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Viktor Abravanel, geboren 1955 in Wien, stammt aus einer Familie von Nazi-Opfern. Er wurde Historiker, Spezialist für Frühe Neuzeit. Bei einem Spinoza-Kongress soll er einen Vortrag halten über das Thema "Wer war Spinozas Lehrer?". Diese Arbeit und die damit verbundenen Recherchen mögen ihn auf die Idee gebracht haben, beim Klassentreffen, am Vorabend seiner Abreise nach Amsterdam, die Frage zu stellen "Wer waren unsere Lehrer?". Der Lehrer von Baruch Spinoza war der Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel, geboren 1604 in Lissabon, der als Kind mit seinen Eltern vor der Inquisition nach Amsterdam…mehr

Produktbeschreibung
Viktor Abravanel, geboren 1955 in Wien, stammt aus einer Familie von Nazi-Opfern. Er wurde Historiker, Spezialist für Frühe Neuzeit. Bei einem Spinoza-Kongress soll er einen Vortrag halten über das Thema "Wer war Spinozas Lehrer?". Diese Arbeit und die damit verbundenen Recherchen mögen ihn auf die Idee gebracht haben, beim Klassentreffen, am Vorabend seiner Abreise nach Amsterdam, die Frage zu stellen "Wer waren unsere Lehrer?". Der Lehrer von Baruch Spinoza war der Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel, geboren 1604 in Lissabon, der als Kind mit seinen Eltern vor der Inquisition nach Amsterdam flüchtete. Die Rekonstruktion der Biographie dieses Rabbi und Viktors Erinnerungen an seine Schüler- und Studentenzeit zeigen verblüffende Parallellen. Wäre das die Erklärung dafür, dass unsere Biographien nach den Tragödien unserer Väter und Vorväter nur noch Farcen sind? Oder finden wir in der Geschichte immer nur Geschichten, die uns bekannt vorkommen?` Im Grunde haben wir zu allen Zeiten immer dieselbe Lehrerin: die Geschichte. Und immer sind wir schlechte Schüler. Robert Menasse hat einen großen Zeitroman geschrieben, der zwischen den Zeiten oszilliert. Die Erzählung "wie es wirklich war", zeigt am Ende: unseren Umgang mit Geschichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2001

Die Hölle Heimat
Robert Menasse spielt mit Unzugehörigkeit · Von Friedmar Apel

Ein Skandal im Portugal des siebzehnten Jahrhunderts, zur Zeit der Inquisition und der Autodafés: Ein kleiner Junge, der Mané genannt wird, nagelt eine Katze ans Kreuz. Das bewirkt einen Ausbruch von religiösem Wahn, von Brand, Mord und Verfolgung, der schließlich eine Stadt in Schutt und Asche legen und ein Land in den kulturellen Niedergang führen wird.

Ein Skandal zum fünfundzwanzigjährigen Maturajubiläum in Wien am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts: Der Historiker Viktor Abravanel nutzt das Klassentreffen, um eine Liste mit den angeblichen NSDAP-Mitgliedsnummern der Lehrer zu verlesen. Die betagten Pädagogen und die ehemaligen Schüler verlassen daraufhin das Hinterzimmer des Restaurants, lediglich die seinerzeit von Viktor vergeblich angeschwärmte Hildegund bleibt kichernd mit ihm zurück.

Ausgehend von diesen beiden Ereignissen und ihren offenbar unvergleichlichen Folgen, entwickelt Robert Menasse ein tiefsinniges geschichtsphilosophisches Gedankenspiel, zugleich einen komplexen poetologischen Versuch über das Verhältnis von Wissen, erinnerter Erfahrung und Erzählen, in dessen Verlauf die Analogien zwischen den beiden Epochen und Protagonisten immer dichter, aber auch immer fragwürdiger werden. Menasse täuscht den Leser von Anfang an nicht darüber hinweg, daß er einer angestrengten und über weite Strecken anstrengenden Konstruktion wird folgen müssen, in der die Ereignisse, die Personen und ihre Namen und auch die Orte mit Bedeutung geladen sind.

Zu Beginn der aktuellen Geschichte führt der Erzähler den Leser in die soziale Hölle im "Goldenen Kalb", zum Schluß muß er mit Viktor und Hildegund, die früher Gundl hieß und davor Hilli, "durch die Himmelpfortgasse" ins unerträgliche Paradies der "Eden.Bar", an deren "Zerberus" das "Ende der Geschichte" beinahe scheitert. In der alkoholdurchnebelten Nacht dazwischen erzählt Viktor die Geschichte Manés als Analogie und Kontrast, als Kontinuität und Diskontinuität des Historischen und Biographischen zugleich. Das behagliche Erlebnis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Ereignissen und einem Lebenslauf verweigert der Erzähler der ehedem Angebeteten wie dem Leser auch im nachhinein: "Nichts war logisch gewesen." Geschichte wie Erzählung werden als retrospektive und selektive Konstruktion unter bestimmtem Interesse analytisch und reflexiv kenntlich gemacht. "Das nennst du Erinnerung?" fragt da Hildegund, schnippische Vertreterin des gesunden Volksempfindens.

Bei Spinoza und dann bei Vico und der deutschen Romantik lag der Keim der Erkenntnis verborgen, daß Geschichte Erzählung ist, die Chance der Freiheit in einer nach den Wünschen des Menschen gestalteten Wirklichkeit. Bei Menasse aber erscheint Geschichte, da eine befreite Welt weniger wahrscheinlich denn je scheint, ohne menschenfreundliche dialektische Vermittlung immer auch als ein Angst- und Zwangszusammenhang, ein Kontinuum von Höllen, als ewige Wiederkehr eines Gleichen, das je nur die Alternative von "Mitlaufen oder Davonlaufen" zuläßt. Da ist es zuletzt "gleichgültig, ob wir über das Jahr 1972 reden oder über das Jahr 1622". Nur in einer Beziehung erscheint Geschichte bei Menasse als organischer Vorgang: als revoltierendes Herauskotzen dessen, was dem Individuum allemal unzuträglich ist, ob im Österreich des zwanzigsten Jahrhunderts oder im Lissabon des siebzehnten. Da liegen dann eklige Brocken im Becken, und ihr Zusammenhang ist übelriechender Schleim. Historische Erkenntnisse sind für Viktor Abstoßungen oder Abtreibungen, symbolisch Formen des Widerstands und des Entrinnens. Die wahren historischen Erkenntnisse aber stehen der gemeinen menschlichen Erfahrung fern wie "Krater auf einem anderen Planeten". Solche Ferne der Geschichtserfahrung kann Viktor keiner vermitteln, die Hildegund heißt und Fragen stellt wie: "He! Meinst du das jetzt geschichtspessimistisch oder optimistisch?"

Menasses Gedankenspiel in seinem Roman "Die Vertreibung aus der Hölle" basiert auf der eigenen Biographie, vor allem aber auf der Geschichte zweier berühmter Familien aus dem portugiesischen Geheimjudentum. Manoel Dias Soeiro aus Lissabon entkam mit seiner Familie den Autodafés und konnte nach Amsterdam fliehen, wo er unter dem Namen Samuel Manasseh (auch Menasseh) Ben Israel als Schriftsteller und Oberrabbiner zu Ansehen gelangte. So zählte er auch zu den Lehrern Spinozas, der sich jedoch von ihm und den strengen Ritualen des Judentums abwandte. Manassehs letzte Mission, die Restitution des Judentums in Cromwells England, mißlang. Viktor ist das Kind einer Familie von Opfern des Nationalsozialismus und, zumindest nach der Vermutung seines ewig betrunkenen katholischen Religionslehrers, der sich in den Archiven des Vatikans auskennt, ein später Nachfahr der Abravanels (Abrabanels), "einer der bedeutendsten jüdischen beziehungsweise geheimjüdischen Familien der frühen Neuzeit", also ein kleiner "Christusmörder". Isaak Abravanel hatte als berühmtester Vertreter der nach Italien ausgewanderten Linie "maßgeblichen Anteil an der Entwicklung und dem Aufbau des ersten modernen Zentralstaats", war also als Davongelaufener ein Mitmacher. Es gab aber auch eine Amsterdamer Linie, was Menasse zur Verknüpfung der Familiengeschichten nutzt.

Menasses Kernthema ist die "erzwungene existentielle Doppelbödigkeit", die als ein Erbe des geheimen Judentums die beiden Protagonisten bereits in der Jugend bestimmt, als sie von ihrem Judentum noch gar nichts wissen. Mané und Viktor teilen das Schicksal, daß sie, einmal aus der Idylle der Kindheit aufgeschreckt, dem "Terror der Unzugehörigkeit" ausgesetzt sind. Weder Mitlaufen und Anpassung noch Davonlaufen und die kleinen inneren Triumphe der Subversion, noch später das manische Studium und die Gelehrsamkeit können von einer grundsätzlichen Angst im Sozialen befreien. Manoel entrinnt ins liberale Holland, das Menasse als frühe multikulturelle Gesellschaft beschreibt, doch findet er dort nicht den Anfang der Freiheit, sondern den "Beginn des Bewußtseins der Unfreiheit". Viktor entrinnt dem Elternhaus und dem katholischen Internat mit seinen händereibenden Klerikern, aber in der Wohngemeinschaft und in der scheinhaften Solidarität der politischen Gruppen der siebziger Jahre widerfahren ihm Ausgrenzung, Verletzung und Herabwürdigung, so als sei der Religionskritiker wie zuvor Manoel "Opfer der Allmacht" eines Gottes, der nicht die Exempel, sondern "nur die Ausnahmen" statuiert. Und immer stellt sich hinterher als Hölle heraus, was Heimat hätte sein sollen.

Diese Doppelerzählung zeugt nun eine Reihe von historischen Analogien. In der spanisch-portugiesischen Inquisition und der Gegenreformation unter Einfluß der Jesuiten am Beginn der Neuzeit ist bereits der Naziterror mit der ganzen Verquickung von Blutwahn, Machtgier, Materialismus und Denunziantentum präfiguriert. Diese archaischen Strukturen finden sich in kleinerem Maßstab in den sozialen und gesellschaftlichen Sphären der geschichtsvergessenen Gegenwart beziehungsweise der Nachkriegszeit wieder, ihr Einfluß reicht gerade aufgrund der Verdrängungsgeschichte bis hinein in die Empfindungen und Träume des auf immer beschädigten Individuums. Gleichzeitig aber destruiert Menasse solche Analogien in der erkenntniskritischen Reflexion sowie in der Projektion ins Lächerliche. Was einmal tragisch und noch jüngst entsetzlich gewesen sein mag, ist in der Spätmoderne zur Farce verkommen. Das Anhören von "Kuschelrock III" erscheint als Folter der Moderne, und der Kampf um die Seelen hört sich an der Wiener Universität der Siebziger so an: "Friedl und Werner lachten, worauf Hartmut sofort auf die ,Produktion von Neurosen' zu sprechen kam." Die Mythen leben nur noch als Namen und Warenformen fort; die archaische Gewalt ist im Sport kanalisiert. Die Tätermentalität der Deutschen zeigt sich nur noch beim Fußball, so in Paul Breitners Elfmeter beim Endspiel 1974, den er aus dem Stand verwandelte, "eiskalt wie ein Landser im Bastei-Heft". Da wurde Holland "eine Metapher für das österreichische Lebensgefühl im Hinblick auf die Deutschen: eindeutig besser, sympathischer, kreativer, zeitweise geradezu genial, aber unglücklich untergegangen". An die Stelle Freuds ist der Sportreporter getreten. So wird der Standardkommentar der Religionsprofessorsgattin Hildegund nachvollziehbar: "Viktor, du spinnst."

Robert Menasses sogenannter Roman ist eine reflexive Höchstleistung und ein Kraftakt der Materialbewältigung. Es ist ein intelligentes Vexierspiel, im historischen Erzählstrang aber auch anrührend. Dagegen ist die Erzählung des Jüngstvergangenen über weite Strecken kreuzlangweilig und in ihrem verkrampften Humor ärgerlich. Die Taten und Leiden der Personen können den Leser nur selten berühren. Sie sind entweder Chargen und Stichwortgeber wie die Lehrer, Kleriker und Studenten, Chiffren der Familiengeschichte wie die Großmütter und Onkel oder Verkörperungen von Thesen. "Alle Formulierungen sind von mir", sagt Viktor zur Charakterisierung seiner im Archiv gestalteten Erinnerungen. Das gilt natürlich auch für den Autor, der voller weiser Sprüche ist und unendlich intelligenter als seine Figuren - und gerade deshalb für riskante denunziatorische Verwirrung sorgt. Viktor, aber auch schon der junge Mané haben "Archive im Kopf", die Robert Menasse dort untergebracht hat. Besonders Viktor balanciert mit derart vollgestopftem schwitzenden Schädel hart am Rande des lang- und breitgetretenen Klischees vom lebensuntüchtigen Denker mit der "destruktiven Intelligenz" und dem jüdischen Selbsthaß.

Das wunderbar leuchtende Motiv des Entrinnens, das die "Vertreibung aus der Hölle" durchzieht, wird am Ende in einem ziemlich manierierten dreifachen Kunstgriff mutwillig verklüngelt. Viktor verzieht sich zum Spinoza-Kongreß nach Amsterdam, um dort über Menasseh Ben Israel zu referieren. Der dargestellte Rabbi wiederum läßt den Leser symbolisch im dunklen zurück. Menasse schließlich verabschiedet sich mit einer kabbalistischen Spielerei, die alles in Frage stellt, was der großmächtige Autor veranstaltet hat. Der düpierte Leser hütet sich dennoch, Hildegunds bevorzugtes Schimpfwort zu zitieren, denn ganz dumm ist er schließlich auch nicht.

Robert Menasse: "Die Vertreibung aus der Hölle". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 494 S., geb., 49,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Martin Luchsinger ist von dem Roman, den der Autor nach 6jähriger Pause veröffentlicht hat, völlig begeistert. Das Buch, in dem das Schicksal des Rabbis Samuel Menasse im 17. Jahrhundert mit dem Leben seines "entfernten Verwandten" Viktor Abranavel in den 60er und 70er Jahren und in der Gegenwart verknüpft wird, beeindruckt den Rezensenten durch seine "Vielschichtigkeit". Luchsinger stellt angetan fest, dass anhand der individuellen Geschichten der Hauptfiguren ganze Epochen in den Blick rücken. Dank der "detailgenauen, lebendigen" Darstellung werde das schwierige Leben des Rabbis ebenso greifbar wie die 60er und 70er Jahre, schwärmt Luchsinger. Er ist hingerissen von dem "ungewöhnlichen, höchst unterhaltsamen, aber auch unbequemen" Roman: Zweifellos sei dies das "bisher beste" Buch Menasses, erklärt er.

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