne, meine Lore, bring uns mal drei Perversikos. Drei doppelte.” Ein neuer Roman von Ralf Rothmann, und wieder die alten Kneipensprüche. Man ahnt es schon, wenn gleich am Anfang des Romans der Kamerablick des Erzählers ein paar rußige Fassaden abgetastet und dann Kurs auf einen frühmorgendlichen Zeitungskiosk nimmt: gleich werden die Münder aufgehen und Dinge sagen wie „Heiliger Bimbam. Da friert einem ja der Schniepel ab.” Und so geht es ohne Unterlass, zur Belustigung und gelegentlichen Verzweiflung des Lesers. Fast alle Figuren stehen an den Kiosken und Trinkhallen unter Kalauer-Zwang, und Ralf Rothmann ist sein Protokollant. Kaum ein anderer Autor besitzt seine Gabe, die räudige, komische und gemeine Sprache des subproletarischen Alltags zu notieren. Früher war das Ruhrgebiet der Schauplatz dieser Sondierungen, jetzt ist es Berlin (wo Rothmann schon lange lebt). Aber dieser neorealistische Chronist des Lebens am Boden der Städte ist kein Literat der Arbeitswelt oder dessen, was von ihr noch übrig ist. Eher scheint es, als bräuchte er den vulgären sprachlichen Mikrokosmos, den er schildern kann wie keiner, nur deshalb, um in ihm sein Schweigen einzunisten.
Um einen Schweiger unter Schwätzern geht es nämlich in diesem Roman. Er heißt Simon DeLoo, und er schweigt, dass es fast weh tut. Kaum ein Wort kommt freiwillig über seine Lippen, und wenn er nicht gelegentlich auf die Fragen seiner Arbeitskollegen eine Antwort gäbe, wüsste man gar nichts über ihn. Aber auch so ist es nicht viel. Simon DeLoo war einmal Kameramann. Dann hat ihn der Tod seiner Frau oder Freundin aus der Bahn geworfen. Nun hat er einen neuen Job als Fahrer für eine Großküche angetreten, die ihre Kunden mit rollendem Essen versorgt. Simon DeLoo hat sich ohne Widerstand in ein Milieu begeben, das einen wie ihn als Fremdkörper wieder ausstoßen muss – als wäre das die Erfahrung, auf die es ihm ankommt.
Man versteht nicht ganz, warum der Mann sich das antut. Ein Intellektueller, von dem am Rande erzählt wird, dass er sich in einer Buchhandlung ein Reclam-Heft mit Texten des Mystikers Jakob Böhme besorgt hat. Ein Mann, der auf die Frage, warum er nicht mehr als Kameramann arbeiten will, fast wie Cézanne antwortet: „Die Zeit ist vorbei, jedenfalls für mich. Man sieht immer weniger. Man wird blind von all dem Augenmüll.” Schon in früheren Rothmann-Romanen lief neben der Beobachtung der Randgruppen- und Sprücheklopfer-Welt ein asketisches Programm mit, eine erzählerische Tendenz, die auf Reinigung und Läuterung, ja auf Erlösung aus war. Simon DeLoo ist ihre Verkörperung: ein Mann, der sich der Dummheit und dem Ekel aussetzt, um an ihnen zu gesunden. Bei all ihrer Hellhörigkeit für die saloppen Redensarten der Straße sind Rothmanns Romane von einem heiligen Ernst erfüllt. Man kann nicht sagen, dass ihnen Humor „fehlt”; eher ist seine Abwesenheit die Bedingung ihres Funktionierens.
Das Blubbern brauner Soßen
Seinen Helden schickt Rothmann zunächst über einen Parcours des Ekels, der auch dem Leser einiges abverlangt. Allein die Großküche: wie und was hier gekocht wird, ist ein Angriff auf jedes kulinarische Feingefühl: „Mit der Axt zerschlug Harry einen Balken Fett und warf die Teile in die Pfannen. Lautlos glitten die Blöcke über das heiße Metall, (...) drei Lachen, in denen hier und da ein Tropfen Wasser aus den Abzugshauben explodierte. Bernd kippte Wannen voller Bratwürste da hinein und rückte sie mit einer Holzzange zurecht, während Klaputzsek ein paar Säcke aus dem Kühlhaus schleifte, Leipziger Allerlei. Er schüttete es in die übrigen Pfannen, und die Türkin warf Butterstücke dazu, leckte sich die Finger. ‚Heidi, Soßenbraun‘.”
Zwischendrin wird schon mal mit Knackern geworfen, die statt im Leipziger Allerlei im Mexikanischen Bohneneintopf landen; oder es detoniert ein Bottich mit Kartoffelbrei. Rothmann beschreibt das Kücheninferno mit unverwandter Geduld. Auf seinen Fahrten kommt DeLoo in Puffs und Copyshops, Schlachthöfe und Obdachlosenheime: Neuberliner Tristesse die ihn genau so teilnahmslos lässt wie die Kneipenabende mit den Großküchenkumpels. So geht der Roman dahin, mal belustigend, mal abstoßend in der Überschärfe seiner Detailbeobachtungen, aber es geschieht lange nichts, was ihm eine Richtung geben könnte.
Raus aus dem Berliner Mief
Bis DeLoo Lucilla trifft, eine junge Polin ohne festen Wohnsitz: „Sie war nicht eigentlich schön, nicht auf den ersten Blick oder im landläufigen Sinn.Ihr Gesicht war eine Spur zu rund oder wirkte doch so, was an den kräftigen Kieferknochen lag, und auf der Nase, kurz vor der Wurzel, gab es eine Narbe, als sei sie einmal gebrochen gewesen. Was aber doch apart aussah. Der Mund war voll, die Oberlippe hatte einen nahezu florentinischen Schwung, und eine warme Klarheit war um Stirn und Augen herum, etwas Helleres als Intelligenz.” Etwas Helleres als Intelligenz: DeLoo wird sich in diese Frau verlieben. Er wird sie waschen und pflegen, er wird sie in die Kleider seiner toten Lebensgefährtin hüllen und sie in ihrer Wohnung unterbringen, bis sie wieder entflieht. Und eines Nachts wieder auftaucht, mit einem Bluterguss am Jochbein, aufgeplatzter Unterlippe und Flecken am Hals. Sie will nach Hause, nach Polen. DeLoo kommt mit. Endlich raus aus dem Berliner Küchenmief, weg von den „Kraut-, Püree- und Blutwurstresten” in überquellenden Mülleimern! „Das ganze Leben” heißt das folgende Kapitel, und man ahnt, alles was bisher geschah, ist noch nicht einmal das halbe Leben gewesen.
Das Pommern dieses Kapitels ist ein leicht verlottertes, aber sonst fast bukolisches, von sommerlicher Hitze glühendes Gelände. „Dolgie ... Ein paar Häuser zwischen Bäumen, ein paar Felder, ein Traum, der ein ganzes Leben brauchte, um wachgerufen zu werden von diesem Wort.” Große Worte findet Rothmann hier, Worte ohne Ironie, Worte, die seinem schweigsamen Helden nie einfallen würden, Worte, die klar machen, dass es zwischen Lucille und DeLoo mit einem Mal ums Ganze geht. Und dass alles zugleich ein Spiel bleibt, in dem die junge Polin ihren deutschen Gast ein ums andere Mal geschickt ins Leere laufen lässt. „Ich kanns hier nicht mir dir treiben, das Gras hat tausend Augen. (...) Polen sind sehr katholisch, weißt du.”
Außerdem ist Marek in der Nähe, ein Mann mit unbestimmter Beziehung zu Lucille. Das Glück dieser pommerschen Sommertage hat für DeLoo mit Erfüllung nichts zu tun. Schließlich kommt es doch zu einem Liebesakt, den Lucille rothmann-typisch kommentiert („Nicht schlecht, mein Hecht”). Dann löst sich das sommerliche Sehnsuchts-Idyll in Luft auf, Lucille ist verschwunden und DeLoo tritt die Heimreise nach Berlin an, nicht desillusioniert, wie es scheint, sondern gefestigt, oder geläutert?
Wir wissen es nicht genau, weil die Hauptperson in diesem Roman nicht spricht. Aber vielleicht gilt für Simon DeLoo ja, was das Romanmotto, das Buch Salomo zitierend, als Frage aufgibt: „Kann auch jemand ein Feuer unterm Gewand tragen, ohne dass seine Kleider brennen?”
CHRISTOPH BARTMANN
RALF ROTHMANN: „Hitze”. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 294 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2003

Heiß bis ins Herz hinein
Berliner Romantik: Die Nachtwachen des Ralf Rothmann

Den Titel von "Hitze", Ralf Rothmanns fünftem Roman, erhellt das Motto, einer der Sprüche Salomos: "Kann auch jemand Feuer unterm Gewand tragen, ohne daß seine Kleider brennen?" Eine Antwort findet sich in einem anderen Roman, den 1804 gedruckten "Nachtwachen des Bonaventura". In der siebenten Nachtwache berichtet der Erzähler von seinem Debüt als Dichter. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, denen er im Rückblick auf seine Karriere kosmischen Sinn abgewinnt. "Als eine vernünftige Anordnung der Vorsehung betrachte ich es übrigens, daß manche Menschen in einen engen erbärmlichen Wirkungskreis und zwischen vier Mauern eingesperrt sind, wo in der dumpfen Kerkerluft ihr Licht nur matt und unschädlich aufflammen kann, so daß man höchstens dabei erkennt, daß man sich in einem Kerker befindet; da es im Gegenteile in der Freiheit wie ein Vulkan auflodern würde, um alles ringsum in Brand zu stecken."

Auf den ersten Blick möchte man das Personal von Rothmanns Roman zu diesen Kerkerinsassen stecken. Der Wirkungskreis der Figuren könnte enger nicht umschrieben und erbärmlicher nicht möbliert sein. Es sind Hilfsarbeiter, deren Alltag sich in schäbigsten Verrichtungen erschöpft. In der dumpfen Luft einer Großküche, deren Produkte die Kunden zurückgehen ließen, sobald sie einmal bei der Zubereitung zugeschaut hätten, haben sich die Aufstiegswünsche verflüchtigt, denen sich das Kleinbürgertum in Rothmanns Ruhrpottromanen scheinbar noch hingab.

In Berlin spielt der neue Roman, wo der Autor seit 1976 lebt, am schlechthin unpoetischen Ort, der jedem Romantiker die Illusion austreiben müßte, das Herz, das das Volk auf der Zunge trage, sei ein reines. Die Berliner Schnauze, jenes verformte Organ, das nur Häßliches von sich gibt, muß als naturgegebener Beweis der Erbsündenlehre unter die vernünftigsten Einrichtungen der Vorsehung gerechnet werden. Rothmanns Berliner sind Gefangene einer Existenz, die keine Worte kennt, nur Sprüche, keine Taten, bloß Reflexe. Was bringt die lakonische Beschreibung dieser Existenz anderes zutage als die Erkenntnis, daß man sich in einem Kerker befindet? Den Zweifel, ob all das Unglück wirklich auf Anordnung der Vorsehung geschieht, ob man sich die Welt als Größtküche vorzustellen hat, in der auch die versalzene Suppe die Kreativität des Schöpfers offenbart.

Ein Obdachlosenversteck im fensterlosen Kellerloch einer Kreuzberger Altbauruine sieht aus wie die Hölle auf Erden. "In der hinteren Ecke verströmte ein Brenner auf einer leeren Bierkiste eine blendende Glut und ließ die Gestalten, die vor ihm auf dem Boden hockten, zunächst nur schemenhaft erkennen." Kein Zweifel: Wer hier eintritt und an Stapeln rostiger Heizkörper vorbei über Videorecorderverpackungspappe im Uringeruch seinen Weg macht, hat alle Hoffnung fahren lassen. Aber die Spiritusflamme hat einen seltsamen Effekt: Sie verwandelt die Penner in "grob umrissene, vom eigenen Goldgrund versengte" Ikonen. Es kann also geschehen, daß jemand ein Feuer unterm Gewand trägt, das ihm zwar die eigenen Kleider vom Leib frißt, aber die Umwelt nicht verzehrt. Das Berliner Lumpenproletariat pfeift auf jede historische Mission und macht von seiner Freiheit Gebrauch, indem es darauf verzichtet, alles ringsum in Brand zu stecken. Die Ärmsten der Armen sind Heilige, verehrungswürdige Inbilder der Entsagung.

Einigen poetischen Flugblättern verdankt der namenlose Nachtwächter des Bonaventura seinen Namen, "die ich aus der Werkstätte meines Schuhmachers fliegen ließ". Eine Schusterwerkstatt gehört zu dem Mietshaus, in dem Simon DeLoo wohnt, der Held von Rothmanns Roman, der Apostel unter den Heiligen, den am Herdfeuer im Morgengrauen einer der neuen Kollegen mit "Kikeriki" begrüßt, weil er den Geburtsnamen Petri trägt. Das Reclam-Heft, das beim dicken Buchhändler gegenüber fünfundzwanzig Jahre auf den Tag gewartet hatte, an dem Simon es kaufen sollte, enthält Schriften von Jakob Böhme. Die "Morgenröte" des deutschen Philosophen bildet den Kern der Hausbibliothek des Nachtwächters, weil Böhme ein zunftfähiger Schuhmacher war.

Wie der Nachtwächter auf seinen Rundgängen wunderliche Zeitgenossen beobachtet, die ihre phantastischen Lebensgeschichten erzählen, so kreuzt Simon mit seinem Lieferwagen die Wege hauptstadtbekannter Sonderlinge, wenn er im nächtlichen Berlin die warmen Mahlzeiten verteilt. In aller Herrgottsfrühe, unter rußschwarzem Himmel, fängt die ungeheuer dichte Eröffnungsszene an, und es wird eigentlich nie richtig hell. Der Fahrer kommt in den Augen der Kunden immer zu spät; mit lächerlichem Meckern protestieren sie gegen das Fatum, daß sie nichts so heiß essen können, wie es gekocht wird.

Kameramann war Simon in seinem früheren Leben, und er hat nichts aus diesem Leben zurückbehalten außer dem objektiven Blick. "Eine kurze Treppe führte in den Abwaschbereich hinauf, steinerne Becken waren zu sehen, eine Papptrommel Pril, und der Koch, immer noch in seinem Mantel, kam eilig durch die Küche und riß die Bürotür auf." Das Auge durchmißt den Raum, und während es wandert, erfolgt ohne Schnitt der Auftritt des Menschen. Keine zwei Seiten später dasselbe Satzmuster. "Die Rührhölzer waren an den Blättern rauh, fast faserig, an den Griffen wie poliert, und der Mann, der eine Latzhose aus Jeans-Stoff und einen dicken Pullover trug, steckte eins in die Suppe." Das poetische Verfahren läuft auf die Aufhebung des Unterschiedes von Beschreibung und Erzählung hinaus. Die Handlungen der Menschen sind so absehbar, daß sie sich wie Eigenschaften erfassen lassen. Und umgekehrt zieht Rothmanns Präteritum alle Zustände der Stadt in den unaufhaltsam zäh davonströmenden Fluß der Zeit.

Genauestens nimmt Simon die Dinge auf, aber es liegt ein Schleier über ihnen, für den in der Motivökonomie des Romans auch die Bilder der Folie und der Haut eintreten können. Ist nun die Welt so trübe, oder ist der Blick des Betrachters getrübt? Der stolzen Bordellmutter aus Königsberg kann keines ihrer Mädchen sagen, was das aus ihrer Heimatstadt gebürtige Genie erfunden hat. In den "Nachtwachen" erklärt es der Astronom: Der "selige Kant" hat dargetan, daß Zeit und Raum nur Formen der sinnlichen Anschauung sind. "Wie wollt ihr Raum finden, da wo es keinen Raum mehr gibt? Ja, was wollt ihr gar beginnen, wenn es mit der Zeit zu Ende geht?"

Der Raum jenseits von Berlin heißt Polen. Dort, im vierten der fünf Teile des Romans, wird Simon alles klar. Er hat eine junge Streunerin nach Hause begleitet, in der er seine verstorbene Geliebte hatte wiedererkennen wollen. Simon führt sie in die mystische Naturbetrachtung ein, bis "das alles plötzlich eine Stimme" hat. So behorcht in den "Nachtwachen" der seltsame Herr Kreuzgang, dem Rat Jakob Böhmes folgend, die Mücken und Fliegen im Sonnenschein, als sprächen sie über wichtige Gegenstände, von denen die Menschen noch nichts ahnen. Über Rothmanns polnischem See schwirren dieselben Insekten, und im Wasser vereinigen sich die Liebenden. Als Simon aber nach Monaten die Wohnung der Toten wieder betreten hatte, da hatte er tote Fliegen in der Badewanne entdeckt. War dort die Geliebte gestorben?

"Ein Bettler ohne Dach und Fach kämpft mit dem Schlummer, der ihn so süß und lockend in die Arme des Todes legen will, wie den leichtsinnigen Fischer die Nixe mit Gesang in die Wellen einlädt." Wie eine Paraphrase dieser Stelle aus der zehnten Nachtwache liest sich Rothmanns Schluß. Simon, auf den Hund gekommen, den man aus der Küche jagt, verreckt im Schnee, über sich eine "insektenverklebte Laterne". Und wie sein Kollege, der ihm nicht helfen kann, "plötzlich ein feines, von fernher kommendes Geräusch" hört, "rätselhaft deutlich", so ist "ganz in der Ferne" über dem Bettler "leise kaum vernehmbare Musik, wie wenn Mücken summen". Die Stichflammen, die im Laufe des Romans immer wieder emporschießen, haben diesen Ausgang angekündigt, denn "das schnelle leuchtende Auflodern der schon verlöschenden Flamme" ist dem Nachtwächter zufolge "der sichere Vorbote des nahen Todes". Dem Tod ist dann auch der "Stadtpoet" bestimmt, den der Nachtwächter als "begeisterten Apostel mit der Flamme auf dem Haupte" beschreibt.

Die Liebe sei nicht schön, es sei nur der Traum der Liebe, der entzücke, sagt der Nachtwächter am Grab des Bettlers. War der polnische Ausflug, der stilistisch komplett aus dem Berlinroman herausfällt, ein Traum? Aus dem Traum von der Wiedergängerin, die ihn ins Wasser zog, kehrte Simon, der Fischer, nicht ins Leben zurück. Eine Lesart des rätselhaften Romans, mit dem Ralf Rothmann, unser Hauptstadtpoet, die Berliner Romantik auferweckt hat.

Ralf Rothmann: "Hitze". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 290 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rätselhaft findet Rezensent Patrick Bahners diesen Roman, von dem er sagt, "Hauptstadtpoet" Ralf Rothmann habe damit die Berliner Romantik auferweckt. Und das, obwohl der Roman, wie wir lesen, über weite Strecken am "schlechthin unpoetischsten Ort" spielt: einem Obdachlosenversteck im fensterlosen Kellerloch einer Kreuzberger Altbauwohnung. Doch die Gestalten, die der Rezensent hier "über Videorekorderverpackungspappe im Uringeruch" ihren Weg machen sieht, werden ihm "Ikonen", "Heilige, verehrungswürdige Inbilder der Entsagung". Im Helden des Romans, einem ehemaligen Kameramann, der jetzt mit einem Lieferwagen unter den Armen der Stadt warme Mahlzeiten verteilt, erkennt der Rezensent eine Referenzfigur zu allerlei symbolträchtiger Literatur- und Philosophiegeschichte: von Bonaventuras siebter Nachtwache über Immanuel Kant bis hin zu Jakob Böhme. Bahners sieht über der Motivökonomie dieses Berlinromans mitunter einen Schleier liegen, und er rätselt, ob nun die Welt selbst oder bloß der Blick auf sie so trübe ist. Nichts desto trotz hat das Buch, aus dem er immer wieder Stichflammen lodern sieht, den Rezensenten über weite Strecken offensichtlich fesseln können.

© Perlentaucher Medien GmbH"