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Gabriel Tarde war zu Lebzeiten neben Emile Durkheim die Hauptfigur der Soziologie in Frankreich. In seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung von 1890 entwirft er eine Soziologie, die die Erklärung jeglicher gesellschaftlichen Veränderung aus dem Begriff der "Nachahmung" gewinnt: "Gesellschaft ist Nachahmung!" Anstatt den Blick auf Individuen und Gruppen zu richten, konzentriert sich Tarde auf die Handlungen und Ideen, nach denen diese Individuen und Gruppen klassifiziert werden. An ihnen liest er die Variablen und Regularitäten ab, die das Muster des Sozialen bilden. Diese Gesetzmäßigkeiten…mehr

Produktbeschreibung
Gabriel Tarde war zu Lebzeiten neben Emile Durkheim die Hauptfigur der Soziologie in Frankreich. In seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung von 1890 entwirft er eine Soziologie, die die Erklärung jeglicher gesellschaftlichen Veränderung aus dem Begriff der "Nachahmung" gewinnt: "Gesellschaft ist Nachahmung!" Anstatt den Blick auf Individuen und Gruppen zu richten, konzentriert sich Tarde auf die Handlungen und Ideen, nach denen diese Individuen und Gruppen klassifiziert werden. An ihnen liest er die Variablen und Regularitäten ab, die das Muster des Sozialen bilden. Diese Gesetzmäßigkeiten und die fundamentale Rolle der Nachahmung für soziale Phänomene überhaupt untersucht Tarde anhand einer Fülle von konkreten Beispielen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Entstanden ist ein Meisterwerk der Soziologie, dessen Einfluß u. a. auf Gilles Deleuze, Bruno Latour, Peter Sloterdijk und die moderne Theorie der Meme von seiner ungebrochenen Aktualität zeugt.
Autorenporträt
Gabriel Tarde (1843-1904) war Professor für Philosophie am Collège de France in Paris.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2010

Von Schlafwandlern
und Händeschüttlern
Universeller Wiederholungszwang: Gabriel Tarde wird
als soziologischer Klassiker für unsere Zeit gefeiert
Die „Tausend Plateaus“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari sind zum poststrukturalistischen Kultbuch avanciert. An einer Stelle des Buches machen die Autoren, die sich als Anti-Soziologen gerieren,einen Kniefall vor einem lange in Vergessenheit geratenen Soziologen: Sie schreiben eine Hommage an Gabriel Tarde (1843-1904). Nur im Anschluss an Tarde, sagen sie, sei eine radikale Neuerfindung der Soziologie als einer „Mikro-Soziologie“ möglich, die sich genau für die Unwahrscheinlichkeit dessen interessiert, was konkurrierende Soziologien als „soziale Tatsachen“ oder „kollektive Vorstellungen“ in stabilen gesellschaftlichen Strukturen verankert sehen. Denn es ist doch gerade die soziale Regelmäßigkeit, die erst einmal erklärt werden muss und nicht immer schon vorausgesetzt werden kann.
Gabriel Tarde geht es um „die kleinen Nachahmungen, Gegensätze und Erfindungen, die eine Materie unterhalb der Vorstellung bilden“. Mit diesem Programm machen Deleuze und Guattari ernst – bis hin zu stilistischen Nachahmungen Tardes. Ein Blick in Tardes nun auf Deutsch erschienenen Essay zur „Monadologie und Soziologie“ zeigt es: Gabriel Tarde ist der Großvater der poststrukturalistischen Philosophie. Seine von der deutschen idealistischen Tradition beeinflusste Philosophie der Differenz und Wiederholung wird emphatisch gegen jegliche Tradition und insbesondere gegen den Hauptfeind in Stellung gebracht – die Hegelsche Dialektik.
Ebenso emphatisch feiert in den letzten Jahren der Soziologe Bruno Latour die erfinderische Sozialtheorie Tardes, den er explizit als „nicht vollkommen respektablen Großvater“ seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“ vereinnahmt. Auch Latour legt großen Wert darauf, dass das „Mikro“ der Mikro-Soziologie Tardes richtig begriffen wird. Mit ihm soll man begreifen, dass sich die großen Strukturen nur aus der Vielzahl des unendlich Kleinen erklären lassen, dass das Makro nur eine „leichte Erweiterung“ des Mikro ist. Dabei wird aber gerade nicht der rational handelnde Mensch in den Fokus gerückt – der universelle Wiederholungszwang unterläuft gerade die Logik einer Eingrenzung des Sozialen auf das menschliche Bewusstsein und lässt für Latour auch noch die Dichotomie von Natur und Gesellschaft irrelevant werden.
Latour wird nicht müde, die universelle Relevanz dieses kleinen, aber radikalen Perspektivenwechsels zu betonen. Mit „Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen“ erscheint jetzt in deutscher Übersetzung auch sein Plädoyer für Tarde als Begründer einer neuen Politischen Ökonomie, die in seinen Händen zu nichts weniger als der einzigen interessanten sozialwissenschaftlichen Alternative zur Marx’schen Analyse des Kapitalismus gerät.
Schon ist von einer regelrechten „Tardomanie“ die Rede. Auffällig ist allemal, dass es bei der gegenwärtigen Neuentdeckung nie nur um die Würdigung eines zu Unrecht vergessenen Klassikers geht – zumindest für die Soziologie geht es hier ums Ganze.
Gabriel Tarde soll als ein origineller Erfinder eines heute relevanten Denkens etabliert werden, das, in Latours Worten, eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft ermöglicht. Nicht ungelegen kommt, dass sich dabei auch eine dramatische Geschichte als Urszene der Soziologie erzählen lässt. Am Anfang der akademischen Institutionalisierung des Faches gegen Ende des 19. Jahrhunderts steht nämlich eine erhitzte Debatte zwischen Tarde und Émile Durkheim, in der unter anderem auf dem Spiel stand, wovon denn die Soziologie überhaupt eine Wissenschaft sein sollte. Als ihr Gewinner ging bekanntlich Durkheim hervor. Mit ihm konnte sich die Soziologie von der Psychologie abgrenzen und wurde zur Wissenschaft des Sozialen, dessen Tatsachen sich nach dem berühmten Wort Durkheims wie Dinge behandeln lassen. Was aber wäre anders gelaufen, wenn der Streit anders ausgegangen wäre? Was birgt die Zukunft der Soziologie an Möglichkeiten, wenn die Kontroverse noch einmal aufgerollt wird?
In Tardes „Gesetzen der Nachahmung“ kann man den Versuch nachlesen, die Welt als Produkt eines universellen Wiederholungszwangs zu erklären. Es ist eine gerade für zeitgenössische Theoriedebatten plausible Idee – Wiederholung ist die Quelle ebenso von Ähnlichkeit wie von Veränderung –, die Tarde schon 1890 bis ins Detail ausbuchstabiert. Wenn sie sich im Physikalischen als Schwingung und im Organischen als Vererbung zeigt, macht sich die Wiederholung im Sozialen als Nachahmung bemerkbar: „Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.“
Diese Idee mutet zunächst simpel an. Doch Tarde bekommt damit die suggestive Dynamik von Nachahmungspraktiken in den Blick: etwa die Sprache, die Gesetzgebung oder auch das Händeschütteln. Ganz abgesehen vom Inhalt dieser Phänomene entpuppt sich die Wiederholung als die Form sozialer Ereignisse, aus der sich nicht nur ein Ordnungs- und Strukturaufbau ableiten lässt, sondern auch noch dessen Fragilität: „Die Wiederholung gibt es also um der Variation willen.“ Dass sich all dies mit einer traumwandlerischen Sicherheit einstellt, weist darauf hin, dass die Nachahmungspraktiken zunächst gar keine bewusst handelnden Individuen voraussetzen. Obwohl Sigmund Freud später den Begriff der Nachahmung als missverständlich, weil zu sehr an eine bewusste Wiederholungshandlung gemahnend, ablehnt, nimmt Tarde schon die psychoanalytischen Motive des Wiederholungszwangs und der unbewussten Identifikation vorweg. Regelmäßigkeit kann sich weitgehend ohne das Wissen der Beteiligten einstellen; konsequent vermutet Tarde ihren Motor in „Überzeugung“ und „Begehren“.
Mit Tarde muss sich die Soziologie ins Lehrbuch schreiben lassen, dass das Heterogene und nicht das Homogene entscheidend ist. Dass sein zentrales Motiv der schlafwandlerischen Wiederholung in heutigen Debatten so viel Anklang findet, mag sich aber mehr als einer theoretischen Mode verdanken, die sich von einem überkommenen Strukturalismus abgrenzen will, ohne auf die Alternative einer Handlungstheorie zu verfallen, die das Soziale aus den Motiven von Akteuren ableitet. Aus der Perspektive Tardes muss ist gegen ein strukturalistisches Modell einzuwenden: Die schlafwandlerischen Wiederholungen im Verhalten der Menschen lassen sich nicht als konkrete Verwirklichung einer abstrakten, überzeitlichen und widerspruchsfreien Struktur deuten, welche ihnen gleichsam von oben ihre Regeln diktieren kann. Umgekehrt können die Wiederholungen aber nicht umstandslos aus dem Wissen, dem Bewusstsein oder den Interessen der einzelnen Subjekte erklärt werden.
Besonders eindrucksvoll sind die Überlegungen Tardes, wenn sie sich der Stadt, der Mode und dem demokratisierten Publikum zuwenden. Tarde fragt sich etwa, woher die Gepflogenheit des Händeschüttelns kommt. Sie erweist sich als das Ergebnis eines Wiederholungsstrahls, der zunächst von oben nach unten verläuft und die Massen die Höflichkeit der guten Gesellschaft kopieren lässt, nicht ohne jedoch eigensinnige, demokratische Effekte zu zeitigen. „Die höflichen Verhaltensweisen überwinden die Distanz besser als die Eisenbahn, und zwar nicht nur die unter den Beamten und Offizieren, sondern auch zwischen den Klassen, die sich mit der Zeit durch das viele Lüften des Hutes und Händeschütteln annähern. “
Fast ist es die Geburt der „demokratischen Gesellschaft“ aus dem wiederholten Händeschütteln, was Tarde hier beschreibt. Trotz der Zeitgebundenheit lesen sich die „Gesetze der Nachahmung“ an solchen Stellen wie eine vorweggenommene Analyse des global village – sie wird unter dem Eindruck zeitgenössischer massenmedialer Technologien und Formen um so plausibler. Dass über große Distanz wiederholt wird, ohne dass dahinter ein Weltgeist oder auch nur bewusste Einzelentscheidungen auszumachen sind, daran haben wir uns gewöhnen müssen.
Mit Gabriel Tarde könnte man sehen, dass die Bedeutung der allgegenwärtigen Massenmedien nicht darin liegt, der verblendeten Welt den Stempel des Immergleichen aufzuprägen, sondern dass sie als Durchlauferhitzer für Wiederholungspraktiken funktionieren, die global ähnliche Formate etablieren und eben dadurch Möglichkeiten zur Veränderung und Kreativität bereitstellen. In der Tat erweist sich dann letztlich Tardes Entwurf einer alternativen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts gerade deshalb am Anfang des 21. als so aktuell, weil er Ideen für ein Unterfangen anbietet, das sich die Soziologie bisher allzu halbherzig zugemutet hat: nämlich die Beschreibung der Gesellschaft auf die Effektivität ihrer Massenmedien zu gründen. Wiederholungen und Differenzen ernst zu nehmen, das könnte hier tatsächlich einen Neuanfang ermöglichen. MARTIN STEMPFHUBER
GABRIEL TARDE: Die Gesetze der Nachahmung. Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 400 Seiten, 14 Euro.
GABRIEL TARDE: Monadologie und Soziologie. Mit einem Vorwort von Bruno Latour. Aus dem Französischen von Michael Schillmeier und Juliane Sarnes. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 153 Seiten, 8,50 Euro.
BRUNO LATOUR, VINCENT LÉPINAY: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 120 Seiten, 14,90 Euro.
Es herrscht „Tardomanie“
– sie gilt dem Großvater der
poststrukturalischen Philosophie
Der französische Soziologie Gabriel Tarde (1843-1904) Foto: oh
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine Revision steht an, meint der Rezensent Martin Stempfhuber, und zwar des ganzen Fachs der Soziologie. Nach abseits der Disziplin stehenden Denkern wie Deleuze/Guattari bringt nun auch der abtrünnige Bourdieu-Schüler Bruno Latour den frühen Soziologen Gabriel Tarde wieder ins Spiel. Der hatte einst die Fehde um die Grundlegung der Soziologie gegen den Kollegen Emile Durkheim verloren. Gegen dessen vermeintliche "soziale Tatsachen" führte Tarde das Prinzip der "Nachahmung" als Basisfaktor des Gesellschaftlichen ins Feld. Von heute aus kann man sehen, so Stempfhuber, welche Vorzüge dieser Gegenentwurf hat. In der Nachahmung, wie Tarde sie denkt - nämlich ohne Akteur mit stark wirkender Intentionalität -, ist die Variation und also der Wiederholung die Differenz stets schon eingeschrieben. Da liegt ein wichtiger Unterschied zu den starr gedachten Oppositionen der Strukturalisten. Am Beispiel des Händeschüttelns führt Tarde das nach Ansicht des Rezensenten zwar zeitgebunden, aber sehr überzeugend vor. Anwendbar wäre das heute sehr wohl, so Stempfhuber, auf die Massenmedien, die weltweite Ähnlichkeiten ausprägen, bei deren Rezeption Differenzen andererseits niemals ausbleiben.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2003

Intelligenz ist, wenn man klaut
Alles nur Nachahmung: Gabriel de Tarde leitet die Zivilisation aus dem Herdentrieb ab

Die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin ist ein Kind der beiden letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. Rückblickend stehen dafür in Frankreich vor allem Emile Durkheim und seine Equipe. Doch es gab eine Reihe konkurrierender Programme, und Durkheim sah sich nicht zuletzt verstrickt in eine sich verschärfende Dauerkontroverse mit einem Autor, der schon etabliert war: mit Gabriel de Tarde (1843 bis 1904). Dieser war hoher Verwaltungsbeamter zunächst in seiner Vaterstadt Sarlat, später im Pariser Justizministerium, zugleich Kriminologe, Statistiker, Philosoph und Soziologe. Seit 1900 lehrte er am Collège de France, bereits 1890 hatte er seine soziologisch-programmatische Schrift über "Die Gesetze der Nachahmung" vorgelegt.

Dieses Buch liegt nun im Jahre 2003 erstmals in deutscher Übersetzung vor. Zu tun hat das damit, daß der Kampf um die Soziologie und ihre Grenzen in jüngster Zeit neu entflammt ist. Muß die geltende Geschichte des Faches umgeschrieben werden, ist der Lorbeer des "Klassischen" neu zu verteilen, kann der "Sieg" der Durkheimianer rückgängig gemacht werden? Kommt alle Ehre nun de Tarde zu - Tarde, dem intellektuellen Einzelgänger und Selbstdenker, der in den 1890er Jahren durchaus ein Erfolgsautor war, der literarische Neigungen hatte und der sein Publikum in der "besseren Gesellschaft" des Frankreichs seiner Zeit suchte und fand?

Brauch statt Gebrauch

"Die Gesellschaft ist Nachahmung" lautet der berühmteste Satz de Tardes. In der unendlichen Vielzahl der sozial aneinander anschließenden Akte des Imitierens (und des Imitierens des Imitierens) stellt die Gesellschaft sich her. Diese Idee, das soziale Geschehen auf imitativem (und keinem anderen) Wege zusammengeschlossen zu denken, stattete de Tarde nun mit einem Fundament aus, das über das Feld des Sozialen weit hinausreichte. Die physikalische Welt kennt, wie de Tarde es sieht, die Wiederholung als Schwingung, die organische Welt hat sie als Reproduktion und Vererbung, die soziale hat sie in Gestalt der Nachahmung. Dieser teils wissenschaftliche, teils metaphysische Unterbau bringt Soziologie in die respektable Nachbarschaft zu Physik und Biologie. Solche Anlehnung an andere, an reputationsstarke Disziplinen stattet die Nachahmung mit metasozialer Rückendeckung aus. De Tarde erschöpft sich nun aber keineswegs in der Anlehnung und Analogie. Die Differenz des Sozialen gegenüber dem Biologischen, die Befreiung der Nachahmung von der Vererbung macht er mit Nachdruck geltend. Sie verschafft dem Sozialen seine eigene Evolution, seinen eigenen Spielraum für Erfindungen oder Entdeckungen hier und für Nachahmung und Verbreitung dort.

Die Tardesche Soziologie ist um den Gegensatz von Erfindung und Nachahmung herum organisiert. Bedeutet das nicht einen zu engen Blick auf das weite Feld des Sozialen? Man kann die Frage verneinen, denn de Tardes Geschick, in den sozialen Verhältnissen imitative Handlungsmuster zu entdecken und sichtbar zu machen, ist beträchtlich, und eine Vielfalt von Sozialformen werden auf die Art zur Sprache gebracht.

Nachdrücklich etwa führt de Tarde den Blick auf die normativen Sachverhalte, auf Konformität und Abweichung, auf Verhaltensregelmäßigkeiten und soziale Kontrolle. Auch alle Verhältnisse von Belehrung und Lernen, zumal solche, die Vorbilder bieten, werden unter das Dach der Nachahmung gezogen. Der soziale Konflikt ist Nachahmung mit negativem Vorzeichen: Man tut das Gegenteil des Vorbilds und bindet sich negatorisch an es. Zugleich geraten die großen Imitationskomplexe häufig in Widerspruch zueinander, Neuerungen bringen sie in evolutionären Verdrängungswettbwerb. Bei de Tarde hat das den Titel des "logischen Zweikampfes".

Schließlich sind auch die sozialen Reichweiten der Nachahmung Thema des Buchs. Unter dem Titel der Mode verhandelt de Tarde das grenzüberschreitende Imitieren; hier sieht er starke Tendenzen zu einem Weltverkehr am Werk, den nationale Grenzen oder (wie zeitgenössisch unvermeidlich) Rassenschranken nicht aufhalten. Gebrochen werden solche Tendenzen aber immer wieder durch das, was im Deutschen "Brauch" heißt und in der ansonsten tadellosen Übersetzung von Jadja Wolf konstant-mißbräuchlich "Gebrauch" genannt wird. Gemeint ist damit die rückwärts orientierte Nachahmung, also das traditionale Kollektiv- und Kulturgut, das sich an die Vorväter bindet und darin ethnisch Eigenes gegenüber Fremdem in Geltung hält.

All das illustriert de Tarde auf den verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten, auf denen der Sprache und der Sprachen, der Religion und der Moral, der politischen und Rechtsverhältnisse. Natürlich sind die Ökonomie, der Markt und die Strukturierung der Bedürfnisse in de Tardes Blick. Große Aufmerksamkeit findet auch die Entwicklung der Kunst, und die Schichtungsverhältnisse kommen vor allem in dem Sinne zur Sprache, daß Nachahmung und Diffusion immer den Weg von oben nach unten nehmen.

Das, was die Imitationsbegrifflichkeit am Sozialen erschließt, ist also alles andere als eng und armselig. Allerdings besteht doch erheblicher Anlaß zu der Durkheimschen Frage, ob de Tarde den Nachahmungsbegriff nicht doch überfordert - dies zumal da, wo die soziale Gleichförmigkeit und Wiederholung machtbewirkt und erzwungen sind, und wo es mithin um die Unterbindung des Andershandelns geht. Es hat wohl mit de Tardes Präferenz für die höheren Soziallagen zu tun, daß ihm, was solche unfreiwillige Nachahmung angeht, kaum Bedenken kommen. Und daß sich die Einheit des Sozialen auf dem Wege der Imitation herstellt, mag man de Tarde erst recht nicht abnehmen, wenn man hört, daß er dabei eben doch bevorzugt die Konformität der Massen im Sinn hat: "Denn was die Menschen verbindet, ist das Dogma und die Macht."

Die Frage nun, die sich auf de Tarde hin für eine evolutionäre Soziologie mit Vorrang stellt, ist, wie man Erfindung und Nachahmung, Innovation und Ausbreitung zueinander ins Verhältnis setzt und dabei die Gewichte verteilt. Macht das zeitlich-soziale "Nach" an der Nachahmung einen Unterschied, oder macht es ihn eher nicht?

Hier nun gibt es gelegentlich Passagen in de Tardes Buch, die den innovativen Anfang klein schreiben, ihn eher zufällig anfallen lassen. Das soziologisch Wesentliche liegt dann auf der Seite der Ausbreitung, der Diffusion. Diese ist der sozial anspruchsvolle Vorgang; der Imitator erst macht die Erfindung bleibend. Auf die Intelligenz des Nachahmens kommt es an. Lernen also und die weiter imitierbare Aneignung und Übernahme erscheinen so als das Maßgebliche. Ausbreitung und generationsfeste Stabilisierung treten hinzu.

Großer Anfang, kleiner Anfang

Bezogen auf die Zähmung des Pferdes - statt seiner Ausrottung durch den menschlichen Jäger - sagt de Tarde aber eher halbherzig: "Die Idee der Zähmung ist also weit davon entfernt, sich aufzuzwingen. Es muß ein einzelner Zufall gewesen sein, durch den das Pferd zum Haustier wurde. Seine Zähmung hat sich schließlich durch Nachahmung ausgebreitet. Und was für diesen Vierfüßler gilt, stimmt zweifellos für alle Haustiere und Kulturpflanzen. Man stelle sich vor, was aus der Menschheit ohne diese Urerfindungen geworden wäre!" Dieser Ausruf (am Ende des Zitats) setzt den Akzent dann aber deutlich gegenläufig, er macht die Erfindung stark, die nun wie eine zurechenbare Handlung auftritt und der ein Erfinder zugehört. Und das führt auf die Sicht, die im Buch klar dominiert.

Danach ist die Erfindung, der punktuelle Anfang das Wesentliche. Die Innovation, sie ist das Unwahrscheinliche. Jenseits alles Erzwungenen ist sie kreative Neuschöpfung und Produkt von Erfindergeist oder sonst Ingeniösem. Und also sind es bei de Tarde nicht soziale Bedürfnisse und Notwendigkeiten, die die Neuerungen und Erfindungen herbeiführen. Vielmehr hängen sich die Bedürfnisse an die neuartigen Befriedigungen, die die Erfindungen im Gefolge haben. Die Imitation und Verbreitung solcher Neuerungen aber verstehen sich als sozialer Prozeß dann weitgehend von selbst. Sie geraten bei de Tarde teilweise in die Nähe des "Herdentriebs".

Auf diese Art aber lädt sich sich die Unterscheidung von Erfindung und Nachahmung mit einem evolutionsbezogenen Klassenunterschied auf: hier die Erfinder, die wenigen Kreativen, dort die Nachahmer, die Masse der Unproduktiven, die nur kopiert und wiederholt. Auch wenn das Buch diese Tendenz - und gar die Disposition ins Massenpsychologische - in geringerem Maße hat, als es ihm nachgesagt wird, so hat es sie doch. Und so ist man am Ende geneigt zu sagen: Der Theoretiker der Imitation neigt dazu, seinen Gegenstand zu deklassieren, er unterschätzt das sozial Anspruchsvolle der Nachahmung. Und daß der Autor sich selbst auf der vornehmeren Seite jenes Klassenunterschieds weiß, bedarf des Nachweises nicht.

HARTMANN TYRELL

Gabriel de Tarde: "Die Gesetze der Nachahmung". Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 416 S., geb., 35,90 [Euro].

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