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Nach dem erfolgreichen Band Die Psychologie der Moralentwicklung, einem der meistdiskutierten Beiträge zur modernen Psychologie, folgt Kohlberg in Die Psychologie der Lebensspanne der zentralen Idee, den Menschen auf seinen verschiedenen Entwicklungsstufen als »Philosophen« zu sehen: Philosoph zu sein bedeutet, sich mit der sozialen und physischen Welt zu konfrontieren, sie zu konstruieren und sich in dieser Auseinandersetzung zu entwickeln. Dabei wird »Entwicklung« nicht auf den Bereich der Moral eingegrenzt, sondern in einem umfassenderen Sinn verstanden.

Produktbeschreibung
Nach dem erfolgreichen Band Die Psychologie der Moralentwicklung, einem der meistdiskutierten Beiträge zur modernen Psychologie, folgt Kohlberg in Die Psychologie der Lebensspanne der zentralen Idee, den Menschen auf seinen verschiedenen Entwicklungsstufen als »Philosophen« zu sehen: Philosoph zu sein bedeutet, sich mit der sozialen und physischen Welt zu konfrontieren, sie zu konstruieren und sich in dieser Auseinandersetzung zu entwickeln. Dabei wird »Entwicklung« nicht auf den Bereich der Moral eingegrenzt, sondern in einem umfassenderen Sinn verstanden.
Autorenporträt
Detlef Garz, geb. 1949, Studium der Erziehungs- und Sozialwissenschaften; 1982 Promotion; 1984/85 Research Associate bei Lawrence Kohlberg; 1988 Habilitation. Seit 1990 Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2000

Selig, o selig, kein Kind mehr zu sein
Wer nicht fragt, ist klug: Nach Lawrence Kohlbergs Philosophie der Lebensalter wird der Mensch immer besser

David Hume war davon überzeugt, daß Menschen neben den fünf Sinnen auch einen sechsten, für die Moral zuständigen Sinn besitzen, wie diese angeboren und auf den Nahbereich eingeschränkt. Auch Kant hielt die moralische Kompetenz für angeboren; nur war diese jetzt nicht mehr eine Sache der Sinne, sondern der Vernunft, der reinen, unvermischten, ins Allgemeine ausgreifenden. Gemeinsam ist beiden Konzeptionen, daß sie die Moralfähigkeit der Menschen in einer unveränderlichen, der Geschichte entrückten Instanz verankern. Die Vorstellung von einer qualitativen Entwicklung moralischer Kompetenz, von einer fortschreitenden Abfolge verschiedener Moralauffassungen, die in einer unverbesserbaren Moralkonzeption gipfelt, paßt weder in das Theoriegebäude des Empiristen Hume noch in die Systematik des Cartesianers Kant. Daher ist für Kant das Moralischwerden nicht als Prozeß, nicht als stetiger Übergang zu immer besseren Moralkonzeptionen, sondern nur als Sprung, als Dezision zu begreifen. Kantische Moral basiert auf einer selbstgenügsamen Vernunft, die weder bei der Moralerkenntnis noch bei der Hervorbringung moralischer Handlungen fremden Beistandes bedarf. Moral ist eine waghalsige, selbst auf rationale Folgenabschätzung verzichtende Entscheidung der Vernunft für und zu sich selbst.

Diesen erratischen Status hat die Vernunft aufgeben müssen. In der Hegelschen Philosophie wird sie in einen dialektischen Lern- und Reifeprozeß hineingerissen, der sie am Ende der von ihm inszenierten Geschichte mit allumfassender Selbsterkenntnis belohnt. Und in den diversen psychologischen Entwicklungstheorien wird dieses Muster der gestuften Höherentwicklung im kleineren ontogenetischen Format aufgegriffen. Nicht nur die Vernunft der Gattung, auch die Vernunft des einzelnen entfaltet ihre Kompetenz in einem zusammenhängenden Entwicklungsgang. Zwar verstehen sich Entwicklungstheorien als empirische Unternehmungen, jedoch sie sind es nicht. Entwicklungstheorien sind begriffsgeleitete, theoriegesteuerte Rekonstruktionen von Entstehungsprozessen, die als begrifflich stringente Abfolge idealisierter Entwicklungsstufen gedeutet werden. Und weil diese Abfolge einsichtig sein muß, nicht einfach die protokollarische Wiedergabe dessen sein kann, was nacheinander passiert, bedarf es begrifflicher Organisationselemente, die eine kontingente Nacheinanderordnung in einen zielgerichteten Prozeß verwandeln. Damit aber ein zielgerichteter Prozeß festgestellt werden kann, muß die Theorie mit einer normativen Vollendungsgestalt hantieren, auf die die gesamte Entwicklung hinausläuft. Das aber bedeutet, daß sich ein normativer Entwicklungstheoretiker nicht durch Neues überraschen lassen kann. Nur dann sind evolutionstheoretische Thesen möglich, wenn der Entwicklungstheoretiker weiß, daß sich nichts mehr tun wird, wenn er über das Ende des Prozesses zuverlässig verfügt. Das ist der Grund, warum Evolutionstheorien oft wie buffoneske Wiederholungen des geschichtsphilosophischen Programms anmuten.

In seinen Studien zur Psychologie der Moralentwicklung hat Lawrence Kohlberg sechs Entwicklungsstufen der moralischen Urteilsfähigkeit unterschieden. Der sie durchlaufende Lernprozeß beschreibt ein anthropologisches Entwicklungsmuster. So unterschiedlich auch immer die kulturellen Ausprägungen der Moralsysteme sein mögen, immer durchläuft die moralkognitive Entwicklung der Individuen dieselbe Aufstiegsbewegung von der Präkonventionalität über die Konventionalität zur Postkonventionalität. Kohlberg ist der Fukuyama der Moralentwicklungstheorie. Wie dieser überzeugt war, daß die Geschichte ihr liberales Finale erreicht habe, so ist auch Kohlberg überzeugt, daß moralphilosophisch durch Kant und seine sich teils kontraktualistisch, teils diskursethisch verzweigende Erbengemeinschaft das letzte Wort in der Moral und Moralphilosophie gesprochen sei und jede moralpsychologische Entwicklung notwendig mit dem Erreichen dieses prozedural-universalistischen Überzeugungsniveaus enden werde.

Daß sich in der westlichen Kulturzone das vorherrschende Bewußtsein universalistisch versteht, daß in weitgehend ungestörten Sozialisationsprozessen den Nachwachsenden auch dieses komplizierte moralische Rüstzeug einigermaßen zuverlässig übermittelt werden kann, ist sicherlich unstrittig. Aber mancher meint, daß dieser Universalismus nichts anderes sei als eine partikulare Kulturgestalt. Diesen Skeptikern versichert Kohlberg, daß sie ihre moralische Modernisierung noch vor sich haben, daß sie sich unweigerlich in die Richtung bewegen werden, in der wir Kantianer des Westens alle schon angekommen sind. Es ist seine feste Überzeugung, daß die von ihm beschriebene Stufenhierarchie ein universell gültiges, unumkehrbares Entwicklungsprogramm darstellt. Der unabweisliche methodologische Zirkel der rational-rekonstruktiven Theorie der Moralentwicklung wird zu einem Zirkel der Beschwichtigung. Kohlberg ist ein glücklicher Wissenschaftler; aufgrund seines doppelten Universalismus der Geltung und der Genesis bestätigt der Moralspsychologe den Moralphilosophen. Die Wirklichkeit wird - in the long run - vernünftig werden. Noch bestehende interkulturelle Dissonanzen in der moralischen Beurteilung können entschärft werden. Kein unüberwindbarer Gegensatz in der Sache macht sich hier bemerkbar, sondern nur ein unterschiedliches ontogenetisches Entwicklungstempo. Der in der Kohlbergschen Stufenhierarchie Höherplazierte braucht nur zu warten, bis sein Opponent das ihm unweigerlich bevorstehende Lernpensum absolviert hat.

Kohlbergs Theorie der strukturalistischen Moralentwicklung steht auch im Zentrum der nachgelassenen Studien, die unter dem Titel einer "Psychologie der Lebensspanne" veröffentlicht worden sind. Die moralpsychologische Stufenlehre wird hier mit Elementen einer Theorie der Ich- und Identitätsentwicklung angereichert und so zu einer Konzeption ethisch-philosophischer Entwicklung ausgeweitet, die fünf Lebensabschnitte unterscheidet: die Kindheit, die Adoleszenz, das Alter des Jugendlichen, das Erwachsenenalter und das Alter. Bei der entwicklungsdynamischen Systematisierung dieser fünf unterschiedlichen Formen menschlicher Selbst- und Weltbeziehung greift Kohlberg in reichem Maße auf die Theorien Piagets, Eriksons, Perrys, Fowlers und anderer zurück. Die begriffliche Organisation arbeitet mit Idealtypen, die den einzelnen Lebensspannen bestimmte prägende Einstellungsmuster und Wertkonstellationen zuordnen. Sie fungieren als eine Art Metacharakter, der die kognitiven, evaluativen und moralischen Dimensionen der sich entwickelnden Persönlichkeit zu einer Einheit zusammenfügt, ihnen einen Rahmen gibt, der eine konsistente Ordnung der Selbst- und Weltbezüge der Person gestattet. Dieses lebensspannenspezifische Organisationsprinzip kognitiver und praktischer Welt- und Selbstbezüge bezeichnet Kohlberg als Philosophie. Man muß jedoch kein Platoniker sein, um dem Kohlbergschen Philosophiebegriff hier allenfalls einen metaphorischen Sinn zuzubilligen.

Idealtypen sind Einheits- und Repräsentanzfiktionen, die der psychologische Interpret aus geeigneten Fallbeispielen keltert. Was Joan und Sam, Tommy, Herr Greenburg oder Dr. Stallworth bei ihren Reaktionen auf die ihnen vorgelegten Dilemmatexte und Standardfragen äußern, wird begrifflich schematisiert und mit der Hoffnung auf Allgemeingültigkeit verwendet. Glücklicherweise ist der erkenntnisleitende, idealtypusbildende Fundus psychologischen Vorwissens weitgehend identisch mit dem, was wir als versierte Alltagspsychologen auch über uns und die Eigentümlichkeiten menschlicher Entwicklung wissen. Daher versetzt diese Sammlung Kohlbergscher Untersuchungen den Leser nicht sonderlich in Aufregung. Letztlich bietet die Lebensspannenpsychologie nur eine Bestätigung der strukturalistischen Moralentwicklungstheorie, denn anders als die vollmundige Rede von den lebensspannenspezifischen Philosophien vermuten läßt, wird die moralische Dimension nicht durch die Einbettung in die altersrelativen Systeme kognitiver und ethisch-religiöser Welt- und Selbstbezüge ausgeweitet; vielmehr wird umgekehrt eine begrifflich arg unterbestimmte Allerweltsauffassung von Philosophie zur abermaligen Bestätigung der strukturalistischen Stufenlehre der Moralentwicklung benutzt.

Man macht sich halt seine Gedanken; und nicht immer dieselben, sondern in unterschiedlichen Lebensspannen verschiedene, die die jeweiligen entwicklungsbiologischen und sozialpsychologischen Eigentümlichkeiten dieser Lebensphasen reflektieren. Und ansonsten gilt, daß Kinder fragen, Heranwachsende zweifeln, Erwachsene wissen und ältere Menschen hoffen. Wir wissen schon, jedenfalls wenn wir Erwachsene sind, daß der Adoleszente auf der Suche nach seiner Identität herumirrt, wehrlos der Dramatik des Sexuellen ausgeliefert ist und einen strengen Sinn für Recht und Gerechtigkeit entwickelt. Und wenn eine pointiertere Charakterisierung erfolgt, dann hebt sie nicht irgendeine Hintergrundphilosophie ans Licht, sondern wendet die bekannten Kategorien der Kohlbergschen Moralpsychologie an. So bestimmt er etwa den Jugendlichen ausschließlich als Transitreisenden, der auf dem Weg von der konventionellen zur prinzipiengeleiteten Moral den Korridor des Relativismus durchquert.

Und wenn der Mensch dann den Geltungsrelativismus zusammen mit der Pubertät ausgeschwitzt hat, geht er als Erwachsener dem Morgenlicht der berühmten Kohlbergschen sechsten Stufe entgegen und lernt, die eigenen Interessen und die Verletzlichkeiten anderer zu koordinieren und nach allgemein zustimmungsfähigen Lösungen moralischer Konflikte zu suchen. Daher stößt man in der Erwachsenenwelt, dies muß jedenfalls die Kohlbergsche Konzeption kontrafaktisch unterstellen, weder auf Relativisten noch auf Universalismusabtrünnige. Und warum ist der ältere Mensch ein Philosoph? Weil er sein Leben in der Rückschau in eine narrative Ordnung zu bringen versucht und im Ruhestand Distanzierung lernt, einen Sinn für größere Zusammenhänge entwickelt und selbst den Kosmos in sein moralisches Bezugssystem aufnimmt. Und weil er sich natürlich über Lebenssinn, Alter und Tod seine Gedanken macht.

WOLFGANG KERSTING

Lawrence Kohlberg: "Die Psychologie der Lebensspanne". Aus dem Amerikanischen übersetzt, herausgegeben, bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Althof und Detlef Garz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 345 S., geb., 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wolfgang Kersting lässt diesem nachgelassenen Buch wie der Philosophie und Moralpsychologie Lawrence Kohlbergs einen Verriss angedeihen, der im Ton freundlich scheint, letztlich aber recht herablassend daherkommt. Dadurch, dass Kohlberg mit Kant die höchste erreichbare Stufe moralischer Reflexion erreicht glaubt, erweise er sich letztlich als Hegelianer, und zwar in der dünnen Gegenwartsversion, er sei "der Fukuyama der Moralentwicklungstheorie". Um diese geht es, so Kersting, auch in diesen Schriften, darüber hinaus aber auch um eine "Theorie der Ich- und Identitätsentwicklung", die Kersting boshaft so zusammenfasst: "Man macht sich halt seine Gedanken; und nicht immer dieselben, sondern in unterschiedlichen Lebensspannen verschiedene". Er weist darauf hin, dass Kohlberg vielfach auf Piaget, Erikson, Perry, Fowler und andere Entwicklungspsychologen zurückgreift und das Selbstmißverständis aller Evolutionstheorien teilt. Diese seien, anders als es ihnen selbst scheine, keineswegs empirisch orientiert, sondern gerade im Gegenteil aufgrund einer vorgefassten Meinung über den kommenden Verlauf geradezu empirieresistent. Einfach gesagt: Kersting lässt kein gutes Haar an Kohlberg und seinem Werk.

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