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Wir haben eine neue Phase in öffentlichen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft erreicht. Die kontroverse Diskussion um embryonale Stammzellen, Neurogenetik, Xenotransplantationen oder reproduktives Klonen macht beispielsweise deutlich, daß die Frage nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen ungebremst expandierender (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse zur dringlichen Problematik der gesellschaftlichen Tagesordnung und des politischen Alltags wird. Die gegenwärtige Diskussion über die Rolle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse mündet nicht selten in den…mehr

Produktbeschreibung
Wir haben eine neue Phase in öffentlichen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft erreicht. Die kontroverse Diskussion um embryonale Stammzellen, Neurogenetik, Xenotransplantationen oder reproduktives Klonen macht beispielsweise deutlich, daß die Frage nach den sozialen Voraussetzungen und Folgen ungebremst expandierender (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse zur dringlichen Problematik der gesellschaftlichen Tagesordnung und des politischen Alltags wird. Die gegenwärtige Diskussion über die Rolle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse mündet nicht selten in den Ruf nach einer überwachung des Wissens. Es entsteht ein neues Politikfeld: die Wissenspolitik.
Autorenporträt
Stehr, NicoNico Stehr ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin University, sowie Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Im akademischen Jahr 2002/2003 war er Paul-Lazarsfeld-Professor der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2003

Ein faustisches Dilemma
Politik ist in: Nico Stehr macht aus der Wissenssoziologie eine Wissenspolitik und fragt nach ihren Folgen
Seit Francis Bacon, also seit Beginn der Neuzeit, gilt, dass Wissen Macht sei, die nämlich, mit der wir die äußere und innere Natur beherrschen. Natur wird hier ganz abstrakt als „Dasein unter Gesetzen” verstanden, weshalb Bacons Herrschaftswissen eben jene Kenntnisse bezeichnet, die solche Naturgesetze zum Gegenstand haben. Wer diese Gesetze entschlüsselt, dem wird die Natur zu einem aufgeschlagenen Buch, in dem er lesen, am Ende sogar selber schreiben kann. Damit büßt sie womöglich ihren Zauber ein, bestimmt aber ihre mitunter bedrohliche Unverfügbarkeit. Menschliche Macht gegenüber einer derart entzauberten und versachlichten Natur entspricht dann der Definition von Max Weber, der „Macht” als das Vermögen begriff, Handelnden die Prämissen ihres Tuns vorzuschreiben.
Ist Wissen zu einer Macht in dieser Bedeutung des Wortes geworden, zieht es zwangsläufig das Interesse anderer Mächte auf sich, nicht zuletzt der politischen. Und begreift man Politik neuzeitlich als ein System zur gesellschaftlichen Selbststeuerung führt die Anwendung ihrer Regelungskompetenz auf die Wissensproduktion der Gesellschaft zu einem neuen Politikfeld. Der Wissenssoziologe Nico Stehr hat es unlängst auf den Begriff „Wissenspolitik” getauft. Deren Aufgabe besteht nach Auskunft seines jüngsten Buches darin, „neue Erkenntnisse und technische Artefakte zu regulieren und zu kontrollieren, indem Regeln und Sanktionen formuliert werden, die für relevante Akteure und Organisationen den Umgang mit bestimmten Erkenntnissen mitbestimmen”.
Freilich hat sich die Welt seit der Veröffentlichung von Bacons Novum Organon im Jahr 1620 gründlich verändert und unser Verständnis von Natur, Gesellschaft wie Wissenschaft mit ihr. Tatsächlich sind zumal in den letzten zehn Jahren – wie Stehr mit beeindruckender Detailkenntnis zu dokumentieren weiß – neue Wissensformen entstanden, die im Gebiet der molekulargenetisch revolutionierten Biowissenschaften menschliche Naturbeherrschung bis an den Punkt einer möglichen „Selbsttransformation der Gattung” vorangetrieben haben. Es ist nun absehbar, dass die Biotechnologie Handlungsmöglichkeiten bereitstellt, die – über die vergleichsweise harmlose Bekämpfung bis dato noch als unheilbar geltender Krankheiten hinaus – mit Eingriffen in die menschliche Keimbahn auf nicht weniger als eine Optimierung der natürlichen Grundlagen sozialer Evolution zielen. Die Menschheit steht im Begriff, sich ihren genetischen Code selbst aufzusetzen.
Moderne Waffenträger
Deshalb ist Stehr Recht darin zu geben, dass „Wissenspolitik” Spektakuläreres bezeichnet als es seine eigene Definition prima vista nahezulegen scheint. In Wahrheit geht es um mehr als den schon ambitionierten Versuch, das Subsystem „Wissenschaft”, wie es sich im Ausdifferenzierungsprozess moderner Gesellschaften entwickelt hat, unter normative Kontrolle zu bringen. Wissenspolitik in der emphatischen Bedeutung, die ihr Stehrs Buch passagenweise zuschreibt, nimmt ein entschieden fundamentaleres Phänomen in den Blick. Sie thematisiert das zumindest für die westliche Moderne bereits angelaufene, hochriskante Experiment, in dem postindustriellen Wissensgesellschaften ihre Zukunft nur noch mit Hilfe innovativer Technologien und Erkenntnisse gestalten können, die ein global operierender wissenschaftlich-industrieller Komplex bereitstellt. Wie dieser die einzelnen Gesellschaften übergreifende Laborversuch ausgehen wird, vermag gegenwärtig niemand zu prognostizieren. Folgerichtig erteilt Stehr im Verlauf seiner leider etwas redundanten Darstellung eigenen Zweifeln das Wort, ob das Geschehen durch eine Wissenspolitik überhaupt steuerbar ist. Denn alle beteiligten Gesellschaften sind in ein Paradox verstrickt, von einem „faustischen Dilemma” heimgesucht, dem sie nach Stehr nicht entkommen: sie müssen hoffen, dass die möglichen Auswirkungen neuer Erkenntnisse kraft des sich weiterentwickelnden Wissens zu begreifen und mit Hilfe eben dieses Wissens auch planend zu steuern sind. Wissen muss vor den Folgen des Wissens schützen.
Schon die Antike hatte sich diese Notlage im Mythos des Telephos verdeutlicht, demzufolge eben der Speer, der die Wunde schlägt, sie auch heilen muss. Wesentlich schlauer scheinen die modernen Waffenträger nach Lage der Dinge nicht geworden zu sein.
MARTIN BAUER
NICO STEHR: Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 327 S., 13 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

In seinem Essay zur "Wissenspolitik" fasst Nico Stehr eine Vielzahl "von äußerst wichtigen Fragen zur Umsetzung" neuerer Technologien zusammen, gesteht Jakob Vogel nur leider schreibe Stehr zum einen "nicht frei von soziologischem Jargon" und auch nicht "in allen Punkten stringent". Besonders die Einsicht, dass "divergierende Wissenskulturen" variable "praktische Lösungen zur Kontrolle und Beschränkung" der neuen Technologien verlangen, hat der Rezensent bei der Lektüre vermisst. Doch findet Vogel auch noch lobende Worte: So sei das Buch nichtsdestotrotz "außerordentlich anregend" und gebe "wichtige Anstöße" zum Umgang unserer Gesellschaft mit neuen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten.

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