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Man könne auch als Literaturwissenschaftler durchaus über Bücher reden, ohne jemals eines gelesen zu haben - mit solch provokanten Thesen bringt Franco Moretti seit Jahren die internationale Literaturtheorie durcheinander. In seinem neuen Buch demonstriert Moretti, der ob seiner innovativen Verve bereits mit Umberto Eco verglichen wird, wie eine "abstrakte Literaturwissenschaft" aussehen könnte: Anstatt sich mit einzelnen kanonischen Texten auseinanderzusetzen, kartographiert er die Landschaft englischer Dorfgeschichten oder erprobt die Anwendbarkeit evolutionstheoretischer Konzepte auf die Entwicklung des Detektivromans.…mehr

Produktbeschreibung
Man könne auch als Literaturwissenschaftler durchaus über Bücher reden, ohne jemals eines gelesen zu haben - mit solch provokanten Thesen bringt Franco Moretti seit Jahren die internationale Literaturtheorie durcheinander. In seinem neuen Buch demonstriert Moretti, der ob seiner innovativen Verve bereits mit Umberto Eco verglichen wird, wie eine "abstrakte Literaturwissenschaft" aussehen könnte: Anstatt sich mit einzelnen kanonischen Texten auseinanderzusetzen, kartographiert er die Landschaft englischer Dorfgeschichten oder erprobt die Anwendbarkeit evolutionstheoretischer Konzepte auf die Entwicklung des Detektivromans.
Autorenporträt
Moretti, FrancoFranco Moretti, geboren 1950, lehrt an der Stanford University, wo er das Center for the Study of the Novel leitet. Durch den Einsatz quantitativer Methoden zur Analyse riesiger Mengen von Büchern provoziert er immer wieder die klassische Literaturwissenschaft. Im Suhrkamp Verlag ist zuletzt erschienen Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2009

Die Gelesenen und die Toten
Franco Moretti betrachtet die Literatur aus der Ferne
Manchmal kehren ausgestorbene Arten auf unerwartete Weise zurück. Meist findet das im Kino statt, gelegentlich aber auch in den Wissenschaften. Derzeit erhebt in Kalifornien ein fast schon ausgestorbener Dinosaurier noch einmal sein Haupt: die materialistische Literaturtheorie. Sie hatte einmal versucht, die Gesetze der Literatur aus denen der Geschichte abzuleiten, aber es war ihr nicht gelungen, die marxistische Basis-Überbau-Lehre samt Hegelscher Dialektik erfolgreich ihrem Gegenstand anzupassen.
Der Komparatist und Anglist Franco Moretti, Jahrgang 1950, gebürtiger Italiener, Sohn eines Spezialisten für griechische Epigraphik und Bruder des Filmemachers Nanni Moretti, lehrt seit knapp zehn Jahren in Stanford. Er will den Grundimpuls der materialistischen Literaturtheorie retten, indem er ihn von der marxistischen Geschichtsauffassung löst und der Evolutionslehre Darwins überantwortet. Der Evolutionsbegriff, so Moretti schon in dem Buch „Signs taken for Wonders” (1983), ist geeignet, dem „blindem”, „zufälligen” Element der Geschichte Rechnung zu tragen, ohne es auf die teleologische Notwendigkeit von Marx und Hegel zu verpflichten.
Die Gesetze aber, nach denen der literarische Markt als Exekutor der Geschichte über die kurzfristige Durchsetzung wie über die langfristige Reproduktion literarischer Formen entscheidet, lassen sich Moretti zufolge, in Analogie zur Evolution beschreiben. Der Markt, nicht die Literaturkritik oder gar die akademische Literaturwissenschaft entscheidet über den Kanon. Er ist die Instanz, die Selektionsdruck ausübt und Anpassung verlangt, Innovationen prämiert oder verwirft.
Franco Moretti liest Darwin durch die Augen von Stephen Jay Gould, der – etwa in dem Buch „Der Daumen des Panda” – nicht müde wurde, die Evolution im allgemeinen wie die Begriffe Selektion und Anpassung im besonderen aus der assoziativen Verknüpfung mit „Vervollkommnung” und „Höherentwicklung” zu lösen. Schon Darwin hatte in „The Origin of Species” (1859) geschrieben, es könne ein Organ, das ursprünglich für einen bestimmten Zweck ausgebildet worden sei, im Laufe der Entwicklung gänzlich anderen Zwecken dienstbar gemacht werden. Stephen Jay Gould nannte diese Variabilität der Funktion relativ stabiler Formen „Exaptation”.
Franco Moretti übernahm den Begriff im Blick auf den Funktionswandel literarischer Formelemente durch Abkoppelung vom Entstehungskontext. Eines seiner Beispiel war die Emanzipation des dramatischen Monologs, der sich aus der Form der Tragödie löst und zu einem Laboratorium lyrischer Experimente mit der Sprache und ihren figurativen Bedeutungspotentialen wird.
Franco Morettis jüngstes Buch trägt im italienischen Original, das 2005 erschienen ist, den Titel „La letteratura vista da lontano”. Aus der englischen Version „Graphs. Maps. Trees. Abstract Models for Literary History” ist es jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Der italienische Titel lässt die polemische Intention erkennen, die diesem Projekt einer Neubegründung der materialistischen Literaturtheorie mit Hilfe der Evolutionslehre Darwins innewohnt. Denn die Literatur, aus der Ferne betrachtet – das ist ein Gegenstand, der zur Literatur in Konkurrenz steht, wie sie in der Regel in Literaturwissenschaft und Literaturkritik vorkommt: als Text, der interpretiert, kommentiert, auf Bedeutungsnuancen hin abgehorcht wird. Gegen diesen individuellen Text, das Objekt des „close reading”, setzt Moretti sein Projekt des „distant reading” ganzer Populationen literarischer Texte.
Wie die Evolutionslehre, an der er sich orientiert, nicht von einzelnen Lebewesen handelt, sondern von Arten und ihren Variationen, so handelt Morettis Literaturgeschichte nicht von einzelnen Werken, sondern von Genres. Die traditionelle Literaturgeschichte, sagt er, ist auf das Modell der Ereignisgeschichte, der Abfolge einzelner Werke fixiert. Die traditionelle Literaturtheorie wiederum ist auf langfristig stabile Strukturen fixiert, auf das was Fernand Braudel die „longue durée” nennen würde. Es gibt aber eine „mittlere Ebene” der Literaturgeschichte, die sowohl von der Dynamik der Ereignisgeschichte wie von der Stabilität der Strukturen geprägt ist, und auf dieser Ebene sind die Genres – der Briefroman, der Schauerroman, der Bildungsroman – die Protagonisten. Diese Protagonisten kommen und gehen, haben ihre Aufstiegs- und Abstiegskurven, lösen einander ab, ersetzen sich teilweise, beerben sich. Ihre Entstehung und ihr Aussterben zu studieren ist das Hauptziel in Morettis Übertragung des Evolutionsmodells auf die Geschichte der Literatur.
An die Stelle der intensiven Lektüre einiger weniger Texte, etwa der Briefromane von Richardson, Rousseau und Goethe, tritt dabei in resoluter Wendung gegen den Kanon die Erstellung von Datenbanken zur literarischen Produktion überhaupt, also etwa zur Gesamtproduktion aller Briefromane in England zwischen 1740 und 1810. In die Kurven, Karten und Stammbäume gehen diese Datenmengen ein, die im Kern aus längst vergessenen, „ausgestorbenen” Repräsentanten ihres Genres bestehen. An den Formen, die aussterben, lässt sich Moretti zufolge ablesen, warum die Formen, die nicht ausgestorben sind, sich durchgesetzt haben. Er demonstriert das im Kapitel „Stammbäume” an einem Beispiel, das er schon mehrfach in Aufsätzen analysiert hat: am Erfolg der Detektivgeschichten Arthur Conan Doyles, die sich im Unterschied zur Mehrzahl ihrer zeitgenössischen Rivalen bis heute erfolgreich reproduzieren.
Die Methode, mit der er die Technik der „Clues”, der im Text für den Leser versteckten Anhaltspunkte zur Lösung des Falles, als Schlüssel dafür analysiert, dass sich Doyle gegen seine Konkurrenten durchsetzte, ist nun freilich vom „close reading” weniger weit entfernt als Moretti glauben machen will. Denn natürlich ist seine Opposition gegen „Lektüre” und „Interpretation” keine Fundamentalopposition. Die im Anschluss an Goethes Schriften zur Morphologie und D’Arcy Thompsons „Über Wahrheit und Form” (1917) entwickelte Formel seiner Literaturgeschichtsschreibung lautet: „An der Form eines Gegenstandes ablesen, welche Kräfte auf ihn einwirkten.”
Damit aber kommt die zweite Tradition neben der Evolutionstheorie ins Spiel, an die Moretti anknüpft: der russische Formalismus. Er liefert – etwa in Gestalt von Viktor Schklowskis „Theorie der Prosa” – die Techniken, mit denen Moretti die Daten analysiert, die von der quantitativen Erfassung der Literaturproduktion zutage gefördert werden: etwa, um den Fall Arthur Conan Doyle zu lösen.
Das Anregungspotential Morettis verdankt sich diesem ambivalenten Zugleich von Dementi und Fortführung des alten Spiels von Lektüre und Interpretation. Wenn er im Kapitel „Karten” die konzentrische Raumordnung nachzeichnet, in die in Deutschland und England die Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts eingebettet werden, eher Industrialisierung und Eisenbahn den Kreis der Idylle sprengen, veranschaulichen die Karten, die er zeichnet, ebenso sehr seine Interpretation wie deren Gegenstand. Und natürlich ist die in Gestalt eines Stammbaums auftretende Suggestion einer „Abstammungslehre” der erlebten Rede von Goethe und Jane Austen über Flaubert, Dostojewski, Henry James und Proust bis zu García Márquez und Vargas Llosa nur eine genealogische Hypothese, nicht aber das Schema einer realen literarischen Evolution.
Aber auch wenn Moretti gelegentlich dazu neigt, den Analogiecharakter seiner begrifflichen Entlehnungen aus der Evolutionslehre Darwins zu verwischen, ist sein Plädoyer zur Einbeziehung aller, auch der ausgestorbenen Literatur in das „Feld” der Literaturgeschichte überaus anregend. LOTHAR MÜLLER
FRANCO MORETTI: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Alberto Piazza. Aus dem Englischen übersetzt von Florian Kessler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 140 Seiten, 10 Euro.
Mit Hilfe der Evolutionslehre soll die materialistische Literaturtheorie gerettet werden – ein anregendes Unterfangen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2009

Alleinstellung

Ende des neunzehnten Jahrhunderts warben in England viele Autoren von Detektivromanen um die Lesergunst. Fast alle wurden vergessen, nur einer "überlebte": Arthur Conan Doyle. Lag das an Doyles "literarischer Qualität" oder an einem bestimmten Merkmal, das ihm im Wettbewerb der Formen einen Überlebensvorteil verschaffte? Während Literaturwissenschaftler gewöhnlich bedenkenlos von wenigen kanonischen Einzelwerken auf "den" Roman schließen, geht der Italiener Franco Moretti umgekehrt vor und erforscht die in den Archiven verstaubende Masse der tatsächlich erschienenen Literatur. Morettis abstrakt-quantitative Philologie ist ein ebenso aufregender wie provokanter Brückenschlag zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Boshaft plädiert Moretti für ein distant reading und empfiehlt das Erstellen von Kurven, Karten und Stammbäumen statt immer neuer Interpretationen. Ein jetzt auf Deutsch erschienener Essayband beweist den Reichtum neuer Fragestellungen, die sich mit diesen Werkzeugen bearbeiten lassen: Kurven offenbaren wie Börsencharts das zyklische Auf und Ab ganzer Genres und Gattungen, Karten entlocken Texten, indem sie nur einige wenige Elemente aus dem Fluss der Narration isolieren, verborgene Eigenschaften, Stammbäume verwandeln den Philologen gar in einen Evolutionsbiologen, machen die Vielfalt literarischer Lösungsversuche im Lauf einer Epoche sichtbar. Doyle etwa überlebte, weil er, so Moretti, als Einziger seinen Lesern Anhaltspunkte zur Lösung des Falles gab. (Franco Moretti: "Kurven, Karten, Stammbäume". Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte. Aus dem Englischen von Florian Kessler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 142 S., br., 10,- [Euro].) O.P.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Überaus anregend, was Franco Moretti zu sagen hat. Wenn Moretti loslegt, die materialistische Literaturtheorie mit Darwins Hilfe vor Marx zu retten, entgeht Lothar Müller zwar die Neigung des Autors nicht, den Analogiecharakter seiner Arbeit zu verwischen, und auch nicht, dass es sich bei Morettis evolutionstheoretisch gewendeter literarischer Stilmittelkunde um eine Hypothese handelt. Doch weil des Autors Absichten dem Rezensenten polemisch genug erscheinen, kann er die im Band zu bewundernden Karten und Stammbäume und die Datensammelwut, die hier zunächst einmal die intensive Lektüre zu verdrängen scheint, überstehen. Zur Belohnung bekommt Müller schließlich doch noch etwas von der guten alten Literaturanalyse. Der russische Formalismus macht's möglich. Durch das Zusammenspiel von rein quantitativer Erfassung und Interpretation, so legt der Rezensent nahe, kann Morettis Abstammungsliteraturlehre punkten.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Der italienische Literaturwissenschaftler und Essayist Franco Moretti ist für seine unkonventionelle Denkweise bekannt. In Kurven, Karten, Stammbäume vermisst er stilistisch gekonnt die Literaturgeschichte neu und zeigt, dass es möglich ist, Literatur mit Methoden aus anderen Disziplinen zu beschreiben und zu verblüffenden Resultaten zu gelangen. ... Moretti schreibt argumentativ gewandt, stilistisch schnell und elegant.« Andreas M.Widmann Titel-Magazin 20090629