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Die Chronik der Gefühle ist ein in der Gegenwartsliteratur singuläres Unternehmen: Sie erzählt in Lebensläufen und Geschichten von den Erfahrungen und vor allem den Gefühlen, mit de-nen wir auf Zeit, Epoche und deren Brüche reagieren. Alexander Kluges Opus magnum ist ein durch Zeit und Geschichte mäanderndes Buch der Emotionen, das aus immer neuen Blickwinkeln unsere manchmal rätselhaften, manchmal seltsam resistenten Verhaltensweisen, Reaktionen und Leidenschaften zu ergründen sucht. Die beiden Bände Basisgeschichten und Lebensläufe enthalten sämtliche erzählerischen Texte Kluges in einer…mehr

Produktbeschreibung
Die Chronik der Gefühle ist ein in der Gegenwartsliteratur singuläres Unternehmen: Sie erzählt in Lebensläufen und Geschichten von den Erfahrungen und vor allem den Gefühlen, mit de-nen wir auf Zeit, Epoche und deren Brüche reagieren. Alexander Kluges Opus magnum ist ein durch Zeit und Geschichte mäanderndes Buch der Emotionen, das aus immer neuen Blickwinkeln unsere manchmal rätselhaften, manchmal seltsam resistenten Verhaltensweisen, Reaktionen und Leidenschaften zu ergründen sucht.
Die beiden Bände Basisgeschichten und Lebensläufe enthalten sämtliche erzählerischen Texte Kluges in einer Dramaturgie, die »funktioniert« wie unsere Erinnerung: von der Gegenwart aus rückwärts. Die neuesten Geschichten erzählen vom Beginn des 21. Jahrhunderts, schildern Lebensläufe um 1989, aus der Zeit der Bonner Republik und weiter zurück bis 1945. Manchmal in lakonischer Kürze, manchmal ausgreifend und mit Pressefotos überraschende Zusammenhänge herstellend, macht Kluge ein halbes Jahrhundert sichtbar und mit ihm dessen emotionale Temperatur. Die Bücher Schlachtbeschreibung, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Lebensläufe und Neue Geschichten, die Kluges Rang als außergewöhnlicher Schriftsteller begründeten, sind in diesen Erzählkosmos integriert und entfalten im Lichte der neuen Basisgeschichten (800 Seiten) überraschende Wirkung. Sichtbar wird: Zeit und Geschichte nehmen auf unsere Lebensläufe und -pläne, auf menschliches Maß bekanntlich keinerlei Rücksicht. Das macht die Gefühle rebellisch. Und das hat Folgen. -
So wie bei Kluge ist davon noch nicht erzählt worden.
Autorenporträt
Kluge, Alexander§
Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.

»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«
Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2000

Die Kalender-Reformation
Unruhe und Unheimlichkeit der Zeit: Mit seiner "Chronik der Gefühle" ist Alexander Kluge, der Prosaschriftsteller, plötzlich wieder da · Von Lothar Müller

Auf den über zweitausend Seiten seiner "Chronik der Gefühle" spricht Alexander Kluge kaum einmal von sich selbst. Doch hat er in das Gestöber von Genealogien und Lebensläufen, das er wie in einer Schneekugel durcheinanderschüttelt, auch die eigene Herkunftsgeschichte beiläufig eingeschlossen. Der Abschnitt "Meine Vorfahren väterlicherseits" umfaßt knappe dreizehn Zeilen: "Als Markenzeichen für ihre Produkte wählten sie drei Pfeile, die nach rechts, links und nach oben zeigten. Daran knüpften sie den Namen ,Prudens', in deutscher Übersetzung: Kluge. Die Bauernkriege überlebten sie, weil sie sich tarnten oder neutral verhielten. Im achtzehnten Jahrhundert übt der Familienclan den Beruf des Großuhrmachers aus. Sie reparieren oder konstruieren Uhren an Kirchtürmen. Sie haben in Not und unter Verlusten den Dreißigjährigen Krieg überlebt. Wie viele sie waren, wie wenige blieben übrig! Sie versippen sich mit Emigranten aus Frankreich, die aus Glaubensgründen emigrieren. Die Generationen durchwandern das neunzehnte Jahrhundert. Der Vorfahr, den ich noch gesehen habe, stellte seine persönliche Uhr täglich um 11 Uhr vormittags nach der Großuhr der Martinikirche, auch wenn diese nicht mehr Produkt der Familie war." Der Mann mit dem Blick zur Kirchuhr muß der Großvater sein. Man kann ihm an anderer Stelle begegnen, wie er sich an Schlachtbildern von 1870/71 erfreut und über Mittag Choräle summt: "Herr Gott, nun schließ den Himmel auf". Die Martinikirche, von deren Uhr der Rechnungsrat die Zeit abliest, bleibt nicht heil. Sie wird beim Luftangriff am 8. April 1945 auf Halberstadt zerstört, während Frau Arnold und Frau Zacke, mit Ferngläsern bewaffnet, auf dem Umgang des Glockenturms ihrer Luftschutzdienstverpflichtung nachkommen.

Alexander Kluge, geboren im Februar 1932 zu Halberstadt, der unermüdliche Chronist Deutschlands und der Deutschen, ist ein würdiger Erbe seiner womöglich erfundenen Vorfahren, der Großuhrmacher. Aber ihm ist nicht nur das Choralsingen abhanden gekommen, sondern auch das Vertrauen in die Zifferblätter. Ihn treibt das Mißtrauen um, daß sich in ihnen die Zeit eher verbirgt als ablesen läßt. Das scheinbare Gleichmaß der Zeit ist ihm verdächtig. Darum nimmt er die Uhren auseinander, statt sie zusammenzubauen. Er läßt sie mal schneller, mal langsamer gehen. So experimentiert er mit dem Innern der Uhren: mit der Unruhe.

Nordweststurm

über Berlin

Jetzt hat der Chronist der Unruhe, auf die Siebzig zugehend, in zwei dicken Bänden die literarischen Erträge seiner jahrzehntelangen Chronistentätigkeit zusammenfaßt. Schon einmal publizierte Bücher, passagenweise umgestellt und weitergeschrieben, sind in den Schuber hineingepackt: "Lebensläufe" (1962), "Schlachtbeschreibung" (1964), "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" (1973), "Unheimlichkeit der Zeit. Neue Geschichten" (1977). Etwa die Hälfte der Textmasse, tausend Seiten, sind neu hinzugekommen, oszillierend zwischen der Urgeschichte der Evolution und der Zeitgeschichte seit dem Mauerfall. Das Ganze ist ein poröses Gebilde mit zahllosen Eingängen, eine Chronik ohne Chronologie, die schweifend-neugieriges Blättern nicht nur erlaubt, sondern geradezu herausfordert. Nicht linear, sondern in Sprüngen bewegt sich hier die Zeit.

Ein Jahrhundert muß nicht unbedingt hundert Jahre dauern. Aber nicht genug damit, daß in dieser Chronik die raumzeitlichen Koordinaten sich stauchen und dehnen lassen. In ihr hat überdies der Möglichkeitssinn die gleichen Rechte wie der Wirklichkeitssinn. Der Held der Befreiungskriege, der Generalfeldmarschall Blücher, unterliegt wehrlos dem Phantasma einer Scheinschwangerschaft. Der Philosoph Martin Heidegger wird im Dezember 1941 zu den deutschen Truppen auf die Krim versetzt. Faktische Ereignisse werden in fiktiven Interviews in ein Paralleluniversum überspielt. Feldmarschälle sehen sich nicht nur dem Gegner gegenüber, sondern auch der Streitmacht der Gefühle im eigenen Heer. Die sind mit den klassischen Methoden der Historiographie ungreifbar, doch wirksam wie Geschütze. Kluge kündigt das Bündnis der Chronik mit den verbürgten Geschehen und der verläßlichen Zeit der Turmuhren. Er überführt das alte Genre der am Kalender entlang erzählten Geschichten in die Welt des modernen Romans, in die Welt Robert Musils. Doch bleibt er den beiden Brennpunkten treu, die seit je die Form der Kalendergeschichte prägten: dem Wetter und dem Krieg.

"Nordweststurm über Berlin": mit einer dramatischen meteorologischen Skizze beginnt Kluges Chronik. Ein westdeutscher Bauunternehmer träumt, zwei Tage vor seinem Bankrott, zwei Wochen vor seinem Tod, von Großjekten im Berlin der neunziger Jahre. Von dieser Spiegelung der nahen Lebenskatastrophe in der Wetterfront, die über der bis zum Ural reichenden Tiefebene liegt, ist es nicht weit zu Musils Meteorologie der Vorkriegszeit am Beginn des "Mann ohne Eigenschaften". Es ist aber von Kluges Chronik der Berliner Wetterlagen auch nicht weit zu den Kalendergeschichten Johann Peter Hebels, in denen der "Hausfreund" seinem Publikum die warmen Winter seit dem Mittelalter auflistet oder den kalten Winter des Jahres 1812/13 Revue passieren läßt. Und wenn Kluges Unternehmer vor dem Prospekt des Berliner Mond-Himmels davon träumt, die künftigen Baustellen in Mitte dem Modell poetischer Aktivität folgen, als "allmähliche Entwicklung von Motiven während des Bauens", so tritt wie von ungefähr Heinrich von Kleist an die Seite Hebels. Wie Kluges Chronik dessen Kalendergeschichten nichtlinear fortschreibt, so aktualisiert sie zugleich auf eigenwillige Weise Kleists historisch-politische Anekdoten, zumal die "aus dem letzten preußischen Kriege".

Es ist dabei nicht unerheblich, daß in Hebels Kalendergeschichten wie in Kleists Anekdoten die poetischen Formen mit der Erfahrung der Napoleonischen Ära imprägniert sind. Denn diese ist in Kluges Chronik kein beliebiger Stoff, sondern der exemplarische Fall einer dramatischen Verdichtung der Energien eines ganzen Jahrhunderts. Wo immer Kluge in der deutschen Geschichte gräbt oder seine Geschichtslehrerin Gabi Teichert graben läßt, stets stößt er auf Stollen, die das zwanzigste Jahrhundert mit der napoleonischen Welt verbinden. Kluges Zwischentitel "Episode aus dem Rußlandfeldzug 1812" könnte von Hebel sein, die Erzählung selbst, in der ein Totgeglaubter zur längst neu verheirateten Frau zurückkehrt, zeichnet eine kelistisch anmutende Verwirrung der Gefühle in den Übergang von der napoleonisch beschleunigten Zeit in das "Sumpfgelände der Entschlußlosigkeit" ein.

Der Held gehört dem III. Korps des Marschalls Ney an. In der Rekonstruktion "Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945" wird der Leser diesem Korps noch einmal begegnen. Im Haus Domgang 9 steht unmittelbar nach dem Angriff eine Auswahl aus den Tausenden von Zinnsoldaten am Fenster, die Herr Gramert alljährlich im Advent aufzubauen pflegt, um das verzweifelte Vorrücken des Neyschen Korps in Richtung der östlichen Nachzügler der Großen Armee nachzustellen. Am späten Nachmittag sind die Zinnsoldaten, auch die in den Schachteln, zu Klumpen verschmolzen.

Kluge zieht den Leser gelegentlich in allzu verworrenes Geschichtsgelände, allzu ermüdende Frage-Antwort-Protokolle, allzu aufwendige Rekonstruktionen abgelegener Episoden. Aber in dieser vielsträngigen Rückbindung der inneren Kriegsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts an ihre Vorgeschichte im neunzehnten Jahrhundert und weiter hinab wird das mehr als ausgeglichen. Die Großmächte des Kalenders, Wetter und Krieg, vibrieren vor historischer Spannung, wenn sich der Stalingrad-Winter 1942/43 im russischen Winter und den leeren Räumen des Jahres 1812 spiegelt, in denen Napoleons Rußland-Feldzug sich verlief. Ein Meisterstück dieser Überblendung und Verschachtelung der Zeiten ist die Erzählung vom Film "Ritt zwischen den Fronten" im Jahre 1943. Er handelt vom scheiternden antinapoleonischen Alleingang des Majors von Schill und seines Reiterregiments. Schill selbst fiel im Kampf, elf seiner Offiziere wurden gefangengenommen und in der Festung Wesel hingerichtet. Die Empörung über diese Massenexekution gehört zur Vorgeschichte der Befreiungskriege. Im Dezember 1943 kam der Film in die Kinos von Korinth und Saloniki. Dort sahen ihn Gebirgsjäger, die wenige Wochen zuvor auf der Insel Kefallenia an den von Hitler angeordneten Massenexekutionen von viertausend italienischen Offizieren und Mannschaften beteiligt gewesen waren. Eine Verbindung zwischen der Filmhandlung und ihrem Erlebnis stellten sie nicht her: "Waren sie stumpf? Waren die Vorgänge unvergleichbar?"

Heiner Müller hat in einem der Gespräche mit Alexander Kluge die Idee zu einem Stück entworfen, "das in Stalingrad anfängt und mit dem Fall der Mauer aufhört. Das sind zwei Ereignisse oder zwei historische Punkte, die für mich absolut zusammengehören." Er dachte an ein großes Projekt in fünf bis sieben Teilen, die im Jahre 2000 als Ganzes aufgeführt werden sollten. Das Stück blieb ungeschrieben. Kluge, der sich seit Mitte der achtziger Jahre aus der literarischen Produktion weitgehend ins Fernsehen zurückgezogen hatte, zieht nun bei seiner Rückkehr als Erzähler die Linie von Stalingrad zum Mauerfall in Prosa nach. Im Schuber liest man die schon veröffentlichten Texte vom älteren zum jungen Kluge zurück. Aber die "Schlachtbeschreibung" ist aus dieser rückläufigen Chronologie herausgenommen. Sie findet sich in der Mitte des ersten Bandes. Die 1964 chiffrierten historischen Namen sind ausgeschrieben, der leicht überarbeitete Text über Stalingrad als "organisatorischer Aufbau eines Unglücks" ist in einer Vorbemerkung an ein "zähes, von der Gegenwart der Berliner Republik abgewendetes Interesse" adressiert. Wie ein Findling soll er ins neue Jahrhundert mitgeschleppt werden.

Er ist nun eingebettet in Geschichten, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind: Momentaufnahmen aus der Wendezeit wie die Anekdoten vom Nikolaustag des Jahres 1989, wie die Fragmente von Biographien, in denen der Mauerfall die Lebenskurven unvorhersehbar ausschlagen läßt. Die Lebensläufe der Kriegs- und Nachkriegsgeneration finden so ihre Fortsetzung. Der Prosaautor Kluge, der schon verschollen schien, ist offenkundig vom Untergang der DDR und vom Zerfall des sowjetischen Imperiums wieder zurückgerufen worden. Und er kommt zur rechten Zeit, weil er immer noch einer ist, der die Literatur als ein Institut zur Menschenerforschung begreift. Der die Menschen mit dem Blick des Materialprüfers ansieht und fiktive Experimente mit ihnen veranstaltet, die dem Gebot der Wiederholbarkeit nicht folgen.

Gibt es eine

Physik der Gefühle?

Was ist der Gegenstand einer Chronik der Gefühle? Wohl doch Angst, Liebe, Hoffnung, Sehnsucht, Ergebenheit. Aber nichts liegt Kluge ferner als Einfühlung. Er will die Gefühle dingfest machen, indem er sie mit Sachlichkeit umgarnt, so wie einst Niklas Luhmann die "Liebe als Passion". Er faßt die Gefühle als Energieströme auf, die durch die Individuen hindurchgehen, sich in ihnen festsetzen oder lediglich kurze, zerstreute Gastspiele geben. So tritt im Erzählen an die Stelle der Einfühlung eine Art Festkörperphysik der Protagonisten, die ihre Reißfestigkeit auf die Probe stellt. Es ist nicht gleichgültig, wann man etwas will oder entscheidet: im Winter oder Sommer, zu Hause oder auf Reisen. Das Wetter gehört zu den Kondensatoren der Gefühle, aber auch die Geschwindigkeit oder Langsamkeit einer Bewegung. Auf den Reichskanzler Bethmann Hollweg, der im Januar 1917 an der Entscheidung für den unbegrenzten U-Boot-Krieg beteiligt ist, fällt dieser an Energiefeldern interessierte Blick, auf Jaruzelski in Polen 1981, auf den deutschen Außenminister Genscher, der auf dem Balkan die Anerkennung Kroatiens in die Wege leitet.

Eins hat es Kluge, von Napoleon bis zu Hitler und darüber hinaus, besonders angetan: die negative, bremsend-verhindernde Energie der Gefühle: "Über zweitausend Kilometer von der Ost-Front bombardieren die Westalliierten deutsche Städte. Gefühlsmäßig entscheiden die Nachrichten davon den Ostkrieg." Die innere Lähmung der Akteure erweist sich als geschichtswirksame Größe. Der Hoffnung traut Kluge, erklärter "Gefolgsmann Adornos", erheblich weniger zu. Seine Mikrophysik der Gefühle ist um die Begriffe Katastrophe, Unfall und Unglück herumgebaut, die freilich allesamt nicht als metaphysisches Verhängnis, sondern als quasiphysikalische Vorgänge erscheinen. So wie bei Kleist für die Gefühlsspannung in den Figuren elektrische Apparate wie die Leidener Flasche Modell stehen, tritt bei Kluge zum Erbe der Kalendergeschichten und Anekdoten das der naturwissenschaftlichen Entdeckerlust der Napoleonischen Ära, von der damals die Zeitschriften noch im unspezialisierten Nebeneinander von Poetik und Naturgeschichte berichteten. Kluges Kasuistik ist längst nicht mehr nur die juristische, sondern auch die der Medizin und Wissenschaften des Lebendigen. Mit einem Motto aus Novalis plädiert er für die Sprache der Poesie in Texten über das "Quantenvakuum" oder die Nanotechnologie, mit einem halb fingierten Goethe zieht er die Linie vom Homunculus zum "Menschenpark", sarkastisch erdenkt er ein Experiment mit den Genen Nietzsches. Über die Barbarossa-Mythen verfolgt der Chronist der Unruhe die Gefühle bis in die Ursprünge der Evolution, die neuesten Nachrichten aus der Gentechnik münden in eine scheerbartsche Skizze der Entwicklung einer "kurzstämmigen, schmerzunempfindlichen, gezielt (d. h. nicht umfassend) intelligenten Hybrid-Menschen-Art".

Die hohe, vor Aufmerksamkeit und Wachheit vibrierende Stimme des Filmemachers und Interviewers Alexander Kluge wispert durch den Schuber, auch in den lakonischen Legenden zu den schwarzweißen Abbildungen. Diese Summe seiner Prosa erscheint zu einer Zeit, in der viele in der Theorie den Totengräber aller lebendigen Literatur wittern. Da ist es gut, daß der Erzähler Kluge seinen Posten nicht räumt und von seiner Intelligenz weiterhin hemmungslos-lustvollen Gebrauch macht. Und es zeigt sich, daß der Chronist der Deutschen auch mit seinen älteren Arbeiten nicht aus der Gegenwart fällt. Hier ist einer, der aus der Ostzentrierung seiner Kriegsberichterstattung schon früh eine eigene Wehrmachtsausstellung hervorgehen ließ. Der die im Luftkrieg brennenden deutschen Städte längst dargestellt hatte, ehe die Debatte über das Fehlen solcher Darstellungen begann. Der lange vor allen Jubiläumsrückblicken die Chronik von "1968" schrieb. Der, ohne die Rhetorik der Staatsakte in Anspruch zu nehmen, immer schon aus Neugier, der er die "Altgier" zugesellte, am Heranzoomen naher und ferner Vergangenheiten arbeitete.

Nachrichten für

einen toten Freund

Alexander Kluge wird die Aura hypertropher Intellektualität nicht los. Aber seine komplizierten Maschinen und Apparaturen sind Geräte zur Lösung sehr einfacher Fragen: womit ist in einem Menschenleben zu rechnen, welche Chancen haben die Wünsche, wo verlaufen die Grenzen zwischen Leben und Tod? Dieser Treue zu den elementaren Fragen hält die zu den großen Gefühlen die Waage. Der Opernliebhaber Kluge weiß: Große Gefühle brauchen große Gefäße. Puccini, Rossini, Verdi und Wagner gehören zum festen Personal. "Tosca" erhält einen subtilen Kommentar. Überschwenglich wird die Prosa, wenn sie von der Reform der Oper aus dem Geist der Unterbrechung, der Pause träumt. Elegisch, wenn der Chronist an das nächtliche Gedankensquash mit Heiner Müller denkt, in dem dieser Traum die Wand war. Für die Wiederkehr des Autors Alexander Kluge muß Heiner Müller die Schlüsselfigur gewesen sein: in ihm muß sich die Erfahrung der Wendezeit zur Herausforderung verdichtet haben, das Erzählen wiederaufzunehmen. Seine krächzende Stimme, die fehlende, ist die zweite, die in diesem Schuber wispert. Müllers Arbeit an einem Gilgamesch-Text, seine schwindenden Aussichten, dem zu Ende gehenden Jahrhundert noch ein Drama abzugewinnen, seine Sehnsucht nach einem Tacitus und Sallust, die sich des Untergangs von DDR und Sowjetunion annähmen, durchgeistern den Text. So leuchtet es ein, wenn eine Heiner-Müller-Anekdote als diskreter Nachruf auf den Freund am Ende steht. Er ist der Schirmherr dieses Versuchs, für Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert zu unternehmen, was Hebel und Kleist für das Deutschland der Napoleonischen Ära geleistet haben. Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" hat das Zeug zu einem modernen Volksbuch aus dem Geist der Unruhe.

Alexander Kluge: "Chronik der Gefühle". Zwei Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. Zus. 2036 S., br., 98,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2009

DAS HÖRBUCH
Gleich fällst du hin
Sanfte Getriebenheit: Alexander Kluges „Chronik der Gefühle”
Vor zwei Jahren hatte sich der Regisseur Karl Bruckmaier an ein ähnliches Mammutprojekt gewagt: An die Hörspielfassung von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands”. Ein, wie sich angesichts seines jüngsten Projekts zeigt, vergleichsweise eher simples Unterfangen. In Alexander Kluges „Chronik der Gefühle” nämlich, dem soeben als Hörbuch veröffentlichten 14teiligen Hörspiel, hatte es Bruckmaier mit einer unvergleichlichen Vielzahl an Geschichten, Themen und Figuren zu tun. Auch war aufgrund des 2000seitigen Ausgangstexts eine radikale Auswahl- und Kürzungsarbeit zu leisten. Und doch wirkt die Hörspielversion der „Chronik der Gefühle” beinahe noch souveräner als die der „Ästhetik des Widerstands”. Selten hat man so leichtfüßig arrangierte zwölf Stunden gehört.
Bruckmaier, bekannt für seine minimalistische Hörspiel-Ästhetik, hatte sich bislang der Verwendung von musikalischen und geräuschhaften Elementen fast völlig enthalten. In der „Chronik der Gefühle” nun setzt er sie dagegen ganz unbeschwert ein: Er lässt Regen prasseln, wenn vom Regen die Rede ist, inszeniert einen Dialog als Partygespräch mit entsprechendem Hintergrundrauschen und lässt auch die Schuhabsätze einer Opernsängerin erklingen, wenn eine des Weges läuft. Man denke sich das Klackern an dieser Stelle hinzu: „Hier eilt die Opernsängerin heran. Sie wird heute Abend die Rolle der Tosca singen. Da sie untersetzt ist, trägt sie hochhackige Schuhe. In sich, unbeachtet, trägt sie ein kleineres Gefühl mit Namen: ,Gleich fällst du hin’. Es liegt verborgen unter der leidenschaftlichen Hingabe, der Mordlust im ausweglosen Moment, die zur Rolle der Tosca gehören.”
Die Oper hat Alexander Kluge immer fasziniert, und so hat auch Karl Bruckmaier in seiner Hörspieladaption dieser Faszination Platz eingeräumt: Oper ist nicht nur immer wieder Thema, musikalisch werden die vierzehn Teile des Hörspiels überdies von Melodiefragmenten aus Richard Wagners „Götterdämmerung” interpunktiert, „mal kammermusikalisch, mal fast atonal, Sound gewordene Gefühlspartikel im Teilchenbeschleuniger Hörspiel”, wie Bruckmaier in seinem Begleittext schreibt.
Der schwangere Feldherr
Außerdem leitet – angelehnt an Kluges „Minutenfilme” – jeweils ein „Minutensong” (komponiert unter anderem von Elliott Sharp, Bananafishbone und Schorsch Kamerun) jeden der 14 Hörspielteile ein. Immer wieder auch hört man das Surren und Klacken eines Diaprojektors, „Abbildung 3” oder „Abbildung 5” heißt es dann, worauf eine Bildbeschreibung folgt. Berührungsängste mit dem visuellen Teil des Kluge’schen Werks kennt Bruckmaier nicht; nicht „Kunst” will er machen, sondern seiner Vorlage gerecht werden.
Dazu gehört auch, dass er den Autor häufig zu Wort kommen lässt. Mal in Form von Interviewausschnitten, dann wieder als Vortragenden seiner eigenen Texte. Was wäre das Kluge-Werk schließlich ohne die Kluge-Stimme? Das ständige, nervöse „ja?” und „nich?”, jene sanfte Getriebenheit, jener Enthusiasmus, über den Kluge hin und wieder fast zu stolpern scheint – um dann doch wieder die Kurve zu kriegen. Eine Zungenakrobatik, bei der die Vokale zerdehnt und die Konsonanten aufgeweicht werden, erlaubt es ihm. So wird etwa aus einem „beschäftigte sich” ein „beschäftesche sich”.
Es ist keine glatte Könner-Stimme, und gerade darum lauscht man ihr gern, so gern wie den anderen Sprechern. So bringen unter anderem Ilja Richter, Peter Fricke und Hanns Zischler den unerschöpflichen Kluge’schen Geschichtenspeicher zum prechen: Ob es um die Bombardierung von Kluges Herkunftsort Halberstadt geht, um „Heidegger auf der Krim”, um den Mauerfall oder um die Besiedelung des Mars – Kluges historische Tiefenschärfe scheint unbestechlich, seine Fantasie überbordend, seine Assoziationskraft endlos. Dabei könnte man überall einhaken, widersprechen oder doch wenigstens zu bedenken geben. Irgendwann aber stellt sich der Eindruck ein, dass man im Vergleich zu Kluge im Grunde eigentlich gar nicht denkt, höchstens dumpf vor sich hin brütet.
Kluge ist ein Immerwacher, und es könnte einem dies geradezu unheimlich sein, würde nicht seine helle Gedankenschnelle, sein lichtes Wesen stets dagegen stehen, sein Witz, seine maßlose Neugierde, sein Hang zu den aufregenden Nebensächlichkeiten des Lebens, zu der fixen Idee des Napoleon-Bezwingers General Gebhard Leberecht von Blücher etwa, er sei schwanger (ihr ist einer der schönsten Teile des Hörspiels gewidmet).
So überraschend wie Kluges Gedanken und Erzählungen immer wieder sind, so überrascht auch Bruckmaiers Hörversion ein ums andere Mal – ohne es auf Überraschungseffekte abgesehen zu haben. Munter wechseln die Episoden zwischen Lesung, Dialog und Interview, mal gibt es eine Geräuschkulisse, mal gibt es keine. Alles in allem ein lebendiges, abwechslungsreiches und zuweilen äußerst lustiges Hörerlebnis also. Ein Projekt zudem, dass von Liebe und Respekt zeugt. Eine, wie der Regisseur bekennt, „Herzensangelegenheit” eben. TOBIAS LEHMKUHL
ALEXANDER KLUGE: Chronik der Gefühle. Hörspielbearbeitung und Regie: Karl Bruckmaier. Sprecher: Ilja Richter, Peter Fricke, Hanns Zischler u.a. Antje Kunstmann Verlag, München 2009. 14 CDs, 58 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit dieser Zusammenstellung von Kluge-Texten aus den letzten fast vierzig Jahren beschäftigt sich Jörg Drews in einer ausführlichen, etwas verquasselten Besprechung. Es ist eine Würdigung des Phänomens Alexander Kluge geworden, der als Regisseur, Fernsehmann, Journalist und einziger "erzählerischer Fortsetzer und Erbe der Frankfurter Schule" über viele Jahrzehnte hinweg "etwas" zu erzählen versuchte, "das aus der Geschichte zu lernen wäre". Zwar ist vieles, das die Gegenwart ausmacht, so Drews, nicht mehr als großer Wurf, aber immerhin noch "in Splittern" erzählbar, und diese Bruchstücke eben hat Kluge gesucht und gefunden und sie in höchst kondensierter Form wiedergegeben. In all dem spielen der Zweite Weltkrieg und die Gefühlslandschaften der Deutschen eine wichtige Rolle. Kluges eigene Entwicklung ist ablesbar in seiner stetig wachsenden Achtung für die "Kategorie des Erlebens", meint Drews; zwar ist der Schriftsteller ein "humanistischer Erzähler", schreibt er, aber nicht "moralisch" geht er darin vor sondern, wie sein häufiger Gesprächspartner Heiner Müller auch, eher "strukturell". Reizvoll für den Rezensenten sind auch die satirischen, geradzu "komödiantischen" Texte Kluges und, damit verwandt, die Kluge?schen Erfindungen von "Dokumenten", den Goethe?schen "Geheimschriften" beispielsweise, die es zwar nicht gibt, die in ihrer Erfindung durch den Autor jedoch sowohl überzeugen als auch seine aufklärerische Technik illustrieren, d.h. "Misstrauen gegen die Eindeutigkeit des Dokuments" zu säen. Eine Hommage an Kluge!

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