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Nationen, so Benedict Anderson in Imagined Communities, sind nichts Natürliches, sie müssen imaginiert und konstruiert werden. Was für die Deutschen oder Italiener gilt, gilt erst recht für Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten oder Argentinien. Eine entscheidende Rolle bei der Erfindung der argentinischen Nation, so Pablo Alabarces, hat dabei im Land Diego Armando Maradonas der Fußball gespielt. Alabarces' Zeitreise durch die (Fußball-)Geschichte Argentiniens beginnt am Anfang des 20. Jahrhunderts, als »argentinische« Mannschaften versuchten, sich vom Spielstil englischer Schulen zu…mehr

Produktbeschreibung
Nationen, so Benedict Anderson in Imagined Communities, sind nichts Natürliches, sie müssen imaginiert und konstruiert werden. Was für die Deutschen oder Italiener gilt, gilt erst recht für Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten oder Argentinien. Eine entscheidende Rolle bei der Erfindung der argentinischen Nation, so Pablo Alabarces, hat dabei im Land Diego Armando Maradonas der Fußball gespielt. Alabarces' Zeitreise durch die (Fußball-)Geschichte Argentiniens beginnt am Anfang des 20. Jahrhunderts, als »argentinische« Mannschaften versuchten, sich vom Spielstil englischer Schulen zu emanzipieren (seither sind die Engländer, nicht die Brasilianer, die Erzrivalen der Albiceleste); er berichtet über die Goldenen Jahre des argentinischen Vereinsfußballs, als die Estudiantes de la Plata gegen Manchester United den Weltpokal gewannen; analysiert die von der Diktatur instrumentalisierte WM 1978 und die Ära des »Maradonismo«. Sein Bericht endet in der globalen Fußballkultur der Gegenwart, in der die Argentinier in Lionel Messi paradoxerweise einen jungen Mann als Nationalhelden verehren, der mit 14 sein Land verlassen mußte, weil sein Verein ihm eine dringend benötigte medizinische Behandlung nicht finanzieren konnte.
Autorenporträt
Pablo Alabarces, geboren 1961, ist Soziologe und Philosoph. Er lehrt Kommunikationswissenschaft und Theorien der Populärkultur an der Universidad de Buenos Aires (UBA). Von 1999 bis 2003 leitete er die Arbeitsgruppe »Sport und Gesellschaft« des Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales (CLACSO). Alabarces veröffentlicht vor allem zu den Schwerpunkten Fußball und Nationalität, Gewalt in Fußballstadien sowie zur Bedeutung der argentinischen Rockmusik – des rock nacional. Zu seinen jüngeren Publikationen zählen: Hinchadas (2005; zusammen mit Mariana Conde, Christian Dodaro u. a.), Crónicas del aguante. Fútbol, violencia y política (2004) und Futbologías. Futbol, identidad y violencia en América Latina (Hg.; 2003). Karen Genschow, geboren 1974, studierte Hispanistik in Valparaíso (Chile). Sie lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Frankfurt am Main und Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2014

Die imaginäre Nation
Eine Kulturgeschichte Argentiniens im Spiegel des Fußballs

Es begegnen sich der Kardinal von Buenos Aires, ein Kind italienischer Einwanderer namens Jorge Mario Bergoglio, und der Rektor des in Argentinien ansässigen "Lateinamerikanischen Rabbinerseminars", der in Buenos Aires geborene Jude Abraham Skorka. Bald werden die beiden Männer entdecken, dass sie nicht nur Verwandte im Geiste sind, sondern Brüder sein könnten. Doch eines trennt Papst Franziskus und Rabbi Abraham bis heute: Der Katholik ist in den Fußballverein "San Lorenzo" aus dem elterlichen Viertel Almagro hineingeboren worden, Skorka fiebert mit dem argentinischen Rekordmeister "River Plate" aus dem Stadtviertel Belgrano.

Argentinische Geschichte und Gegenwart in einer Nussschale: Wohl in keinem anderen Land bilden sich seit Jahrzehnten persönliche und kollektive Identitäten so sehr über die Anhänglichkeit an gut eine Handvoll Fußballclubs. Das geht schließlich so weit, dass Argentinien ohne den Fußball, seine Institutionen, seine Mythen und seine Helden nicht zu verstehen ist. Und das nicht erst seit den Tagen eines Diego Armando Maradona oder eines Lionel Messi, sondern seit der Herausbildung der Einwanderungsgesellschaft namens Argentinien und der Verwandlung in die bis heute mehr imaginäre als reale Nation gleichen Namens.

Die Ambivalenz dieser Entwicklung lebt bis heute in den Namen der prestigeträchtigsten Fußballvereine fort. Boca Juniors und River Plate verweisen (wie auch das im Land sehr beliebte Polospiel) auf die symbiotische Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und dem wohlhabendsten Gemeinwesen Südamerikas. Im Namen Racing Club (nach Racing Paris) spiegelt sich die Stilisierung der Hauptstadt Buenos Aires zum "Paris des Südens". Wie die Identifikation mit Europa, so vollzieht sich auch die Abnabelung der argentinischen Nation im Medium des Fußballs. Als argentinische Fußballmannschaften nach dem Ersten Weltkrieg auf Europatournee gehen, beobachten die Briten verwundert die Herausbildung eines argentinischen, kreolischen Stils: "La nuestra" wird zu einem geflügelten Wort, das bis heute auf den unterschiedlichsten Diskursebenen und in den verschiedenen Kontexten die Suche nach einer argentinischen Identität zum Ausdruck bringt.

"San Lorenzo" ist längst ein Teil davon: Ein Priester der Gemeinschaft der Salesianer Don Boscos, einer im 19. Jahrhundert gegründeten Vereinigung, gründete im Jahr 1908 aus einer Gruppe von Straßenkickern ("pibe") den ersten katholischen Sportclub und damit eine Gegenwelt zu der überwiegend bürgerlich-laizistischen Leitkultur wie der zunehmend von europäisch anarchisch-radikalen Arbeitertraditionen geprägten Vorstädte.

Diese Konstellation war vor Jahren der Ausgangspunkt einer kulturwissenschaftlichen Dissertation des 1961 in Buenos Aires geborenen Soziologen und Philosophen Pablo Alabarces. Im Jahr 2002 wurde daraus ein vor Ideen und Intuitionen funkelnder Essay über den "Fútbol y Patria. El fútbol y las narrativas de la nación en Argentina". Mehrfach überarbeitet und aktualisiert, liegt er seit 2010 auch in deutscher Sprache vor.

Anschaulich beschreibt Alabarces die Ära der Professionalisierung des argentinischen Fußballs während der zwanziger Jahre, die in den Gewinn der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen des Jahres 1928 in Amsterdam und der Vizeweltmeisterschaft im Jahr 1930 bei den ersten Titelkämpfen in Uruguay mündet.

Während des Peronismus (1942- 1955) - "Gesellschaft ohne Klassenkampf, aber mit Klassen" - war es der Fußball mehr als jede andere "Kulturmaschine", der diesem Traum Anschaulichkeit verlieh. Die Entwicklung des Sports im Zeichen des desarrollismo führte zur Entstehung neuer, moderner Fußballvereine wie Estudiantes de la Plata. Noch immer sieht sich Argentinien in den sechziger Jahren eher als Teil Europas denn als Teil Lateinamerikas. Die internationale Dominanz der argentinischen Vereine, die mehrfach die (heute sogenannte) Clubweltmeisterschaft erringen, nährt diesen Traum.

Je offensichtlicher freilich das einst reiche Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg politisch und wirtschaftlich hinter Europa und die Vereinigten Staaten und schließlich auch noch hinter das Nachbarland Brasilien zurückfällt, desto höher werden die Erwartungen an die Mythen produzierende Funktion des Fußballs. Die Indienstnahme der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien im Jahr 1978 durch die blutigste Militärdiktatur des 20. Jahrhunderts auf südamerikanischem Boden bildet nur den Höhepunkt. Ein Wendepunkt ist sie nicht.

Bis heute ringt das Land im Medium der Kulturmaschine Fußball um eine Antwort auf die Frage der wahren "argentinidad". Die vorläufige lautet für Alabarces (nach Beatriz Sarlo): "Er ist nicht die Nation, sondern nur ihr pulsierender Überrest. Oder vielleicht die Form, in die die Nation heute diejenigen einbezieht, die sie in anderer Hinsicht aufgegeben hat."

DANIEL DECKERS

Pablo Alabarces. Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation. Berlin, edition suhrkamp 2010. 287 Seiten, 16 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Können Messi und Maradona siegen? Eine Prognose wagt Jochen Hieber nicht. Das Buch des argentinischen Soziologen und Philosophen Pablo Alabarces aber verkürzt ihm höchst unterhaltsam und intelligent die Zeit bis zum Moment der Wahrheit in Südafrika. Zumal für eine sozialwissenschaftliche Studie, die den argentinischen Fußball und natürlich immer wieder die Ära Maradona und den Erzkrieg gegen die Engländer mit der argentinischen Militärdiktatur kurzschließt, findet Hieber das Buch vergnüglich und brillant durch die Fülle an Spiegelungen zwischen Fußball und Politik und Sozialem. Wenn der Autor dabei uneitel vorgeht und nicht alles, was er in den Blick nimmt, einfach zu "Bedingungsfaktoren" für den Fußball reduziert, sieht Hieber das umso lieber.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Alabarces ist, kurz gesagt, ein Könner der kultursoziologisch verbindenden Rück-, Quer- und Steilpässe.« Jochen Hieber Frankfurter Allgemeine Zeitung 20100607