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Kevin Vennemanns suggestive Prosa zieht uns mitten hinein in einander über- und umstürzende Ereignisse: nahe Jedenew, einem Kindheitsort und gedachten, vielleicht polnischen Dorf, zerbricht mit einem Schlag jene funktionierende Zweckgemeinschaft, die Juden und Katholiken dort über die Jahre verbunden hatte. Der Ort wird zum Kriegsschauplatz, deutsche Soldaten und polnische Bauern plündern die Höfe zweier Familien. Für die Kinder fallen im Moment der Gefahr ihre Erinnerungen an die zurückliegenden Kindersommer, -abenteuer und Familiengeschichten in einer unerhört eindringlichen Bündelung der Wahrnehmungen mit den akuten Bedrohlichkeiten in eins.…mehr

Produktbeschreibung
Kevin Vennemanns suggestive Prosa zieht uns mitten hinein in einander über- und umstürzende Ereignisse: nahe Jedenew, einem Kindheitsort und gedachten, vielleicht polnischen Dorf, zerbricht mit einem Schlag jene funktionierende Zweckgemeinschaft, die Juden und Katholiken dort über die Jahre verbunden hatte. Der Ort wird zum Kriegsschauplatz, deutsche Soldaten und polnische Bauern plündern die Höfe zweier Familien. Für die Kinder fallen im Moment der Gefahr ihre Erinnerungen an die zurückliegenden Kindersommer, -abenteuer und Familiengeschichten in einer unerhört eindringlichen Bündelung der Wahrnehmungen mit den akuten Bedrohlichkeiten in eins.
Autorenporträt
Vennemann, KevinKevin Vennemann, geboren 1977 in Dorsten (Westfalen), lebt in New York. 2005 erschien im Suhrkamp Verlag sein erster Roman Nahe Jedenew. 2007 folgte der Roman Mara Kogoj.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2006

Blick in den Strudel
Mit Kinderaugen: Kevin Vennemanns Roman über ein Pogrom

Jede Geschichte braucht ihre eigene Form. Ein lineares Erzählen, streng nach Chronologie, ist unmöglich, wenn vom Ende her gedacht wird. Oder wenn, wie in Kevin Vennemanns Roman, weder Anfang noch Ende zu erkennen sind, wenn Erinnern und Erleben, Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen und alles um ein zentrales Ereignis kreist, um jenes Ereignis, das mit einem Schlag alles zerstört.

An einem fiktiven Ort, vielleicht in Polen, rotten sich nach dem Einmarsch der Deutschen die Bauern zusammen, um Rache zu nehmen an dem jüdischen Tierarzt, der ihre Schweine notgeschlachtet hat und den sie verdächtigen, die Tiere im Auftrag der Russen getötet zu haben. Zwei Höfe setzen die Bauern in Brand, sie ermorden die Mitglieder zweier Familien. Den Töchtern des Tierarztes, der Erzählerin und ihrer Zwillingsschwester Anna, genannt Piratenanna, gelingt die Flucht. Sie verstecken sich in ihrem Baumhaus und schauen von dort auf die brennenden Höfe, beobachten "wie sich alles, was wir besitzen, im Garten hinterm Haus immer höher auftürmt, immer höher, immer höher zu einem Feuerhaufen".

Sie flüchten sich in Erinnerungen, an die Hochzeit ihres Bruders Marian, an den letzten Sommer und das leise Ausklingen ihrer Kindheit. Nachts suchen die beiden Mädchen auf den Feldern nach Nahrung, immer abwechselnd, und legen sich auf die Lichtung, die Marian ins Kornfeld geschnitten hatte: "Wir atmen nicht, wir reden nicht, es ist heiß. Wir liegen im Rund der Lichtung, wir sehen uns nicht an, wir fragen, ohne zu sprechen: Was nun. Wir liegen im Rund der Lichtung, zu zweit, zu zweit haben wir auf der Lichtung bequem Platz, wir sind jünger und kleiner als Marian, wir helfen Marian, das Rund in das Feld zu schneiden im Mai." Wie Wellen werden die Erinnerungen herangespült, überfluten die Wahrnehmung und müssen zurückweichen vor einer Gegenwart, in der es keine Hoffnung mehr gibt. Traumatisiert und starr vor Schrecken, wehren sich die Mädchen dagegen, die Katastrophe, die in ihre geordnete Welt hereinbrach, anzuerkennen.

Vennemanns Erzählweise ist wie ein Sog, in dem alles um ein wirbelndes Zentrum kreist. Es gibt kein geordnetes Nacheinander, nur ein Präsens, das alle anderen Zeitebenen überblendet und verzehrt. Was geschehen ist, erschließt sich langsam, erst im Rückblick, und manches bleibt verschwommen. Man müßte diesen kleinen Roman von hinten nach vorne lesen. Er hat einen ganz besonderen Ton, dem man sich nicht entziehen kann. Redundanz bedeutet hier nicht lässige Sorglosigkeit, sondern Strenge; sie erzeugt jenen Strudel, dem man nicht mehr entkommt.

Wenn Vennemann, der 2002 mit dem Erzählungsband "Wolfskinderringe" debütierte, in seinem Roman über Vergangenheit und Schuld, Krieg und Judenverfolgung schreibt, geht es nicht um Fakten und Anklagen. Nicht ein in sich geschlossenes Ganzes, nicht ein schlüssiger Ereigniszusammenhang wird gezeigt, sondern eine bestimmte, rätselhafte Sicht auf die Welt. Das Geschehen bleibt unfaßbar, wie etwas, das einem Kind widerfährt. Alles Tatsächliche löst sich in einer Atmosphäre der Bedrohung auf. Das Grauen, ins subjektive Erleben der beiden Schwestern verlagert, rückt sehr nahe. Nur die Rückblenden erlauben noch ein wenig Aufschub, und so rufen sich die Mädchen ununterbrochen die Geschichten ihrer Kindheit ins Gedächtnis, die ihnen der Vater erzählte, "die wir aufbewahren und für uns behalten oder vergessen oder auch einmal weitererzählen oder aber auch nur für uns erinnern können" und die der Vater als die eigenen ausgab, auch wenn er sie bloß in einem Buch gefunden hatte.

Auch Vennemann, Jahrgang 1977, erzählt nicht die eigene Geschichte, nicht die seiner Generation. Und vielleicht ist sein Buch weniger Auseinandersetzung mit der Schuld der Vergangenheit als ein meisterhaftes literarisches Exerzitium. Der Autor schaut, ohne zu analysieren, folgt den Verstrickungen, ohne die Fäden entwirren zu wollen. Er erzählt mit großer poetischer Kraft eine Geschichte, deren Aneignung aus einer so selbstverständlichen artistischen Distanz heraus auf erstaunliche Weise gelingt.

ANDREA NEUHAUS

Kevin Vennemann: "Nahe Jedenew". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 142 S., br., 8,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2006

In der südlitauischen Heide
Ein Baumhaus im Märchenwald der Geschichte: Kevin Vennemanns erstaunliches Romandebüt „Nähe Jedenew”
Dies ist ein schmales Bändchen, leicht zu übersehen in der ausufernden Taschenbuchreihe „edition suhrkamp” . Offenkundig eine Neuerscheinung, von der man sich nicht allzu viel verspricht. Das Romandebüt des 1977 geborenen und in Berlin studierenden Kevin Vennemann kam im November heraus, unauffällig in der Herbstproduktion mitschwimmend. Vor drei Jahren bereits hat der kleine, ambitionierte Tropen-Verlag Vennemanns Erzählungsband „Wolfskinderringe” veröffentlicht. Viel mehr weiß man nicht von diesem Autor, außer - so die Verlagsangaben zu seinem ersten Buch -, dass er in Köln, Innsbruck und New York als Totengräber, Fließbandarbeiter, Kellner, Aushilfslehrer und Hotelportier gearbeitet hat. Schon nach den ersten Seiten ist klar: dies ist der beste literarische Text, der in den letzten Jahren von einem unter Dreißigjährigen erschienen ist.
Lebkuchen im Schreckenskreis
„Nahe Jedenew” verblüfft in mehrfacher Weise. Der Roman besteht nicht aus den knappen, schmallippigen Hauptsätzen, mit denen sich zur Zeit in Deutschland die „junge Literatur” ausweist. Man kann nicht einmal erkennen, ob der Roman in der Gegenwart spielt; da scheint eher eine märchenhaft anmutende, unheimliche Vergangenheit am Werk zu sein. Das Buch zieht den Leser sofort hinein in ein rätselhaftes Gewebe aus Sprache, aus Zeiten, aus Personen, in verschlungene Seitenstränge und Nebensatzkonstruktionen. Dabei ist es leicht zu lesen. Es schafft eine äußerst suggestive Atmosphäre. Es birgt ein Geheimnis, das im Lauf des Textes immer größer zu werden scheint, man kann sich ihm nur assoziativ annähern. Der Autor geht virtuos mit der deutschen Sprache um, ohne dass ihm diese Virtuosität zum Selbstzweck wird.
Zwei Schwestern erleben das Ende ihrer Kindheit und umkreisen das Leben zweier Bauernfamilien. Der am nähesten gelegene Ort heißt „Jedenew”. Mit der Zeit werden auch andere polnisch klingende Ortsnamen genannt, und auch die Personen, die vorkommen, haben polnische Namen. In der Mitte des Textes gibt es eine vage geographische Bezeichnung: wir befinden uns in der „südlitauischen Heide”. Und von Anfang an ist eine Bedrohung zu spüren, die beiden Familien sehen sich plötzlich von Soldaten und feindlichen Bauern umstellt, obwohl sie jahrelang mit ihnen nachbarschaftlich zusammengelebt haben.
Die Zeit, in der die Geschichte spielt, könnte Ende der dreißiger Jahre sein, es weist einiges auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs hin. Dass die Hauptpersonen Juden sind, wird nicht ausdrücklich gesagt. Überhaupt scheint es nicht um eine konkrete Zeit und einen konkreten Ort zu gehen. Manchmal wechselt mitten im Satz die Zeitebene. Fern Zurückliegendes und unmittelbar Gegenwärtiges gehen fließend ineinander über, Sommer- und Winterszenen verschmelzen, glückliche Kindheitsbilder und aggressive Verfolgung werden ein- und dasselbe.
Die beiden Schwestern haben sich in einem Baumhaus versteckt, das von außen schwer zu entdecken ist, und beobachten, wie die Häuser, in denen sie gewohnt haben, zerstört werden. In diesen Momenten laufen die Erinnerungsbilder ab. Dabei werden nicht nur Erinnerungen von früher mit der aktuellen Angst konfrontiert, es folgt nicht einfach gestern auf heute: Die Bilder schießen chronologisch ungeordnet durcheinander. In den langen, verschlungenen Sätzen Vennemanns können sich auch friedliche Fragmente aus der Kindheit überlagern, so geht einmal das winterliche Backen von Lebkuchen in Szenen über, in denen die Schwestern in Badeanzügen auf dem Holzsteg zum See liegen. Die mythische Geschichte des Vaters, wie er in den Bauernhof nahe Jedenew einheiratete, kehrt leitmotivisch wieder: er machte sich einmal mit einem Fuhrmann zu einem weit entfernt liegenden größeren Ort auf und wurde dabei vom Schnee überrascht. Sie verloren die Orientierung und merkten, dass sie im Kreis fuhren; endlich stießen sie auf das einsame Haus.
Alltägliche Momente werden in genauen Skizzen festgehalten und tauchen aus dem flirrenden Erzählkontinuum auf, in bestechender Klarheit: die zerbeulten Gardinenstangen aus Blech, der alte Teekessel, das Zöpfeflechten der Sechzehnjährigen, die Küche und das Fleisch. Doch grundiert werden diese Glückssplitter durch die Schreckens-Situation im Baumhaus, von dem aus die Schwestern nachts in die Felder gehen, um sich etwas zu essen zu holen, und durch die Bauern, deren Klarinetten- und Akkordeonmusik wie ein Totentanz wirkt.
Was genau auf der Waldlichtung geschehen ist, zu der es die beiden Schwestern immer wieder, nachts auf gefährlichen Wegen, hinzieht, wird nur in wenigen, scharf belichteten Einzelaufnahmen kenntlich. Einmal wird Marian, der ältere Bruder, auf dieser Lichtung liegend evoziert, und der Zwischenzustand, den er in der Erinnerung annimmt, ist charakteristisch für die schwebende, sich in mehrere Perspektiven auflösende Erzählung insgesamt: Marians Finger zucken, „als spiele er leise Klavier”, Marians Lider zucken, „als schlafe er gar nicht während er schläft” - es ist das letzte Bild, das von Marian zurückbleibt.
Das Frappierende an Vennemanns Roman ist, dass Geschehnisse aus einer mittlerweile in Geschichtsbüchern verzeichneten Zeit mit den Mitteln und der Wahrnehmung von heute geschildert werden. „Jedenew”, dieser magische Ort in der „südlitauischen Heide”: man weiß nicht, ob man ihn auf russisch oder polnisch oder vielleicht sogar deutsch aussprechen soll, man weiß nur, dass der Ort jeden angeht.
Das Erzählte scheint in eine trancehafte Zeitlosigkeit gerückt, doch auf dieselbe Weise kann auch etwas Aktuelles darin aufscheinen. Verschiedene Schlüsselszenen wechseln sich ab, werden immer wieder hervorgerufen und verdichten sich dadurch immer mehr. In der Sprache dieses Textes liegt eine absolut zeitgenössische Musikalität, eine Rhythmik, die sich der Sogwirkung von Wiederholungen verdankt, von ständig neu zusammengesetzten Grundmustern. Alle Momente sind auf einmal vorhanden und treten abrupt und bruchstückhaft zutage. Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit, wie sie hier dargestellt wird, entspringt einem Bewusstsein, das vor allem auch die Jahre nach 2000 verarbeitet.
Irrwege im Schnee
„Nahe Jedenew”: dies sind keine Szenen aus einer abgeschlossenen Vergangenheit. Das Märchenhafte, Unheimliche und Archaische kann immer wieder hervortreten, Vennemanns Sprache rückt es in die unmittelbare Gegenwart und hebt es auf in der Literatur: eine letzte Pointe dieses Buches liegt darin, dass sich die Erzählung des Vaters vom stundenlangen Irrweg im Schnee in einem Buch seiner Bibliothek wiederfindet.
Die fernen Bezugspunkte von Vennemann heißen Borges oder Kafka, und das sind im Schreiben von heute mehr denn je einsame Figuren. Dabei wird in jeder Zeile klar, dass dieser Text hier und jetzt entstanden ist. Dieses Buch ist mehr als bloß eine Talentprobe. Es ist ein großes literarisches Versprechen.
HELMUT BÖTTIGER
KEVIN VENNEMANN: Nahe Jedenew. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 142 Seiten, 8 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Helmut Böttiger hat höchstes Lob zu vergeben. Der Debütroman des 1977 geborenen und in Berlin lebenden Kevin Vennemann stelle nicht nur das Talent des Autors unter Beweis sondern rage als "literarisches Versprechen" unter den Neuerscheinungen der jungen Literatur der letzten Jahre heraus. Sprachlich virtuos umgesetzt, in der Schwebe gehalten und doch leicht zu lesen sei die Geschichte über zwei adoleszierende, vermutlich jüdische Schwestern in einem osteuropäischen Landstrich, die sich Ende der dreißiger Jahre mit dem Leben zweier Bauernfamilien verknüpfe. Dass der Autor die genauen Zeit- und Ortsverhältnisse, ebenso wie gesicherte Annahmen über die Beziehungen des Romanpersonals weitgehend im Unklaren lasse, und in ein "flirrendes Erzählkontinuum" versetzt, immer wieder neu kombiniere, mache die große Anziehungskraft des Buches aus und fordere das Assoziationsvermögen des Lesers heraus, so der Rezensent. Man befinde sich eben immer nur "nahe Jedenew", wie es der Titel schon verspreche.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Vennemann erzählt vom Zweiten Weltkrieg, als wäre es eine Kindergeschichte. Es ist dabei ein sehr musikalisches, durch sein Thema fast provozierend melodiöses Stück Literatur.« Georg Diez DIE ZEIT