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Was erfährt man über die Geschichte und Kultur der Moderne, wenn man sie aus der scheinbar marginalen Perspektive der Bakteriologie betrachtet? Und wie wird diese Wissenschaft selbst kulturgeschichtlich »lesbar«, wenn der enge Horizont traditioneller Wissenschaftsgeschichte zugunsten einer Geschichte des Wissens überschritten wird? Die in diesem Band versammelten Texte zeigen, wie die Bakteriologie als Wissenschaft nur unter ganz spezifisch modernen Verhältnissen - Diskursen, Institutionen und Techniken - entstehen konnte, und sie untersuchen, wie die Bakteriologie mit ihren Konzepten und…mehr

Produktbeschreibung
Was erfährt man über die Geschichte und Kultur der Moderne, wenn man sie aus der scheinbar marginalen Perspektive der Bakteriologie betrachtet? Und wie wird diese Wissenschaft selbst kulturgeschichtlich »lesbar«, wenn der enge Horizont traditioneller Wissenschaftsgeschichte zugunsten einer Geschichte des Wissens überschritten wird? Die in diesem Band versammelten Texte zeigen, wie die Bakteriologie als Wissenschaft nur unter ganz spezifisch modernen Verhältnissen - Diskursen, Institutionen und Techniken - entstehen konnte, und sie untersuchen, wie die Bakteriologie mit ihren Konzepten und Analyseverfahren das moderne Bild von Körper und Krankheit, aber auch von Grenzen und Migrationsbewegungen, von Nationen und Kriegen tiefgreifend geprägt hat. Dabei wird deutlich, daß die von den Bakteriologen wissenschaftlich fundierte Rede vom »unsichtbaren Feind« im 20. Jahrhundert zu einem zentralen Topos der Biopolitik wurde.Die Herausgeber arbeiten an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Von Philipp Sarasin erschienen zuletzt im Suhrkamp Verlag: Anthrax. Bioterror als Phantasma (es 2368), Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (stw 1639) und Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914 (stw 1524)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2007

Und ewig geistert die Obsession von der rassebedingten Krankheit herum
Philipp Sarasins Forschungsteam dokumentiert mit ausgesuchten wissenschaftshistorischen Beiträgen, wie die Bakteriologie von der Biopolitik instrumentalisiert wurde

1891 erschien im Ulk, einer Beilage zur Vossischen Zeitung, ein fiktionaler Bericht vom "1. Internationalen Bakterienkongreß". Angesichts der Entdeckungen Robert Kochs in den 1880er Jahren kamen die versammelten Mikroben zu dem Beschluss, "dass in den Kulturstaaten ferner nicht mehr ihres Bleibens sei; sie hätten daher beschlossen auszuwandern und hofften, in den Lungen und Gelenken des menschenähnlichen Affen Inner-Afrikas noch eine Zeitlang ihr Fortkommen zu finden". Was damals als Satire gedacht war, vermag uns heute angesichts der bitteren Realität kaum noch zu erheitern: Die großen Volksseuchen (vor allem die Tuberkulose), die man in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Industriestaaten schon fast besiegt zu haben glaubte, sind als Folge von Migrationsströmen auch im Westen wieder auf dem Vormarsch. In Afrika sterben jedes Jahr mehrere Millionen Menschen an Malaria und Aids. Von einem Siegeszug, von dem die erste Generation der Bakteriologen um Robert Koch und Louis Pasteur träumte, kann im Rückblick keine Rede sein.

Welche Gründe diese Entwicklung hat, darauf kann eine Geschichte der Bakteriologie eine Antwort geben. Allerdings ist diese lange Zeit aus der Fortschrittsperspektive geschrieben worden. Erst in den letzten drei Jahrzehnten hat sich eine neue Sichtweise die Bahn gebrochen. Die traditionelle Vorstellung einer Wissenschaft als einer sich allmählich entfaltenden, Erkenntnis um Erkenntnis anhäufenden, zielgerichteten Rationalität gilt als überholt. Man betont jetzt, dass Fehler und Irrtümer für die Entwicklung einer Wissenschaft ebenso wichtig sind wie Erfolge und Wahrheiten, die heute noch Bestand haben. Man weiß inzwischen um die Bedeutung von "Denkstilen" (Ludwik Fleck) für "Paradigmenwechsel" (Thomas S. Kuhn). Auch die Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis (Stichwort "Laboratory Life") sind inzwischen in den Blick geraten. Auf diese Weise wissen wir besser über die sozialen Interaktionen von Wissenschaftlern und über die realen Entstehungsprozesse wissenschaftlicher "Tatsachen" Bescheid.

Die von einem Forschungsteam unter der Leitung des Zürcher Historikers Philipp Sarasin ausgesuchten wissenschaftshistorischen Beiträge umfassen einen Zeitraum von etwas mehr als fünfzig Jahren. Darunter sind auch Aufsätze, die inzwischen als Klassiker der Medizingeschichtsschreibung gelten, wie beispielsweise Owsei Temkins historische Analyse des Infektionsbegriffs aus dem Jahre 1951 oder Erwin H. Ackerknechts Studie zum Antikontagionismus zwischen 1821 und 1867 (zuerst erschienen 1948).

Die Herausgeber gliedern diese "Wege der Forschung" (um hier an den Titel einer verdienstvollen Buchreihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft zu erinnern) in drei Kapitel. Das erste versammelt Beiträge, die bahnbrechend für die neue Sichtweise auf die Geschichte der Bakteriologie geworden sind. Die Aufsätze von Wissenschaftshistorikern wie Bruno Latour, J. Andrew Mendelssohn und Gerald G. Geison sind Beispiele dafür, wie die Bakteriologie entzaubert wird und ihre Helden (Koch, Yersin, Pasteur) wieder Bodenhaftung bekommen, indem unter anderem die Organisationsbedingungen von Forschung und die Vermarktungsinteressen von Wissenschaftlern beleuchtet werden.

Ein zweiter Teil enthält Aufsätze, die die Instrumentalisierung einer Wissenschaft durch die Politik sichtbar machen. So versuchte die englische Regierung Robert Kochs Theorie des Cholerabazillus während der fünften Pandemiewelle zu Beginn der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, als es zu einem Seuchenausbruch in Ägypten kam, herunterzuspielen. Denn man sah Handelsinteressen berührt, und das ausgerechnet nach der Eröffnung des Suez-Kanals. Die Bakteriologen selbst bereiteten dieser Vereinnahmung durch die Politik, wie unter anderem Christoph Gradmann nachweist, den Boden, indem sie sich einer Metaphernsprache bedienten, die Bakterien als "unsichtbare Feinde" bezeichneten oder die Invasion der Mikroben mit Zuständen in den Kolonien verglichen. Aus der Rhetorik wurde im Dritten Reich mit Unterstützung des "wissenschaftlichen Rassismus" (Paul Weindling) schließlich brutale Realpolitik, die auf die Ausmerzung eines ganzen Volkes analog einer Schädlingsbekämpfung abzielte.

Was diese Seuchenpolitik, die einen Zusammenhang von Rasse und Krankheit konstruierte, für die Betroffenen bedeutete, klingt in einigen Aufsätzen an, die im dritten Teil unter der Überschrift "Repräsentationen des Anderen" versammelt sind. Wie Warwick Anderson am Beispiel der Philippinen zeigt, förderten die Vorstellungen einer angeblich rassebedingten Anfälligkeit für Krankheiten die Obsession amerikanischer Tropenmediziner und legitimierten die Vernachlässigung der einheimischen Bevölkerung. Schließlich konnten Desinfektionsmaßnahmen sogar zum Auslöser blutiger Auseinandersetzungen werden, wovon die Geschichte der mexikanischen Zuwanderung in die Vereinigten Staaten Zeugnis ablegt. Ein erregendes Buch.

ROBERT JÜTTE

Philipp Sarasin, Silvia Berger, Marianne Hänseler und Myriam Spörri (Hrsg.): "Bakteriologie und Moderne". Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 529 S., br., 17,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als gelungenes Beispiel einer Geschichte der Bakteriologie jenseits der Fortschrittsperspektive bezeichnet Robert Jütte den von Philip Sarasin und anderen herausgegebenen Sammelband. Jütte stößt auf die Bakteriologie entzaubernde Klassiker der Medinzingeschichtsschreibung, wie Bruno Latour, und eine in drei Teilen angelegte "erregende" Auseinandersetzung der Bedingungen von Forschung und der Vereinnahmung von Wissenschaftlern durch Markt und Politik. Beiträge über die Instrumentalisierung von Robert Kochs Theorie des Cholerabazilllus oder über die amerikanische "Seuchenpolitik" auf den Philippinen haben Jütte sichtlich beeindruckt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Dieser Band von Historikern widmet sich der Bakteriologie als moderner Wissenschaft.« Elisabeth von Thadden DIE ZEIT