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Die Stimme ist ein performatives Phänomen par excellence. Das gilt für ihre Ereignishaftigkeit, ihren Aufführungscharakter, ihre Eigenschaft, Spur unseres individuellen wie auch sozialen Körpers zu sein, aber auch für ihr Subversions- und Transgressionspotential. Die Stimme ist zugleich ein Schwellenphänomen, nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, Index oder Symbol, sondern sie verkörpert stets beides. Situiert zwischen zwei Seiten, stiftet sie ein Verhältnis zwischen beiden. Gerade weil das Phänomen der Stimme die Grenzen der…mehr

Produktbeschreibung
Die Stimme ist ein performatives Phänomen par excellence. Das gilt für ihre Ereignishaftigkeit, ihren Aufführungscharakter, ihre Eigenschaft, Spur unseres individuellen wie auch sozialen Körpers zu sein, aber auch für ihr Subversions- und Transgressionspotential. Die Stimme ist zugleich ein Schwellenphänomen, nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, Sprache oder Bild, Index oder Symbol, sondern sie verkörpert stets beides. Situiert zwischen zwei Seiten, stiftet sie ein Verhältnis zwischen beiden. Gerade weil das Phänomen der Stimme die Grenzen der Einzelwissenschaften überschreitet, ist ihre fachspezifische wie interdisziplinäre Erkundung und begriffliche Bearbeitung eine vorrangige Aufgabe, der sich die Beiträge in diesem Band widmen.
Autorenporträt
Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin im Ruhestand und seit 2019 Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (2008) und Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie (stw 2176).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2006

Im Rausch der Stimmen denken

Über den lieben Gott heißt es in der Bibel nur: Gott sprach - und es wurde. Nie heißt es dort: Gott schrieb - und es wurde. Wir gehen aber, weil Gott ein Alleskönner sein muß, davon aus, daß er wirkungsvoll schreiben kann. Trotz dieses Mankos beim ersten entscheidenen Auftritt Gottes in der und durch die Welt geschah es nun im weiteren Verlauf der Geschichte, daß Zeichen, Schrift und Bild eines Tages das Sagen bekamen und sich die Stimme nahezu in der kulturgeschichtlichen Bedeutungslosigkeit verlor. Der Augenzeuge drängte sich vor, und der Ohrenzeuge hatte das Nachsehen. Dabei ist die Stimme nicht nur eine Funktion des Atems und damit der Lebendigkeit, des vitalen Elans. Sie spricht gleichsam für sich selbst, denn sie kommt aus der Tiefe des Körpers, aus dem Dunklen, dem Verschlossenen, von dorther, wo die Seele sitzt, der heiße Kern der Persönlichkeit. Einer spricht - und wenn man genau hinhört, dann hört man: An der Stimme läßt sich der jeweilige menschliche Innenraum, das jeweilige komplizierte individuelle Inwendige erahnen. Diese Kompliziertheit kann Komplikationen aller Art mit sich bringen.

In Deutschland stottern ein Prozent der Erwachsenen, zwei bis fünf Prozent der Kinder. Es stottern mehr Jungen als Mädchen. Die Therapie verspricht auch in diesem Fall Hilfe ("Psychotherapieführer. Kinder und Jugendliche". Herausgegeben von Rita Rosner. C. H. Beck Verlag, München 2006. 304 S., br., 12,90 [Euro]). Sprachstörungen im Kindesalter treten häufig zusammen mit motorischen Störungen und psychischen Auffälligkeiten auf. Wer Stotterern helfen möchte, muß an die sozialen Ängste des Stotterers denken, daran, daß der Stotterer psychisch stabilisiert, sein Selbstwertgefühl erhöht und daß er sozial integriert wird. Die Eltern des Stotterers sollen nicht übermäßig auf das Stottern ihres Kindes reagieren, also nicht in Panik geraten. Aus dem Stottern spricht eine Not - so wie flache Stimmen manches Mal ein Hinweis darauf sind, daß hier nicht durchgeatmet werden kann, daß hier etwas oder jemand auf der Brust dessen sitzt, der mit seiner, der um seine Stimme kämpft.

Mit der Stimme beschäftigt sich auch die um neue Erkenntniszentren und Ideenszenarien bemühte Geisteswissenschaft in verstärktem Maße. Die Ohren kommen wieder zu ihrem geistesgeschichtlichen Recht, sie werden wieder an den Platz gerückt, von dem sie von den rabiaten Griechen und deren Fixierung auf das Auge und das Sehen verdrängt worden sind. Die abendländische Tradition des "Okularzentrismus" ("Stimme", herausgegeben von Doris Kolesch und Sybille Krämer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 300 S., br., 11,- [Euro]) gerät damit ins Wackeln. Der Band, der dieses Wackeln an unserer Kultur des Visuellen an allen Ecken unterstützt, versammelt zahlreiche Beiträge über die Stimme: in der Literatur, der Kunst, der Oper, im Mythos, im Zusammenhang mit der Sprache, im Kontext der Technik, in der Politik, bei den Tieren und so weiter.

Die wiederentdeckte Stimme markiert in den Augen der Wissenschaftler eine weitaus radikalere Wende als der "iconic turn", auf den zahlreiche Wissenschaftler stolz sind, der aber doch nur, das meinen die Stimmenverteidiger, am Bild und damit in der visuellen Welt der Zeichen und der Schrift kleben bleibt. Die ganz auf die Stimme gestimmte Wissenschaft interessiert sich, pointiert gesagt, nicht mehr für stumme Strukturen und stumme Werke, sondern für beredete Ereignisse. Der Ereignischarakter sei, so die beiden Herausgeberinnen, die "basale Eigenschaft" aller kulturhistorischen Phänomene. Kein Bild ohne Betrachter, keine Musik ohne Zuhörer, keine Literatur ohne Leser, kein Theater ohne Zuschauer. Kulturelle Ereignisse sind nicht nur "Vorgänge und Vollzüge", sondern eben wahrgenommene Vorgänge und Vollzüge.

Die neugierigen Wissenschaftler schauen auf aus der Stille der Bücher und sehen nun Aufführungen, Inszenierungen - sie hören Stimmen. Dabei kann es unvermittelt zu Bekenntnissen kommen, wie in dem Beitrag von K. Ludwig Pfeiffer über Operngesang und Medienwelt, in dem wir erfahren: "Kittler (gemeint ist der Berliner Medientheoretiker Friedrich Kittler) und ich teilen eine Schwäche für diese Band" (gemeint ist Pink Floyd).

Linguisten (so Ekkehard König und Johannes G. Brandt in ihrem Beitrag) unterscheiden zwischen Stimmqualität (er hatte eine rauhe Stimme), Stimmdynamik (sie sprach mit lauter Stimme), Grundfrequenz (sie hatte eine tiefe Stimme), Standardabweichung (er hatte eine melodische Stimme), Meinung (die Stimme des kleinen Mannes wird selten gehört), Wahlstimme (der amtierende Präsident gab als erster seine Stimme ab), Intonation (die Stimme kann das Gesagte unterminieren) und Stimmhaftigkeit (das Kind ist nicht taub, es hat bloß keine Stimme).

In der Welt der Tiere geht es, linguistisch gesehen, einfacher zu. Im wesentlichen, so Julia Fischer, dienen die Lautäußerungen von Tieren dazu, "die Distanz zwischen verschiedenen Individuen zu regeln". Das kennen die Menschen auch: Wenn sie ihre Nachbarn anschreien oder in das Ohr des Geliebten säuseln. Trotz aller wissenschaftlichen Anstrengungen sei es noch nicht gelungen, den Schritt von den Affenlauten zur menschlichen Sprache nachzugehen. Affen stottern nicht. Ob sie auch, wie zahlreiche Bewohner der Wissenschaftstürme, einer Kultur des Visuellen nachhängen? In Band 20 der Adorno-Ausgabe, soviel zum langen Atem der Kultur, findet sich schon eine "Physiognomik der Stimme".

EBERHARD RATHGEB

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