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Was hat die Kriminalliteratur mit der Paranoia und den Sozialwissenschaften zu tun? Dieser Frage geht Luc Boltanski in seinem höchst originellen Buch nach. Seine Antwort: Wie die Sozialwissenschaften entsteht auch die Kriminalliteratur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und in diese Zeit fällt auch die Entdeckung der Paranoia in der Psychiatrie. Zusammen zeugen sie von einem sich zunehmend verbreitenden Zweifel an der "Realität der Realität", der als Symptom der Moderne gelten kann. Boltanski deckt diesen faszinierenden Zusammenhang zwischen Kriminalliteratur, Paranoia und Wissenschaft…mehr

Produktbeschreibung
Was hat die Kriminalliteratur mit der Paranoia und den Sozialwissenschaften zu tun? Dieser Frage geht Luc Boltanski in seinem höchst originellen Buch nach. Seine Antwort: Wie die Sozialwissenschaften entsteht auch die Kriminalliteratur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und in diese Zeit fällt auch die Entdeckung der Paranoia in der Psychiatrie. Zusammen zeugen sie von einem sich zunehmend verbreitenden Zweifel an der "Realität der Realität", der als Symptom der Moderne gelten kann. Boltanski deckt diesen faszinierenden Zusammenhang zwischen Kriminalliteratur, Paranoia und Wissenschaft insbesondere durch fulminante Analysen der Romane von Arthur Conan Doyle und Georges Simenon auf.
Autorenporträt
Luc Boltanski, geboren 1940, Schüler von Pierre Bourdieu, ist einer der gegenwärtig prominentesten französischen Soziologen und Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. International bekannt wurde er sowohl durch seine maßgeblichen Beiträge zur Theorie einer pragmatischen Soziologie der Kritik als auch durch seine Analysen des neuen Geists des Kapitalismus.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2015

NEUE TASCHENBÜCHER
Der Krimi aus dem
Geiste der Moderne
Es ist kein Zufall, dass der Kriminalroman, wie wir ihn heute kennen, seinen Ursprung im 19. Jahrhundert hat. Luc Boltanski, Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, setzt das Aufkommen dieser literarischen Gattung mit dem Entstehen des säkularen, demokratischen Staates und dem Erfolg der modernen Wissenschaften in Verbindung. Der Ermittler im Kriminalroman geht vor wie ein Wissenschaftler, sein Handeln findet vor dem Hintergrund der „Realität“ des Staates statt. Das Rätsel eines Mordes oder eines anderen Verbrechens hebt sich von dieser staatlichen Ordnung ab, und jede kriminalistische Ermittlung bedeutet für Boltanski auch Zweifel am Konstrukt des Nationalstaats. Der Spionageroman, meist einem politischen Komplott auf der Spur, geht noch radikaler vor. Und es ist nicht weit zur psychoanalytischen Paranoia, die ebenfalls um 1900 grassierte. Der Soziologe Boltanski nutzt literarische Quellen, um Aussagen über die moderne Gesellschaft zu treffen. Das liest sich wissenschaftlich, aber, dank seiner Hauptbeispiele – Sherlock Holmes und Maigret – auch sehr unterhaltsam.  
NICOLAS FREUND
  
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
515 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Der Soziologe Boltanski nutzt literarische Quellen, um Aussagen über die moderne Gesellschaft zu treffen. Das liest sich wissenschaftlich, aber, dank seiner Hauptbeispiele - Sherlock Holmes und Maigret - auch sehr unterhaltsam.« Nicolas Freund Süddeutsche Zeitung 20151007

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Bernd Stiegler findet es auf- und anregend, was der Autor hier versucht: Eine historische Bestandsaufnahme, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kriminalroman, Soziologie und Paranoia aufzeigt. Materialreich und spannend wie ein Krimi, so erklärt Stiegler, taucht Luc Boltanski historisch analytisch nach den gesellschaftlichen Implikationen der Paranoia und präsentiert Sherlock Holmes als Ordnungsbringer einer aus den Fugen geratenen Moderne. Wenn der Autor seine Befunde am Ende des Buches soziologisch reflektiert, wird es Stiegler allerdings etwas zu sperrig.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2013

Mehr als zwei sind eine Verschwörung

Die ersten großen Soziologen waren Sherlock Holmes und Kommissar Maigret: Luc Boltanski zeigt, warum in modernen Gesellschaften für schlechterdings alles Täter gesucht werden.

Von Jürgen Kaube

Wie oft liest man nicht, etwas sei ein "echter Krimi"? Damit sind nicht nur soziale Abläufe mit hoher Konfliktdichte bei offenem Ausgang gemeint. Vielmehr Verwicklungen auf Hinterbühnen mit zunächst unbekannter Täterschaft: Gurlitt und Beltracchi, die NSA-Affäre, die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften, der Untergang der Firma Enron, Doping im Radsport, Wendelin Wiedekings gescheiterter Angriff auf VW.

Eine andere Beschreibung des öffentlichen Lebens, die es von Geheimnissen bestimmt sieht, verwendet den Begriff der "Verschwörung". Auf eine solche zurückgeführt werden beispielsweise: der 11. September, die Verbreitung von HIV, der Tod Lady Dianas und das nur angebliche Fortleben Paul McCartneys, jede Finanzkrise, der Untergang der Titanic, die Vortäuschung der Mondlandung. Peter Knights Enzyklopädie der Konspirationstheorien führt mehr als dreihundert Einträge.

Der französische Soziologe Luc Boltanski hat eine Abhandlung über dieses Verlangen geschrieben, die Gesellschaft als Rätsel zu betrachten und zu ermitteln, welche Täter hinter ihr stecken. Nach ihrem letztjährigen Erscheinen (F.A.Z. vom 25. Oktober 2012) liegt sie nun auf Deutsch vor. In ihrem ersten Teil lockt sie uns mit einer hinreißenden Analyse von Kriminal- und Spionageromanen auf das gesellschaftstheoretische Terrain. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird nämlich immer nachdrücklicher gefragt, ob die soziale Wirklichkeit nicht bloß eine Fassade vor dem tatsächlichen Geschehen ist. Industrielle Revolution, wissenschaftliche Weltsicht und religiöse "Entzauberung" hatten ein realistisches Alltagsbewusstsein hervorgebracht. Sobald etwas Außerordentliches geschieht, lassen sich unter diesen Umständen nicht mehr Wunder oder Gespenster bemühen. Kann der Verstand sich keinen Reim auf eine Sache machen, setzen nicht Beschwörungen, sondern Untersuchungen ein. Sie richten sich auf verborgene Faktoren, die Offensichtliches erklären sollen. Der Mehrwertdiebstahl, das Unbewusste, das Ressentiment, die Rasse, die Arbeitsteilung oder statistische Gesetze werden als Universalschlüssel verwendet.

Der Kriminalroman ist für Boltanski hierfür die repräsentative Gattung. Denn in ihm geht es ganz darum, einen Riss in der Realität zu schließen. Wenn irgendwo der Verdacht zentral ist, dass jemand die Wirklichkeit absichtsvoll arrangiert hat, dann hier. Der Mord führt ein Maximum an Misstrauen in den Kreis der von ihm Betroffenen ein. Immerhin ist mindestens einer unter ihnen der Mörder.

Niemals zuvor, notiert Boltanski, ist in Erzählungen das Selbstverständlichste - ob die Bewohner eines Hotels überhaupt Hotelgäste sind oder welches Zeitfenster schottische Zugfahrpläne für eine Untat öffnen - so zäh und sorgfältig untersucht worden. Die Detektive sind Geschwister der Soziologen, deren Fach zur selben Zeit entsteht. Nicht nur setzen sie das Alltäglichste in unvertraute Seitenbeleuchtung, sie ermitteln in alle Richtungen. "Gesellschaft" heißt sachlich: Man muss mit allem rechnen. Heißt zeitlich: Jede Vergangenheit ist verdächtig. Heißt sozial: Jeder kann es gewesen sein.

Boltanski identifiziert zwei Traditionen dieser Einstellung, die sich in England um 1900, etwas später in Frankreich zeigen. Hier wie dort garantiert zunächst ein nichtautoritärer Staat mittels Recht und Polizei die gesellschaftliche Realität. Die stärksten Zweifel an ihr werden seinen Instanzen vorgelegt, die erst im späteren Spionageroman selbst als Urheber von Machenschaften verdächtig sind.

Doch auch als Rechtsstaaten haben sie Grenzen. In England etabliert sich im Roman der Privatdetektiv, weil der Staat zwar formell eine neutrale Instanz ist, tatsächlich aber eine Oberschicht herrscht. Kommen ihre Angehörigen privat in die Bredouille - Fehltritte, schwarze Schafe in der Familie usw. -, dann machen öffentliche Ermittlungen die Sache noch schlimmer, zumal es auch schon Zeitungen gibt. Jeder, der überhaupt ein Gesicht hat, steht ständig in Gefahr, es zu verlieren, von einer Affäre eingeholt , in einen Skandal verstrickt zu werden. Die Reputation der politischen Ordnung retten dann nur ebenso diskrete wie intelligente Untersuchungen: Auftritt Sherlock Holmes und Hercule Poirot und Miss Marple und Peter Wimsey.

Diese Doppelung von Polizei und Detektiv erlaubt es, dass der private Ermittler genauso frei operieren kann und - auf einer Skala von kauzig über kokainabhängig bis pervers - genauso merkwürdig zu sein vermag wie der Verbrecher. Er kann das Außerordentliche repräsentieren, was man sich von Beamten ja gerade nicht wünscht. Hinzu kommt: Der Polizist versteht die Oberschichten nicht, muss sie aber formell genauso behandeln wie die Unterschichten. Gesetzesverstöße der Unterschichten sind kein Problem, jedenfalls, wenn sie vereinzelt bleiben, man rechnet ja geradezu damit. Sherlock Holmes hingegen kann die konservative Funktion des Kriminalromans auch an den skandalhaltigen Normabweichungen der Elite bestens erfüllen. Der Roman bietet den Genuss kurzzeitiger Ordnungsverluste, um die Mittelschicht-Leser danach desto besser schlafen zu lassen.

Die französische Tradition hingegen verlässt sich meist auf Beamte, die mehr als Beamte sind. Das lehnt sich historisch an die Rekrutierung der ersten Polizisten aus der Gruppe umkehrwilliger Berufsverbrecher an. Soziologisch drückt es aus, dass die Verwaltung anderen Gesichtspunkten folgt als die unstetige Politik. Am Polizeibeamten wird gezeigt, dass Bürokratien nicht blind Regeln folgen. Vielmehr sind sie nur leistungsfähig, wenn sie informelle Gewohnheiten ausbilden, intern dem "Regiment von persönlichen Beziehungen" und Gunsterweisen unterstehen, Intuition und Regelauslegung erlauben. Auftritt: Kommissar Maigret.

Dieser Beamte, von dem die wenigsten den Vornamen erinnern werden, ist kein Genie, er macht seine Arbeit. Zugleich interpretiert er, der ein unspektakuläres Privatleben pflegt und so streng wie großzügig sein kann, die Beamtenrolle familiär. Es ist Milieuverständnis, das ihn die Täter finden lässt. Denn hier heißt Gesellschaft, dass "alle jederzeit etwas zu verbergen" haben, dass also der Kommissar seine Pappenheimer kennen muss. Maigret weiß, was eine schlecht verheiratete Anwaltsgattin bewegt oder wovon ein unbegabter Bauernsohn träumt, er ermittelt nicht wissenschaftlich, sondern mit dem moralischen Sinn des Professionsmitglieds. Und er weiß, dass ausnahmslos alle im Leben scheitern. So operiert er nicht als Pathologe der Gesellschaft, sondern als ihr Arzt. "Kundschaft!" ruft es in die Sûreté hinein, wenn die Ordnung lokal gefährdet ist.

An diese Analysen, das Glanzstück des Buches, schließt Boltanski die Beobachtung an, dass in der Epoche des Kriminalromans auch das Konzept der "Paranoia" aufkommt. 1899 führt der Psychiater Emil Kraepelin den Begriff systematisch ein. Der Paranoiker ist an den Tugenden des Detektivs erkrankt. Er leidet unter Deutungs-, Größen- und Verfolgungswahn, ist sozial ein Querulant, führt unablässig Prozesse und verbreitet mit großer Energie merkwürdige Theorien. Auch der Paranoiker untersucht verbissen - alles.

Das ist für Boltanski eine sehr moderne Erscheinung. Gesellschaften, zitiert er die zeitgenössische Deutung des Philosophen Max Scheler, in denen formale Gleichheit mit tatsächlicher Ungleichheit einhergeht, bringen strukturell Verbitterung hervor und Theorien darüber, welche Kräfte dafür verantwortlich sind, dass manchen die Anerkennung verweigert wird. Und weil auch diese Theorien nicht anerkannt werden, steigert sich die Mischung aus Selbstüberschätzung und Verfolgungsgefühl noch.

An dieser Stelle wird die individuelle Obsession politisch. Historiker haben unter dem Titel "Überschuss an frustrierten Intellektuellen" erforscht, wie sowohl die radikalen Varianten des Puritanismus im 17. Jahrhundert als auch das Jakobinertum um 1790 von Personal lebten, das ebenso marginalisiert wie gebildet und arrogant war. Seine Existenzbedingungen stimmten nicht mit seinem Streben nach Ansehen überein, als Stützen der Gesellschaft zu gelten, der sie tatsächlich aber gleichgültig waren. Die anderen hatten die Berufe, sie hatten die Phantasie, alles besser zu können, ließe man sie nur. Diese Inkongruenz ließ plapperndes Ressentiment in sich groß vorkommenden Zirkeln aufschäumen. Die Kriminal- und Spionageromane, stellt Boltanski fest, sind voll solcher Typen halbintellektuellen Größenwahns, die sich freiwillig am Rande der Berufswelt aufhalten, um ihren Hass auf die Zentren zu kultivieren. Der Gegenspieler von Sherlock Holmes, Moriarty, ist so eine Figur.

Der Übergang vom Kriminal- zum Spionageroman findet genau hier statt, wenn als Verbrecher wie als Paranoiker und als "Täter" bestimmte Gruppen (Nationen, Ethnien, Parteien) in Betracht gezogen werden. Um 1890 erreichen die von Attentaten begleiteten anarchistischen Phantasien einen Höhepunkt, Frankreich erließ "Schurkengesetze", die nicht nur einzelne Taten, sondern auch revolutionäre Redensarten unter Strafe stellten. Umgekehrt ist es in Joseph Conrads "Geheimagent" von 1907 das Observatorium von Greenwich, das die Anarchisten genau deshalb sprengen wollen, weil blutige Attentate nur ihrem Klassenhass zugerechnet würden. Es müsse symbolisch zerstört werden, was die gesamte bürgerliche Welt anbete: Wissenschaft.

Schon in "Das Zeichen der Vier" hatte Sherlock Holmes der Meinung beigepflichtet, "dass der Mensch, wiewohl als Einzelner ein undurchdringliches Rätsel, in der Masse zu einer mathematisch berechenbaren Größe wird". Vorhersagen, was ein Einzelner tun wird, sei aussichtslos, vorhersagen aber, wie der Durchschnitt handeln werde, könne man mit Gewissheit. Damit hat nicht nur die Soziologie ihren Auftritt, sondern auch die Verschwörungstheorie.

Für Karl Popper war das fast dasselbe. Denn die Annahme, nicht nur Individuen könnten handeln, sondern auch Merkmalsmengen (Klassen, Schichten, Geschlechter, Inhaber derselben Bildungszertifikate, Konfessionen), ist für methodische Liberale beinahe schon magisches Denken. Boltanski setzt sich im Schlussteil seines Buches damit auseinander, dürfte dort aber die zuvor gewonnenen Leser außerhalb der Sozialwissenschaft wieder verlieren. Es wird hier sehr akademisch.

Das kann jedoch den Eindruck der ersten vierhundert Seiten nicht schmälern, die in eine Deutung auch des gegenwärtigen Verschwörungsdenkens münden. Boltanski vermutet, dass die vermeintliche Zunahme an Verschwörungstheorien ein medialer Effekt sein könnte. Was zuvor in kleinen Kreisen zirkulierte, steht jetzt im Internet. Zugleich sehen sich die bislang anerkannten Eliten dort Beobachtungen ausgesetzt, die ihre Fehler und blinden Flecke anprangern. Es gibt Beweise und Argumentationen für jeden Wahnwitz und Negationen jedweder Expertenrolle. "Alle glauben an alles Mögliche, aber niemand glaubt mehr an irgendetwas. Das ist die Rückkehr des Nihilismus."

Totalitäre Systeme und Bürgerkriege, so Boltanski, treiben die Leute in die Vorsicht. Hier wird zur Voraussetzung kleinster Interaktionen eine Prüfung gemacht, mit wem man es womöglich zu tun hat. In liberalen Gesellschaften hingegen entsteht das Problem, dass unendlich viele Meinungen auf sehr indirekt gewonnenen Informationen beruhen. Also setzen sie zugeschriebene Glaubwürdigkeit voraus. Wenn die Institutionen sie aber verlieren, blühen die sozialen Phantasien. Boltanski spricht in Analogie zu "dunkler Materie" von "dunkler Kausalität" in der modernen Gesellschaft. Ihrer Dunkelheit antworten ebenso vage Vorstellungen: die totale Revolution, das integrale Christentum, die Wiederherstellung von X, Y und Z.

Die Frage, wer am Elend, an den Kriegen und der sozialen Niedertracht Schuld trägt, wird unter diesen Umständen unbeantwortbar. Was aber nur heißt, dass mit Bildmotiven der Bankiers, der Bürokraten und der Kommunisten, der Fremden, der Juden, der Freimaurer und des Vatikans ständig "Sündenbockquartett" gespielt wird. Manche Sozialwissenschaft und mancher Journalismus mischen dabei auf ihre Art mit und entdecken Machtnetzwerke und eine sich abstimmende "Power Class", Konspirationen zwischen Staat und Wirtschaft - "if they only would conspire", meinte Keynes, "if they only could conspire", seufzte Luhmann - oder zwischen den Kapitalisten aller Länder, die einander doch auch Konkurrenten sind. Dass es vermutlich noch viel schlimmer ist, entnimmt Boltanski ganz am Ende Franz Kafkas "Prozeß", den er als paradoxen Kriminalroman deutet: als Verschwörung ohne Verschwörer, Schuld ohne Tat, Verfahren ohne Ordnung und mit einem vermeintlichen Verbrecher, Josef K., der als Detektiv herauszufinden versucht, worin denn überhaupt die Anklage besteht. Man könnte auch sagen: Bei Kafka hebt sich die Suche danach, was dahintersteckt, in der Antwort auf: So gut wie nichts.

Luc Boltanski: "Rätsel und Komplotte". Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft.

Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 515 S., geb., 39,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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