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Hans Magnus Enzensberger hat sich seit seinen literarischen Anfängen immer wieder mit naturwissenschaftlichen Themen, mit Wissenschaftsgeschichte und mit den Erkenntnismethoden und Biographien der Forscher beschäftigt. Seine mittlerweile legendären "Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts" wurden vor mehr als einem Vierteljahrhundert in dem Band "Mausoleum" veröffentlicht. Für ihn ist es ganz selbstverständlich, dass die Poesie und die Wissenschaften nicht nur eine gemeinsame Wurzel haben, sondern ihre Begegnung auf Augenhöhe heute mehr denn je zukunftsträchtig und notwig…mehr

Produktbeschreibung
Hans Magnus Enzensberger hat sich seit seinen literarischen Anfängen immer wieder mit naturwissenschaftlichen Themen, mit Wissenschaftsgeschichte und mit den Erkenntnismethoden und Biographien der Forscher beschäftigt. Seine mittlerweile legendären "Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts" wurden vor mehr als einem Vierteljahrhundert in dem Band "Mausoleum" veröffentlicht. Für ihn ist es ganz selbstverständlich, dass die Poesie und die Wissenschaften nicht nur eine gemeinsame Wurzel haben, sondern ihre Begegnung auf Augenhöhe heute mehr denn je zukunftsträchtig und notwig ist. Dass ein Poet sich mit Mathematik und Chemie, Medizin und Teilchenphysik und Genetik zu beschäftigen hat, wenn er in der Literatur ernst genommen werden will, gilt ihm als ausgemacht; um so mehr, als die Entdeckung der Poesie in den Wissenschaften selbst "unseren trägen Hirnen ein gewisses Fitneß-Training und ganz ungewohnte Lustgefühle verschaffen könnte".
Für diesen Band hat Enzens berger Gedichte aus seinem Gesamtwerk bis hin zu seinem zuletzt erschienenen Band "Leichter als Luft" (1999) und unveröffentlichten Manuskripten zusammengestellt; dazu gesellen sich acht umfangreiche, z. T. bislang ungedruckte Aufsätze.
Autorenporträt
Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer ist er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2002

Das Heimweh nach dem Stahlstich im Blätterteig der Zeit
Wehrlos vor der eigenen Brillanz: Hans Magnus Enzensberger präsentiert seine „Elixiere der Wissenschaft” als Mischgebräu aus Metapher und Anekdote
Also wie steht es jetzt mit der Mathematik, diesem Probstein allen wissenschaftlichen Denkens? Haben wir, die Nichtmathematiker, eine Chance zu kapieren, womit sie sich beschäftigt? Hans Magnus Enzensberger beklagt sie sehr, die Ignoranz der Allermeisten, die sich beifallheischend für völlig unbeleckt und unbeleckbar erklärt, für „unmathematisch” im selben Sinn, wie es unmusikalische Seelen gibt, doch mit weit besserem Gewissen. Auch ein unmusikalischer Mensch, meint Enzensberger, könne doch wenigstens ein oder zwei Lieder singen, wenn auch vielleicht etwas krächzend. Gewissermaßen mit der linken Hand führt er an einer Stelle eine mathematische Operation aus und bemerkt: „Es ist ein Kinderspiel.” Das mag sein – sofern es sich bei dem Kind, das da spielt, um Blaise Pascal handelt. Uns alte Esel aber soll es kränken und beschämen.
Die Frage nach Möglichkeiten der Kontaktaufnahme ist damit noch nicht entschieden. Als Beispiel dafür, wie auch dem Laien komplexe mathematische Probleme auf eine fassliche Weise auseinandergesetzt werden, benennt Enzensberger das vor einigen Jahren erschienene Buch „Fermats letzter Satz” von Simon Singh. Wer es aber gelesen hat, der wird sich auch seiner tiefen Frustration entsinnen: nicht etwa, weil er nicht verstanden hätte, was ihm zugemutet wurde – sondern weil der Autor an einem bestimmten Punkt dieser sich über Jahrhunderte erstreckenden Problemgeschichte einfach aufgehört hat, etwas erklären zu wollen, und von da an dem Laien auf sein Interesse nur noch anekdotisches Kleingeld herausgibt. Es hilft da gar nichts, dass Enzensberger in seinem einleitenden Essay „Zugbrücke außer Betrieb oder Die Mathematik im Jenseits der Kultur” mal wieder auf die Schulen schimpft: Wer einmal das entsagungsvolle Lächeln eines Mathematikers gesehen hat, der aufgefordert wurde, seine Arbeit zu erläutern, der muss erkennen, dass die intellegible Welt an diesem Punkt schmerzlich und hoffnungslos entzweigerissen ist und die Hohenpriester dieses Fachs ihr Geheimnis wahren müssen auch dann, wenn sie es viel lieber teilten. Etwas kleinlaut merkt Enzensberger schließlich an: „Auch für mich bleibt die Zugbrücke zu ihrer Insel hochgezogen.”
Wozu also der ganze Zinnober? Was bringt Enzensberger von dieser aufwendigen Nicht-Begegnung als intellektuellen Gewinn wirklich heim ins Land des Schriftstellers und der Gemeinverständlichkeit? Wie sich bald erweist: isolierte Sustantive, ohne genaue Kenntnis ihrer Bedeutung rein auf den Wallunsgwert hin gesammelt wie einst von Gottfried Benn: „Die Mathematik kennt Wurzeln, Fasern, Keime, Büschel, Garben, Hüllen, Knoten, Schlingen, Streifen, Strahlen, Fahnen, Flaggen, Spuren, Kreuzhauben, Ober- und Unterkörper, Geschlechter, Skelette, Maximal-, Haupt- und Nullideale, Ringe, Einsiedler, Monster, Irrfahrten...” usw. usw. Das ist hübsch; aber es ist recht wenig und wird darum rasch langweilig.
Zuckerkorn und Rosine
Enzensberger jedoch setzt große Hoffnung auf solche „Metaphern”, in denen sich Sprache und Wissenschaft zu schneiden scheinen. Dankbar zitiert er das Wort von der „erkenntnisleitenden Funktion der Metapher” gerade auch in den Naturwissenschaften, die sich auf ihre formelhafte Exaktheit so viel zugute halten. Gerne möchte er das Kompliment erwidern: Und so sucht er in dem langen Aufsatz „Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus” einen geistesgeschichtlichen Komplex durch Rückgriff auf ein mathematisches Verfahren zu erläutern.
Das Phänomen, mit dem er sich beschäftigt, ist also der Anachronismus. Ihn will er nicht einseitig als Rückschlag und Querständigkeit verstanden wissen, als das, was sich dem Strom der Zeit in den Weg stellt, um ihn unnötigerweise zu behindern; sondern er erklärt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen für den grundsätzlichen Zustand der Welt, der sich mit wachsender Komplexität der Lebensverhältnisse nicht etwa ausgleicht, sondern immer weiter differenziert. „Der Systemtheoretiker zieht in eine Altbauwohnung. Der Waffenexperte geht am liebsten in die Oper. Die Dekonstruktivistin leidet an Liebeskummer.” Der Gedanke ist nicht ganz neu, aber sicherlich zutreffend. Neu ist das Bild, das Enzensberger benutzt, um beide vorherrschenden Modelle des zeitlichen Verlaufs, die ihm in gleicher Weise übertrieben simpel erscheinen, zurückzuweisen und an ihre Stelle ein drittes zu setzen. Nicht linear und nicht zyklisch gingen die Dinge vonstatten – sondern wie eine Bäcker-Transformation! Viel Raum wird nun auf deren Darstellung verwendet.
Der Bäcker, der einen Blätterteig anfertigt, walzt die Masse aus, bis sie doppelt so breit, aber nur noch halb so dick ist, schneidet sie dann in zwei Stücke, legt sie aufeinander und wiederholt den Vorgang etliche Male. Wo nun in den – stets gleichbleibenden – Koordinaten dieser Masse steckt jeweils ein bestimmtes Zuckerkorn oder eine Rosine? Es stellt sich heraus, dass sie auf einer zwar vorbestimmten, aber durchaus erratischen Bahn ihres Weges durch den Teig ziehen und mal mehr rechts oben hinten, mal mehr unten in der Mitte zu finden sind. Dann, nach immerhin zehn Seiten, kommt Enzensberger zur Nutzanwendung: „Weder ist es den Reaktionären aller Spielarten je gelungen, die Welt auf die Zustände irgendeiner – mehr oder weniger imaginären – guten alten Zeit zurückzuführen, noch hat sich durch politische, technische oder kulturelle Revolutionen ein für allemal abschaffen lassen, was im ungeheuren Teig der Zeit an Potentialen verborgen liegt.”
Der ungeheure Teig der Zeit. Man fühle jeder Metapher auf den Zahn, worin ihr Tertium comparationis besteht, und man wird ahnen, wohin sie den Ahnungslosen entführt. Zeit ist hier aufs erstickendste als Raum angeschaut, dicht gepackt und scharf begrenzt; die Elemente in ihm sind, ohne dass dem Autor dies aufzufallen scheint, sämtlich als so abzählbar wie unzerstörbar vorgestellt. Wie schlägt hier etwa die Sterblichkeit des Individuums zu Buche, die man doch als den wichtigsten einzelnen Faktor der Weltgeschichte wird auffassen müssen? Gar nicht; es hat sich zu einem rosinenförmigen Ahasver gewandelt. Ohne es zu merken, ist Enzensberger doch wieder beim alten Bild der Konstellation gelandet, er steht der Astrologie näher als er glaubt; sein Gegenentwurf bleibt gefangen im zyklischen Modell, nur dass die Zahnräder dieser Kuchenuhr elliptische Gestalt und exzentrisches Gebaren angenommen haben, so dass die Sache schwer überschaubar wird. Und, nebenbei: Das vorrangige Ziel, nämlich das Überlappen des Alten und Neuen im Anachronismus sinnfällig zu machen, verfehlt dieser Blätterteig vollkommen, denn in jeder seiner Phasen kennt er nichts als die reine Synchronie.
Wenn etwas für Enzensberger typisch ist, dann diese Wehrlosigkeit vor der Brillanz des eigenen Einfalls. Darum geht er der Metapher so leicht auf den Leim; was er aus ihrer Fulguration an Erleuchtung gewinnt, das sinkt ihm durch ihre Willkür wieder in Nacht zurück, und es ist für den Geblendeten finsterer als zuvor. Enzensbergers Versuch, der Welt der Wissenschaft auf literarischem Weg beizukommen, verlässt sich deswegen noch auf eine zweite Stütze: die Anekdote. Denn anders wird man die biografischen Langgedichte, die zumeist schon vor einem Vierteljahrhundert im „Mausoleum: Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts” erschienen sind, kaum subsumieren können. Das Muster ist immer das gleiche: Alle hatten sie mehr oder weniger einen Sprung in der Schüssel, die Herren Wissenschaftler und Technokraten, Alan Turing nicht anders als Frederick Winslow Taylor. Bei Condorcet „z.B. / die weiße Schleife im Haar: Trifft es zu, dass seine Mutter ihn / aus Bigotterie der Heiligen Jungfrau weihte, und dass er unter Prälaten ging, / bis er fünfzehn war, in Häubchen und Krinoline, eingesülzt in Gebete?”
Die Füße der Unglücklichen
Das ist rettungslos geschwätzig und verrät von der Leistung dieser Leute überhaupt nichts. Die wird stattdessen über den immerselben Kamm des Genie-Klischees geschoren: arm waren sie, verkannt, soziale Idioten, doch ihrer Zeit natürlich weit voraus. „Dann saß der Alte wieder / unbezahlt, schlaflos, unbemerkt, gichtig, im Hôtel de Cluny. / Die Stadt war dunkel. Angst, Hunger, Wucher und Inflation. / Eine Viertelstunde lang Stille, dann wieder das Scharren der Feder.” So heißt es von Charles Messier, dem Entdecker der Sternhaufen, aber es gibt wirklich keinen Grund, warum sich damit nicht auch die Lebensbilder von Charles Babbage oder Étienne Jules Marey schmücken ließen. Unausgesprochen steckt in diesen säkularen Legenden die Idee des Heiligen: dass nämlich der Fortschritt der Welt sich der Füße der Unwürdigen und Unglücklichen bedient und den Betreffenden damit ein schmerzensreiches Glück ganz eigenen Zuschnitts bereitet, auch wenn es das MG ist, das sie erfinden.
Und es erfüllt diese Balladen etwas, das man das Heimweh nach dem Stahlstich nennen könnte. In dem Maß, wie die szientifischen Errungenschaften der Gegenwart im infinitesimal Großen und Kleinen, dem allzu Raschen und allzu Abstrakten ihre Bildfähigkeit verlieren, wächst den Funden und Konstrukten früherer Epochen der Wissenschaft, die man einmal verächtlich als überholt abgetan hat, ästhetischer Reiz zu und die Romantik einer altertümlich reichen Präzision. „Astrolabium” nennt Enzensberger ein Gedicht, und es ist ein einziger langgezogener Seufzer nach den „vergangenen Wörtern aus Messing”: „Auf der Planisphäre das gestochene Bild / der Himmelskugel, Azimute, / Almukantaraten und Horizont, / und über ihr kreisend ein zartes Netz / aus feinen Stegen, an deren Spitzen / Aldebaran, Rigel, Antares und Vega / zu sehen sind.” Ja, wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht!
Insgesamt hat Enzensberger mit seinen „Elixieren der Wissenschaft” ein rechtes Sammelsurium der Zweitverwertung aufgetischt, oder, etwas freundlicher ausgedrückt: einen Längsschnitt durch sein bereits gedrucktes Werk, insofern es zum Thema zu gehören scheint; die ältesten Stücke haben fast vierzig Jahre auf dem Buckel. Davon, dass die Gedichte, Zeitungsartikel und Essays in dieser Zusammenstellung einander neu erhellen würden, kann eigentlich kaum die Rede sein. Vielmehr tut jedes davon, was Enzensbergersche Texte nun einmal zu tun pflegen, manchmal auf ärgerliche und manchmal auf charmante Weise: Sie wetterleuchten im Schein einer phosphoreszierenden Intelligenz und zerstäuben – Kinderspiel! – einen feinen Hochmut. Man lese sie, wie sie geschrieben sind, als Blitzlichter, nicht als Herdfeuer der Erkenntnis, und man ist mit ihnen wohl bedient.
BURKHARD MÜLLER
HANS MAGNUS ENZENSBERGER: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 281 Seiten, 19, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Die letzten Mohikaner der Metaphysik erleben gerade ihre manische Phase
Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit: Hans Magnus Enzensberger singt ein neues Lied von den zwei Kulturen / Von Gero von Randow

Das gibt Ärger. Es sei denn, "der Shakespeare-Forscher, der noch nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoanalytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforscher weiß" - es sei denn also, diese und andere "unfreiwillig komische Figuren", die Hans Magnus Enzensberger aufführt, lesen seinen Band "Die Elixiere der Wissenschaft" nicht. Womit leider gerechnet werden muß, denn "bekanntlich", schreibt der Autor, "ist die Ignoranz eine Himmelsmacht".

Enzensbergers neues Buch versammelt Essays, Aufsätze, Zeitungsartikel und Gedichte aus beinahe vierzig Jahren schriftstellerischer Arbeit an den Tatsachen. Das verbindende Sujet ist die Wissenschaft. Zu den leidenschaftlichsten Stücken zählt der Vortrag "Zugbrücke außer Betrieb", 1998 gehalten auf dem mathematischen Weltkongreß in Berlin. Auf diesen Auftritt ist die Mathematikerzunft mindestens so stolz wie auf den Beweis des Vierfarbensatzes, denn endlich erkannte ein Intellektueller aus dem anderen Lager ihren Beitrag zur Kultur an und beklagte noch dazu, daß die Kollegen Geistesgrößen in Deutschland überwiegend ungebildet seien, weil sie keinen blassen Schimmer von Mathematik, Natur- und Ingenieurwissenschaften hätten. Was umgekehrt keineswegs der Normalfall ist: Unter Naturforschern und Mathematikern ist profunde Kenntnis der Geisteswissenschaften recht häufig anzutreffen.

Das alte Lied von den zwei Kulturen, möchte man meinen. Doch nein, es ist ein neues Lied, und zwar ein garstigeres, weil politisches: Einige Naturwissenschaften schicken sich mittlerweile an, das Menschsein selbst zu verändern - das müßte doch das größte Thema der humanistisch Gebildeten werden? Ist es aber nicht. Und wenn, dann urteilen sie zumeist, ohne sich zuvor um die Tatsachen zu bemühen.

Nicht, daß Enzensberger der erste oder einzige Literat wäre, der aus den Naturwissenschaften Funken schlägt. Aber er ist weithin so ziemlich der einzige, der sie ernst nimmt. Als abschreckendes Beispiel des Gegenteils möge Botho Strauß' Essay "Beginnlosigkeit" gelten, in dem Karikaturen kosmologischer Theorien verwurstet werden oder, noch spektakulärer, das öffentliche Sinnieren Peter Sloterdijks über sogenannte Anthropotechniken. Von letzterem unterscheidet sich Enzensberger auch durch das, was er selbst "common sense" nennt. Ihn wendet er gerne polemisch. Die Postmodernen etwa, für die sich die Welt in Simulationen auflöst, kommentiert er trocken: "Wer hungert, wird von Simulationen nicht satt", und die Heilsversprechen der Gentechnik kontert er mit dem Hinweis, daß der therapeutische Imperativ glaubhafter wäre, "wenn er es mit Krankheiten wie der Malaria oder der Tuberkulose aufnähme, an denen Jahr für Jahr Millionen sterben". Da ist von seinem früheren Linkssein dann doch etwas übriggeblieben, wohl der beste Teil: Das Leid der Massen bleibt eine empörende Tatsache.

Immer geht es um die Wirklichkeit. Auch dort, wo von den abstraktesten Ideen der Wissenschaft die Rede ist - so ganz anders als bei jenen, die beispielsweise über Unschärferelationen, Quantensprünge und Elementarteilchen schwafeln, ohne jemals ein Lehrbuch der Physik in die Hand genommen zu haben. Enzensberger dagegen ist sogar zum Europäischen Kernforschungszentrum CERN gefahren, um in Augenschein zu nehmen, was die Hochenergiephysiker dort treiben. Es kam der Essay "Die unterirdische Kathedrale" heraus, in dem die Tatsachen und die Ideen auf jenen Plätzen anzutreffen sind, die ihnen jeweils zukommen. In diesem Essay schreibt Deutschlands bester Wissenschaftsjournalist.

Und ist doch ein Dichter. Einer, der daran festhält, "daß die Poesie von allem handeln kann, was der Fall ist". In den Essays und Artikeln klingt unüberhörbar der Poet durch, und dann gibt es natürlich auch die Gedichte selbst, mit denen dieser Sammelband nicht spart. Oft spielen sie mit den Metaphern, deren sich die Wissenschaft bedient; begleitet werden sie von einem Postskriptum, in dem der Autor einen Ausblick auf die blühende Metaphernlandschaft der exakten Wissenschaften gewährt.

Dies ist also das eine: Der Dichter läßt sich von den Metaphern der Wissenschaft entzünden, von den "Riemannschen Flächen" etwa oder den "Hausdorff-Räumen". Das andere: Er benutzt die Forschungsergebnisse selbst als Metaphern. Das ist ein ungleich anspruchsvolleres Vorhaben und zugleich eines, das nicht nur poetisch, sondern auch theoretisch ist - aus welchem Grund Einwände gestattet sind. Ein Beispiel: In seinem schon 1983 erschienenen Gedicht "Hommage à Gödel" beschreibt er den mathematischen Befund, daß sich in jedem hinreichend mächtigen Kalkül Sätze formulieren lassen, die zwar wahr, aber nicht mit den Mitteln dieses Kalküls beweisbar sind. Woraus der Dichter folgert: "Du kannst dein eignes Gehirn / mit deinem eignen Gehirn erforschen: / aber nicht ganz." Ein bloßer Analogieschluß, kein zwingender. Zeilen eines Gedichts, in schlußfolgernder Diktion geschrieben. Kurz vorher heißt es "doch bedenk: / Gödel hat recht", und das erinnert wohl nicht zufällig an den Duktus Brechtscher Lehrgedichte. Ebenso wie das Auftauchen von Karl Marx in dem Gedicht über Charles Babbage: Er "prüfte die Rechnung nach und befand sie für richtig".

Lakonische Poesie, in der die Tatsachen gewissermaßen in Eigenfrequenz schwingen. Der letzte Satz des Buches sieht "die Poesie auch dort am Werk, wo niemand sie vermutet", und darin äußert sich nicht etwa hündische Demut des Dichters angesichts der modernen Demiurgen, sondern ganz im Gegenteil ein poetisches Selbstbewußtsein. Hier wird die Poesie der Forschung herauspräpariert. Ohne Verherrlichung derselben, eher mit Staunen und durchweg kameradschaftlicher Ironie, etwa wenn von den Kosmologen die Rede ist, den "letzten Mohikanern der Metaphysik". Besonders die Gedichte über historische Gestalten aus Forschung und Technik zeigen, daß Enzensberger keineswegs zu jenen siebenhundert Brechtschen Intellektuellen gehört hätte, die der Dramatiker einen Öltank anbeten ließ. Etliche der Gedichte Enzensbergers entstammen dem Band "Mausoleum" (1975). Sie sind überaus aktuelle Kritik der Wissenschaft und ihrer Hagiographie und zeigen vor allem die Leistungen der Großen im Kontext ihrer individuellen Biographie und ihrer Klassengeschichte. Gottfried Wilhelm Leibniz: "Wie ein Automat". Condorcet: "Ahnherr der rüdesten Technokraten". Babbage: "Zwangsneurotiker". Malthus: "Unter den Propheten der Katastrophe der Muntersten einer". Das alles ist sorgsam recherchiert und nicht ohne Respekt für die Riesen der Forschung geschrieben: "Aber wehe, wenn Jàncsi aus Budapest / anfängt zu denken" - das ist John von Neumann.

Im Jahre 1991 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger das Gedicht "Ein Hase im Rechenzentrum". Da hat eine kleine Kreatur Angst vor der Technik, und doch ist sie den Computern und Monitoren und Druckern überlegen; ihre Zukunft steht außer Frage. An anderer Stelle jedoch äußert Enzensberger, Parteigänger des biologischen Lebens, ernstliche Sorge um die Zukunft, namentlich in seinem zuerst in dieser Zeitung erschienenen Text "Putschisten im Labor". Hier kritisiert er die hegemoniale Position der Informatik und Biologie, die sich als "Leitwissenschaften" den besten Zugang zu den Ressourcen Geld und Aufmerksamkeit erobert haben. Den in diesen Wissenschaften spukenden Phantasien von der Selbstabschaffung der Gattung rückt Enzensberger kritisch zu Leibe - auch diesmal wohlinformiert, was nicht von allen Kritikern der Biotechnik gesagt werden kann - und diagnostiziert eine "manische Phase" dieser Disziplinen. An deren Ende könnte öffentlicher, militanter Widerstand stehen, schreibt er, gegen den Wackersdorf oder die Aktionen radikaler Tierschützer harmlos wirken, geht es dann doch "nicht mehr um abstrakte Risiken", sondern "um die eigene Haut, um Zeugung, Geburt und Tod".

Enzensberger ist eben politisch geblieben. Überzeugungen haben sich verändert, die Haltung indes blieb über die Jahre die gleiche, weshalb denn auch der Stil der aus so unterschiedlichen Zeiten stammenden Texte durchgehend dem entspricht, was wir an diesem Autor haben: Hier blickt jemand die Welt an, möglichst genau, und entdeckt Erregendes, das von größerer Realität ist als all die Einbildungen, die der gewöhnliche Geistesbetrieb so hervorfördert.

Die "Elixiere der Wissenschaft" sind Mittel, sich klare Sicht zu verschaffen. Wer mag, nenne diesen Zustand Nüchternheit.

Hans Magnus Enzensberger: "Die Elixiere der Wissenschaft". Seitenblicke in Poesie und Prosa. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 281 S., geb., 19,90 .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Bevor Angelika Overath sich mit Enzensbergers Anthologie auseinandersetzt, schickt sie die Grundanforderung an die Textsorte Anthologie voraus, nämlich, "dass die Summe ihrer Teile mehr ergeben muss als die Addition einzelner Texte". Dass dies hier der Fall ist, dass nämlich Enzensbergers Texte miteinander sprechen und aufzeigen, wie sehr sein Werk von den Naturwissenschaften geprägt ist und dass er - trotz luftigen Rufs - seinen Grundinteressen treu geblieben ist, gefällt der Rezensentin außerordentlich. Sie bescheinigt dem Buch Eleganz in der Verknüpfung von "Problemen und Persönlichkeiten" aus den verschiedenen Naturwissenschaften und zeigt sich erfreut über die Ergiebigkeit der Perspektivvielfalt. Nur über eins muss Overath schmunzeln. Von jeher sei es ein charakteristischer Zug von Enzensbergers Rhetorik gewesen, Klischees zu züchten, die sich dann schwungvoll zertrümmern ließen. Schade nur, dass diese Attrappen nicht immer echt wirkten. Auch ein bisschen schulmeisterlich findet die Rezensentin den "Fliegenden Robert zwischen den Disziplinen", wenn zum Beispiel die beiden Unvollständigkeitssätze Gödels und Fermats letzter Satz einfach beim Leser vorausgesetzt werden. Hier, gesteht die Rezensentin, hat auch sie sich "disqualifiziert". Gelesen hat sie das Buch aber "trotzdem sehr gerne".

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