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Stockholm, November 1956, das Jahr, in dem Truppen des Warschauer Pakts den Aufstand in Ungarn niederschlagen und westliche Truppen den Suezkanal besetzen: Einen Tag lang folgt Peter Weiss in diesem Roman Schriftstellern, Schauspielern, Malern und Journalisten bei ihrem Bemühen, angesichts des Weltgeschehens Stellung zu beziehen, die allgemeine, die künstlerische und die private Situation zu bestimmen. Peter Weiss macht sich wie in kaum einem anderen seiner Prosawerke die Perspektive ganz unterschiedlicher Menschen zu eigen. Unverkennbar sind dem Roman Züge aus dem Leben des seit 1940 in Stockholm arbeitenden Autors eingeschrieben. …mehr

Produktbeschreibung
Stockholm, November 1956, das Jahr, in dem Truppen des Warschauer Pakts den Aufstand in Ungarn niederschlagen und westliche Truppen den Suezkanal besetzen: Einen Tag lang folgt Peter Weiss in diesem Roman Schriftstellern, Schauspielern, Malern und Journalisten bei ihrem Bemühen, angesichts des Weltgeschehens Stellung zu beziehen, die allgemeine, die künstlerische und die private Situation zu bestimmen. Peter Weiss macht sich wie in kaum einem anderen seiner Prosawerke die Perspektive ganz unterschiedlicher Menschen zu eigen. Unverkennbar sind dem Roman Züge aus dem Leben des seit 1940 in Stockholm arbeitenden Autors eingeschrieben.
Autorenporträt
Weiss, PeterPeter Weiss wurde am 8. November 1916 in Nowawes bei Berlin geboren und starb am 10. Mai 1982 in Stockholm. Zwischen 1918 und 1929 lebte er in Bremen, wo er das Gymnasium besuchte. 1929 kehrte die Familie Weiss nach Berlin zurück, musste jedoch 1934 emigrieren. Die erste Station bildete London, darauf folgte 1936 die SR. In diesen Jahren widmete sich Peter Weiss vorwiegend der Malerei - 1937/1938 studierte er Malerei an der Kunstakademie in Prag. In dieser Zeit besuchte er Hermann Hesse während zweier längerer Aufenthalte in der Schweiz. Die dritte und letzte Emigrationsstation bildete 1939 Schweden, wo Peter Weiss zunächst in Alingsås, ab 1940 in Stockholm wohnte. Hier setzte er seine Tätigkeit als Maler fort. 1947 hielt er sich als Korrespondent einer schwedischen Tagesszeitung in Berlin auf. Seine Artikel versammelte er 1948 zu seiner ersten Buchpublikation. Der Band erschien posthum 1985 unter dem Titel Die Besiegten. Ab diesem Zeitraum entstanden, in schwedischer

Sprache, die ersten Prosaarbeiten, Gedichte, und Dramen. Zu den wichtigsten Erzählungen aus dieser Schaffensperiode zählen Die Situation aus dem Jahre 1956 sowie das 1980 unter dem Autorenpseudonym Sinclair veröffentlichte Buch Der Fremde. Keines seiner Manuskripte wurde jedoch von einem schwedischen Verlag zur Publikation angenommen. Mitte der fünfziger Jahre begann Peter Weiss in deutscher Sprache zu schreiben. 1960 erschien sein erstes Prosabuch Der Schatten des Körpers des Kutschers. Zu Beginn der siebziger Jahre wand sich Peter Weiss wieder der Prosa zu. Zwischen 1975 und 1981 erschien der dreibändige Roman Die Ästhetik des Widerstands, deren letzter Band begleitet wird von Notizbücher 1971 - 1980. Ihm wurde posthum der Georg-Büchner-Preis für das Jahr 1982 zuerkannt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2000

Der Fürst der Raupen
Peter Weiss vor der Verpuppung · Von Thomas Steinfeld

Am Anfang war das Zuhören. Stundenlang soll Peter Weiss mit mürrischem, verschlossenen Gesicht aus dem Fenster geschaut haben, während sich seine Kollegen und Freunde in heiße Diskussionen verstrickten. Er muß ein erstaunliches Gedächtnis gehabt haben: Tage, Wochen, Monate später konnte er das wirre Gerede, vom ersten bis zum letzten Satz, wortgetreu wiedergeben. "Es gibt Maler, die Äpfel malen, es gibt Maler, die hinausgehen und die Schleuse malen, es gibt Maler, die nur die Farbflächen zusammenstellen, abstrakte Formen", heißt es bei Peter Weiss, "aber eines haben sie alle gemeinsam, sie wollen eine Synthese erzielen, sie wollen ein Erlebnis im Konzentrat ausdrücken." Man muß diesen Satz nur einem der Menschen vorlesen, die Peter Weiss in den fünfziger Jahren gut kannten. "So redete Carlo Derkert", lautet der prompte Kommentar. Der Stockholmer Kunsthistoriker und Museumsführer Carlo Derkert, ein stadtbekannter Schwerenöter und Redekünstler, war in den fünfziger Jahren der engste Freund von Peter Weiss.

In diesem Sommer ist "Die Situation" veröffentlicht worden, ein Roman, den Peter Weiss im Herbst 1956 geschrieben hatte. Das Buch war sein letzter Versuch, zu einem schwedischen Schriftsteller zu werden. Das Manuskript, sauber getippt und nur hin und wieder mit orthographischen Korrekturen versehen, wurde von den großen schwedischen Verlagen abgelehnt und verschwand unter den Papieren des Schriftstellers. Verloren war es nie, vergessen vielleicht. Aus dem Nachlaß hervorgeholt wurde es zum fünfzigjährigen Jubiläum des Suhrkamp Verlags, der es als Entdeckung in sein Festprogramm eingereiht hat. Und um es gleich zu sagen: Schon lange bevor man den Roman nach dem Lesen zuklappt, hat man den schwedischen Lektor verstanden, der das Manuskript mit der Begründung zurückgeschickt hatte, dies sei "eher ein Rohmaterial als ein endgültig bearbeitetes Buch".

Wer hingegen etwas über den frühen Peter Weiss erfahren möchte, wer wissen will, auf welchem weichen, glibbrigen Grund die 1961 erschienene Erzählung "Abschied von den Eltern", der ein Jahr später veröffentlichte Roman "Fluchtpunkt" und vor allem das Hauptwerk, die Wunschbiographie "Ästhetik des Widerstands" von 1975, ruhen - der sollte dieses Buch lesen. Und sich wappnen: Denn dieser Roman ist wie eine große, häßliche, stinkende Raupe, ja wie ein ganzer Haufen von diesen kleinen unangenehmen Tieren, und sie kriechen wild durcheinander. Noch ist nicht sicher, ob sie sich verpuppen werden, noch ahnt man nicht, was daraus eines späteren Tages entstehen wird, noch erkennt man keinen Schmetterling unter der grünen, haarigen Hülle. Der Roman "Die Situation" ist ein heilloses Buch, und erst im nachhinein erschließt sich, daß dieses Buch auch ein Wendepunkt war.

Eine Nacht, ein Tag und wieder eine Nacht werden in diesem Roman erzählt, eineinhalb Tage im Leben einer Clique von Künstlern und Künstlerpaaren. Ein Reigen zieht sich durch die Geschichte, aufgelöst in lauter kleine Novellen, bei denen der Leser selten erfährt, wo die eine anfängt und die andere aufhört, die mit wechselnden Stimmen ineinandergeschoben sind, so als solle auf zweihundertfünfzig Seiten der ganze formale Apparat der literarischen Moderne in Schwingung gebracht werden.

Da ist Leo, der Maler mit den schütteren roten Haaren und den gelben Fingern, die Hauptfigur des Buches. Da ist seine faltige, ausgemergelte Frau Agate mit der Tochter Christin. Fanny, eine scheiternde Schriftstellerin, kreuzt sein Sofa. Ihr Vater Victor hütet die Erinnerung an Hermann Hesse, Montagnola und die vergebliche Erinnerung an die Welt vor dem Krieg. Ein "Ossian", hinter dem man bald Öyvind Fahlström vermutet, bastelt seit fünfzehn Jahren an einem enzyklopädischen Kunstwerk. Der Regisseur und Tagebuchautor Paul wandert mit einem schlechten Gewissen durch die Stadt, seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Thel, überlegt, ob sie ihn mit dem Publizisten und Weltreisenden Jean betrügen möchte, der seinerseits die versammelte Teegesellschaft für ein neues, lebensnahes Theater begeistern will.

Es geht zu wie bei Simone de Beauvoir und den Mandarinen von Paris - nur daß diese schäbigen Fürsten keinen Hofstaat haben, keine Resonanz und kein Geld, daß sie in einer abgelegenen Ecke der Welt herumwirtschaften und ihnen nichts einfällt, was sich nicht mit ihnen selbst beschäftigen würde. Peter Weiss suggeriert die Mitgliedschaft seiner Figuren in der ästhetischen Internationale der fünfziger Jahre, mit einer direkten Zugverbindung nach Paris und gelegentlichen Besuchen aus New York. Bald aber geschieht, was geschehen muß: Das Spiel mit der Selbstbespiegelung, das ständige Fragen nach der Bedeutung der Kunst für das einzelne Leben, beginnt, jedes festen Inhalts beraubt, sich in sich selbst zu drehen, erst langsam und dann immer schneller.

Am Ende rast der Reigen. Eine ganze Reihe von neue Figuren tritt hinzu, Gestalten wie "Ka", "Be", "Karin", Maud", "Mirjam" und "Sun". Nun kreiselt das Buch mit hoher Geschwindigkeit zu Boden, und der Sturz kann auch vom Erzähler nicht mehr aufgehalten werden, der auf den letzten Seiten seinem Werk erläuternd beispringt, vermutlich längst wissend, daß diese Sache verloren ist: "Ich habe versucht, die Bewegung einiger Menschen zu registrieren, habe versucht, ein Bild ihrer Lage zu geben. Ich habe keine Perspektive gefunden, die zu einer Lösung führen kann, ich habe nicht einmal einen Überblick erreicht." Und dann endet das Buch, mit einem sonderbaren Einfall, der seine Herkunft aus dem Geiste Arthur Schnitzlers nicht verbirgt: Die letzten drei Seiten sind dem parallelen, wieder in geordneten Bahnen verlaufenden Beischlaf der in diesem Buch auftretenden Paare gewidmet.

"Ich bin vierzig Jahre. Ich habe noch nicht begonnen", läßt Peter Weiss einen Mann names Knut sagen, einen Ingenieur, den es plötzlich auf die Straße und unter die Landstreicher treibt. "Überall Gehirne, Herzen in Betriebsamkeit", erläutert eine andere Gestalt. Dies ist ein Buch der großen Fragen und der noch größeren Antworten, und am Ende verpuffen, wie stets in solchen Fällen, die gewaltigen Schwierigkeiten mit dem Sinn und lassen nichts zurück als einen kleinen Kater und die vage Reue, wieder einmal viel zu viel geredet zu haben. "Eins ums andere Mal fliehe ich in das Metaphysische. Ich sollte mich disziplinieren", meint Paul der Regisseur, und damit spricht er auch für die anderen Figuren dieses Reigens. Seltsam, wie pubertär, wie in sich versponnen und unfertig einem heute dieser Kreis von Vierzigjährigen vorkommt, deren Welt nur aus Kunst besteht - oder besser: aus der Reflexion auf sich als Künstler, als Mittelpunkt eines Universums, in dem es eigentlich nur um den persönlichen Ausdruck geht.

Peter Weiss hatte zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches siebzehn Jahre in Schweden gelebt. Das ist eine lange Zeit, und dennoch ist es erstaunlich, mit welchem lexikalischen Reichtum und welcher Exaktheit er in der fremden Sprache formuliert. Gewiß, hin und wieder unterlaufen ihm Formulierungen, die nicht mehr idiomatisch ist - im Schwedischen kann man noch weniger als im Deutschen von "querulatorischen Zügen" eines Menschen reden, und man kann auch nicht sagen, man strecke seine Arme wie "Tentakel in einen Ameisenhaufen" sprechen. Und doch ist von der ersten bis zur letzten Zeile zu bemerken, daß hier jemand mit allem Ernst und aller Konsequenz die Sprache wechseln will. Wenn die Sprache gelegentlich verunglückt, dann liegt das nicht an der Übersetzung, sondern am Willen zur Überwältigung des Lesers. Der furchtbare Satz: "Seine vielfachen Augen bedrängten sie mit desparaten Forderungen" ist von Wiebke Andersen völlig richtig übertragen worden. Und wenn von Leos Frau Agate die Rede ist, von "ihren hohlen Wangen, ihren tiefliegenden gequälten Augen, ihren hervorstechenden Rippen, leeren hängenden Brüsten und scharfen Hüftkanten", dann steht das auch auf schwedisch genauso da. Die vielen Raupen verdanken sich dem Bedürfnis des Schriftstellers, seinem Leser die Luft zur Gegenwehr zu nehmen.

Die "Situation" ist ein Roman der fünfziger Jahre. Zu dieser Zeit gehört auch die Leidenschaft für den Ekel. Peter Weiss schwelgt in verklebten Hautfalten, in entzündeten Poren und schleimbedeckten Körperteilen, in der Beschreibung von menschlichen Ausscheidungen und ihren Organen. Dieser Ekel ist Teil eines großangelegten Versuches, das Anliegen dieses Buches, eben den Genuß des Affektes, tief in Gefühlen zu verwurzeln. Der Ekel gewinnt eine unmittelbare Gewalt über die physische Existenz. Und seinetwillen hat der Autor in diesem Buch so viele Geschlechtsakte beschrieben - und weil er noch zu glauben scheint, in der Sexualität sei Erlösung zu finden.

Und so ist dieses Buch ist ein Teil des Problems, das es beschreibt. Peter Weiss tritt in all seinen Figuren auf, sie sprechen alle von ihm, und eine jede greift vor auf das, was erst einige Jahre später entstehen sollte. Die Haltlosigkeit des einzelnen Menschen, die Ästhetik des Widerstands, die Hilflosigkeit des Theaters, das Dilemma des bürgerlichen Kindes, das Versinken des Malers im eigenen Wer, der Traum von einer vollkommenen, nicht subjektiven Kunst, die Verehrung von Kunst auf der einen Seite, das Ideal der Kunstlosigkeit auf der anderen - die Themen aus den großen Werken von Peter Weiss sind hier schon versammelt. Aber an der Stelle, an der sich später die Politik befinden wird, steht hier noch die Sexualität, und wo der Autor später in seinen Erzählungen diffundiert, wird hier noch eigensinnig und unerbittlich die hilflose Forderung gestellt: Sag mir, wer ich bin. Erst später gelingt Peter Weiss das Kunststück, "ich" zu sagen und doch nicht "ich" zu sein. In diesem Roman besitzt Peter Weiss noch keine Freiheit gegenüber seinem Gegenstand. Es steckt etwas von Jean-Jacques Rousseaus rücksichtlosen "Bekenntnissen" darin.

Die Übersetzerin und der Verlag erklären dieses Buch zu einer Antwort auf die politischen Umbrüche des Jahres 1956, auf die Suez-Krise und die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn. Aber diese Auskunft führt in die Irre. "Die Situation" ist ein Roman, der nicht über die Zeit hinauskommt, sondern um so tiefer in die Zeit seiner Entstehung zurücksinkt, je sorgfältiger man es liest. Und dazu gehört, daß sich niemand in diesem Buch um die Rettung der Welt verdient machen will.

Peter Weiss: "Die Situation". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wiebke Andersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 260 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.06.2000

Ich und mein Prisma
Entdeckt nach mehr als vierzig Jahren: Peter Weiss’ erster Roman „Die Situation”
Ein Roman mit dem Titel „Die Situation” findet sich nicht einmal in den ausführlichsten Verzeichnissen der Werke von Peter Weiss. In der Tat erscheint dies in schwedischer Sprache geschriebene Buch zum ersten Mal in deutscher Übersetzung: im Jubiläums-Programm des Suhrkamp-Verlags. Eine späte Entdeckung!
Weiss muss diesen Roman, wenn man einer nicht ganz eindeutigen Anspielung auf die ungarische Revolution von 1956 trauen will, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre geschrieben haben. Also nach dem tollen Experiment des Mikro-Romans „Der Schatten des Körpers des Kutschers”, der bereits 1952 entstand und im deutschen Original 1960 als „Tausenddruck” in entsprechend kleiner Auflage erschien. Der Autor hat sich in „Die Situation” noch einmal des Schwedischen, der Sprache seines Exils, bedient. Eine direkte Beziehung zu den in Stockholm zu Beginn der fünfziger Jahre entstandenen Dokumentarfilmen ist in vielen, dem Montageprinzip gehorchenden Sequenzen des Romans evident. Auch seine Erfahrungen als Maler sind in den Text eingegangen, als Malerei mit Worten und Sätzen, wobei freilich die so entstandenen „Bilder”, ausführliche Beschreibungen von Körpern, Umgebungen, Naturereignissen eher Figurationen Lucian Freuds gleichen, als den eigenen, einem magischen Realismus verpflichteten Werken aus den vierziger Jahren, oder den später entstandenen (eher an Max Ernst als an Hanna Höch orientierten) Collage-Arbeiten, etwa zu „Tausend und einer Nacht”.
Eine der Hauptfiguren des Buchs, der Maler Leo, wird als ebenso monomanischer wie erfolgreicher Künstler präsentiert, dessen Werk man sich als eine moderne Mischung aus Hieronymus Bosch und Dalí vorstellen könnte – so weit Weiss’ Beschreibungen von Leos Bildern überhaupt eine Zuordnung ermöglichen. Leo igelt sich vor den Zumutungen familiären Daseins (mit einer verblühten Frau und einem geliebten Kind) in seinem Atelier ein, die Annäherung an die in Paris lebende, nur ein paar Wochen nach Stockholm zu ihrem Vater Viktor zurückgekehrte Schriftstellerin Fanny führt zu nicht mehr als zwei brutalen sexuellen Begegnungen.
Viktor, der Älteste der intellektuellen Clique, aus deren Leben der Autor ein paar Tage vergegenwärtigt, ist ein jüdischer Emigrant aus Deutschland, war in Berlin Chefredakteur einer bedeutenden Zeitung, ihn hat es aus seiner Bauhausvilla in ein Stockholmer Pensionszimmer und die armselige Existenz des Zuarbeiters einer kleinen Nachrichtenagentur verschlagen. Wenn er träumt, so von einem Besuch bei seinem Freund Hermann Hesse in Montagnola – vor dem Krieg (was Weiss erlaubt, sich von dessen Quietismus abzusetzen, den er doch beneidet). Bei der Flucht aus dem von Deutschen eroberten Norwegen hat Viktor seine Frau und einen Sohn verloren, sie wurde beim Grenzübertritt erschossen, er gefangen genommen und später in einem deutschen KZ umgebracht. Nur Fanny konnte dem Vater folgen. Viktor versteht sich als bloßer Beobachter der (politischen) Zeitläufte, der am liebsten dem Rauch seiner Pfeife nachblickt, ein resignierter Weiser. Außerdem treten auf: Paul, ein Theaterregisseur, der vergeblich versucht, ein Stück zu schreiben, das auf der Höhe der Zeit wäre – in dieser Figur hat sich Weiss ein Selbstporträt des Künstlers als eines jungen Mannes erlaubt –; die zerbrechliche, in ihrer Naivität gleichwohl starke Schauspielerin Thel, die zeitweise mit Paul zusammenlebt; der versoffene Ingenieur Knut, der aus seiner Kleinbürgerexistenz ausbrechen will in die Freiheit eines mittellosen Streuners und der doch wieder bei seiner Frau Sonja unterkriecht; ein Jean, der früher (während des Kriegs?) als eine Art Geheimagent tätig war, jetzt durch die Welt reist und in New York eine Theaterzeitschrift betreibt.
Lauter trübe, undurchsichtige Verhältnisse, in denen die Schiffbrüchigen weithin unverstandener Weltereignisse einander begegnen, ausführlich über ihre Probleme reden, sich in flüchtigen (gleichwohl ausführlich geschilderten) sexuellen Eskapaden für Stunden aus ihrem Alltag zu lösen suchen. Weiss führt diese Clique, zu der noch einige Nebenfiguren gehören, zusammen – wobei er den Leser manchmal Seiten lang darüber im Unklaren lässt, wer denn nun das jeweilige Ich sei, das erzählt, die Perspektivenwechsel in diesem ersten Teil sind rasch und unvermutet. Dann räumt er den einzelnen Figuren verschieden lange Partien ein, in denen sie ihr eigenes ramponiertes Leben entfalten dürfen, am ausführlichsten hält er bei Fanny und Paul aus, aber jeder erhält seine Auftritte und am Ende weiß man fast alles über die Figuren: Exilanten wie Einheimische.
Das intellektuelle Klima in einem Land, das vom Krieg verschont blieb und gekennzeichnet ist von Lethargie, dem kleinen, verachteten Wohlstand und einer tiefen Unsicherheit, muss den Autor verletzt und entsetzt haben.
Als literarische Konstruktion ist der Roman weithin misslungen und entfaltet doch einen faszinierenden Sog. Der Versuch des Autors, die eigene Zerrissenheit in einzelnen Figuren prismatisch aufzulösen – das Schwanken zwischen dem Beruf des Malers und dem des Schriftstellers, das zwischen schrankenlosem, gleichsam experimentell ausgelebtem Individualismus und der Solidarität mit Erniedrigten, Beleidigten, Unterdrückten, die Engagement verlangen, das zwischen sexuellen Obsessionen und der Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft – scheitert daran, dass Weiss eigene Erfahrungen hemmungslos mit Angelesenem auffüllt. Wobei er die Referenzfiguren an langen Autoren- und Künstlerlisten durchaus nicht verbirgt. So waren die Dichotomien nicht zu „verkörpern”.
Es bedurfte der introspektiven Versenkung in die eigene Biografie, der er sich in „Abschied von den Eltern” und „Fluchtpunkt” unterzog, der Verwandlung von Personen und Zeitereignissen in „Rollen” – wie sie in den Stücken vollzogen wurde –, der Vergegenwärtigung der „Ortschaft” Auschwitz, an die er gebannt blieb, um ihn schließlich zu der heiklen, widerrufbaren Versöhnung von Ästhetik und Widerstand zu führen, die sein Hauptwerk singulär macht.
„Die Situation” ist gleichwohl ein wichtiges Buch: Der Roman ist der Steinbruch, in dem alle Motive des späten Werks gefunden und in Splittern gespeichert werden – es fehlt nicht eines – und es ist das Werkstück, an dem der Autor seine Techniken ausprobiert: die einlässliche, penible Beschreibung von Vorgängen, Außenansichten, die im „Schatten des Körpers des Kutschers” ins Extrem getrieben wird, die surreale Überhöhung des Nichtigen, die Anlage eines Metaphern-Vorrats von hoher poetischer Kraft, der schnelle Perspektivenwechsel, ohne den 20 Jahre später der große Roman nicht möglich gewesen wäre.
Zugleich zeigt „Die Situation”, welches Unmaß an Arbeit und Disziplin dazu gehörte, aus der Rolle des Paul, der sich allein von Absichten nährt, auszubrechen, sich Welt anzueignen, auf politische Zumutungen in einer Weise zu reagieren, die oft naiv anmuten mag, die aber stets das Signal der Authentizität trägt. Die künstlerische und moralische Leistung, die darin liegt, der Situation des „Man müsste . . .” zu entkommen in einen Bereich, der die Unsicherheit akzeptiert ohne zynisch zu werden oder zu resignieren; die „Erinnerung” sowohl aus der eigenen Existenz wie aus den objektiven Fakten zu begründen – diese Leistung wird in seinem ersten Roman als Versprechen so dringlich gegeben, dass dessen Einlösung möglich wurde.
Am Ende der 250 Seiten übernimmt der Autor selbst das Räsonnement, das er vorher seinen Figuren aufgebürdet hat: „Schreibe ich, male ich, arbeite ich an einem Film, weiß ich, dass das Resultat einmal eigenständig sein wird, dass das Resultat einmal für sich selbst sprechen muss . . . Ich will das Unmittelbare und Unverfälschte, aber ich bin noch weit entfernt von diesem Vertrauen in die eigene Stimme, ich lege immer noch zurecht. Wir sind mit der Vorstellung einer geschlossenen Kunst aufgewachsen, unsere ganze Kultur ist auf das Ideal des Geschlossenen und Fertigen aufgebaut, in all unserer Kritik gehen wir von dem Gesetzmäßigen aus. Das Zerfließende, Ungedämmte befriedigt uns nicht, ständig rufen wir nach Formen und Struktur. Ist das ein natürliches Bedürfnis oder Irrglaube? Ich habe beide Pole in mir. ” In diesem frühen Roman stehen sie noch hart nebeneinander. In der Dialektik späterer Bücher werden sie vermittelt, erfüllt der Autor die Verpflichtung, die er sich selbst gegenüber eingegangen ist.
Merkwürdig, wie dies Buch, das beinah fünfzig Jahre alt ist, vielem gleicht, was heute von jüngeren Autoren geschrieben wird. Fragt sich, ob diese die Kraft aufbringen, die eigene Gebundenheit anzunehmen und die eigene Befreiung so zu organisieren, wie das Peter Weiss gelang.
ROLAND H. WIEGENSTEIN
PETER WEISS: Die Situation. Roman. Aus dem Schwedischen von Wiebke Ankersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 264 Seiten, 38 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Sabine Peters vermutet, dass Bücher dieser Art heute "vielleicht gar nicht geschrieben werden können". Denn hier geht es, wie der Leser erfährt, nicht um Spielereien mit der Identität (dafür ist es viel zu ernst), sondern um das zähe, quälende Ringen darum. Immer wieder kämpfen die Protagonisten um die Bedeutung und den Sinn von Leben und Kunst. Dabei zeigt sich Weiss selbst, wie Peters anmerkt, bisweilen undistanziert, jedoch in keiner Weise spöttisch. Auch Unsicherheit diagnostiziert die Rezensentin bei Weiss - sei es in stilistischer Hinsicht, was er ihrer Ansicht nach dadurch kreativ in Bahnen lenkt, als dass er die verschiedenen Haltungen auf die Personen überträgt. Oder sei es dadurch, dass es selbst keine Antworten für die "aufgeworfenen Fragen" parat hat. In mancher Hinsicht hält sie das frühe Buch des Autors jedoch bereits für typisch für spätere Werke. So kann sie bereits zahlreiche Motive erkennen, die Weiss später wieder aufgreift. Und auch der Wechsel eines "mäandrierenden, dann wieder springenden Schreibflusses" zeigt sich ihrer Ansicht nach bereits in diesem Buch. Kritisieren würde sie lediglich den spürbaren "angstgeschüttelten Hass auf Frauen" und die Überladenheit des Romans.

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