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Friedrich Nietzsches Philosophie zeichnet sich dadurch aus, daß sie sprachliche Phänomene in ihrem Bezug zu Leiblichkeit deutet und umgekehrt die symbolische Verfassung des Leibes hervorhebt. Die vorliegende Studie rekonstruiert Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie und nimmt dabei auf einen von Nietzsche selbst reformulierten Begriff von Subjektivität Bezug. Anders als neuzeitliche Deutungen, die das Wesen des Subjekts in die Vorstellung setzen, interpretiert Nietzsche das Selbst als Leiblichkeit. Die Logik subjektiver Entwicklungsvorgänge erkennt er nicht in der Idealität des vorstellenden,…mehr

Produktbeschreibung
Friedrich Nietzsches Philosophie zeichnet sich dadurch aus, daß sie sprachliche Phänomene in ihrem Bezug zu Leiblichkeit deutet und umgekehrt die symbolische Verfassung des Leibes hervorhebt. Die vorliegende Studie rekonstruiert Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie und nimmt dabei auf einen von Nietzsche selbst reformulierten Begriff von Subjektivität Bezug. Anders als neuzeitliche Deutungen, die das Wesen des Subjekts in die Vorstellung setzen, interpretiert Nietzsche das Selbst als Leiblichkeit. Die Logik subjektiver Entwicklungsvorgänge erkennt er nicht in der Idealität des vorstellenden, selbstreflexiven Ichs; sie soll vielmehr der empirisch rekonstruierbaren Materialität der Sprache entnommen werden. Die Konstitution des Subjekts durchsichtig zu machen bedeutet also, Leib und Sprache als zusammengehörige und nur zu Zwecken der Analyse voneinander zu trennende Momente eines Geschehens der Selbstbildung zu begreifen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2001

Denksport als Leibesübung
Spüre unangenehmes Gehirnzellenzucken: Christof Kalbs Nietzsche

Friedrich Nietzsche hat dem Denken neue Dimensionen eröffnet, indem er in den cartesianischen Raum seiner Selbstbeschränkung - "Ich denke, also bin ich" - drei Achsen der Kritik eingezogen hat, die ihn sprengen: Nietzsches Sprachkritik hat die Formel "cogito ergo sum" auf ihre grammatikalische Bedingtheit innerhalb des unausweichlichen Subjekt-Prädikat-Objekt-Verhältnisses zurückgeführt und ihrer vermeintlich zwingenden Notwendigkeit entkleidet; Nietzsches physiologische Kritik hat das Denken seiner leibhaftigen, biologischen Bedingtheit durch den "Kampf der Teile im Organismus" untergeordnet; und Nietzsches historische Kritik sieht sowohl unsere Interpretation der Welt nach einem sprachlichen Schema, das wir nicht abwerfen können, wie den letztlich physiologischen Versuch, uns ihrer zu bemächtigen, dem Zufall geschichtlich veränderlicher Kräftekonstellationen ausgesetzt.

Zwei dieser drei Achsen, die Sprachkritik und die physiologische Kritik, hat Christof Kalbin in seiner Berliner Dissertation von 1997 unter dem Vorzeichen der "Selbstbildung" aufeinander bezogen. Überzeugend hat er den Übergang vom Frühwerk zum mittleren und Spätwerk als sprachtheoretische Transformation dargestellt, dabei aber den Einfluß der Sprach- und Erkenntniskritik von Lichtenberg auf Nietzsche übersehen: Während das Frühwerk im Anschluß an Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik im Individuum noch die unmittelbare Selbstvergegenwärtigung suchte, unterwerfen sowohl die Sprachkritik wie die physiologische Kritik Nietzsches das Subjekt zwei seiner Kontrolle schmerzlich entzogenen Kräften: Es gebietet über seine Ausdrucksmöglichkeiten letztlich sowenig wie über die Kräfte seines Körpers.

Entlang dieser beiden Achsen rekonstruiert Kalb anthropologisch Nietzsches Menschenbild als Bild von der Form- und Interpretierbarkeit, ja Interpretationsbedürftigkeit der menschlichen Natur. Das "nackte Leben" bedarf, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben im Anschluß an Michel Foucaults Reflexion der "Bio-Politik" sagt, der institutionellen Einkleidung, oder es ist ebenso vogelfrei wie verloren. Nietzsche hat denselben Sachverhalt in "Jenseits von Gut und Böse" unvergleichlich viel aggressiver und verletzender formuliert: "der Mensch" ist "das noch nicht festgestellte Thier". Erst das konstruktive Moment der "Selbstbildung" im Medium der Kunst weckte in Nietzsche vorübergehend die Illusion, den durch seine drei kritischen Achsen gesprengten Raum wieder schließen zu können. Kalb sitzt dieser Illusion auf, die für Nietzsche nur die entlastende Funktion der Schärfung seiner erkenntniskritischen Vorbehalte hatte, und läßt sein Buch in ein allzu versöhnliches Kapitel münden.

Die Dissertation ist bis zur Veröffentlichung drei für die Nietzsche-Forschung fruchtbare Jahre lang liegengeblieben, ohne daß der Autor - bis auf die Monographie von Reinhard Gasser über "Nietzsche und Freud" (siehe F.A.Z. vom 21. April 1998) - wenigstens die seine Argumentation unmittelbar berührenden Monographien nachgetragen hätte. So vermißt man Hans Gerald Hödls Panorama zu Nietzsches früher Sprachkritik (siehe F.A.Z. vom 30. Oktober 1997), das gleichzeitig mit Kalbs Dissertation eine Reihe von Forschungsergebnissen zusammenfaßt, die in dieser nur zum Teil berücksichtigt sind; und Marco Brusottis nahezu erschöpfende Berliner Dissertation über Nietzsches philosophische Selbstgestaltung (siehe F.A.Z. vom 28. August 1997) hätte Kalb sowohl auf die Quellen von Nietzsches physiologischer Radikalisierung seiner Willenskritik wie seiner ästhetischen Selbststilisierung nach dem Vorbild der antiken Kyniker aufmerksam machen können.

So zeugt dieses Buch, das zwei Gesichter Nietzsches aufs anregendste erhellt und dabei für einen Augenblick hoffen durfte, dem "gängigen Nietzsche-Bild" einen Schritt voraus zu sein, gerade dort, wo es sich mittlerweile überholt sieht, von der Wirkungsmächtigkeit der dritten Achse in Nietzsches Denken, die es vernachlässigt: der historischen Kritik. Auch die Selbstbildung als leiblich-sprachlicher Prozeß ist nur eines unter vielen Experimenten, der Geschichte zu trotzen, nicht ihr Ziel. Christof Kalbs "Desintegration" gehört zu den seltenen Büchern, in denen dieses Problem als nicht abgegoltenes wenigstens aufgeworfen wird.

MARTIN STINGELIN.

Christof Kalb: "Desintegration". Studien zu Friedrich Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 320 S., br., 24,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Michael Mayer liegt die Stärke dieses Bandes vor allem in der "systematischen Verschränkung" zweier Problemkomplexe bei Nietzsche, die in der Literatur sonst meist getrennt voneinander beleuchtet werden: Da ist zum einen Nietzsches Überzeugung, dass geistige Zustände Folge von körperlicher Verfassung sind, zum anderen seine Ansicht, dass die `Grundirrtümer der Vernunft` durch Probleme bei Sprache bzw. Grammatik bedingt sind. Die Texte des Autors beurteilt Mayer als "gründlich gearbeitet" und weist darauf hin, dass die `Desintegration` hier das Leitmotiv darstellt.

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