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Die Bedeutung des politischen Skandals für die Normalität der Demokratie kann kaum überschätzt werden. Als Instrument der Herrschaftskontrolle und des Machtwechsels packt der Skandal spontaner und oft wirksamer zu als reguläre Wahlen. Er zeigt Politik als Aufstieg und Fall von Personen - und gewährt damit Einblick in unpersönliche Funktionsweisen und Dilemmata der Politik. Er erzeugt Empörung über die Verletzung von Normen - und schärft damit das Gefühl für deren Wichtigkeit und Richtigkeit. Er deckt Grenzüberschreitungen auf - und wird so zum Grenzwächter zwischen den Sphären der Politik, der…mehr

Produktbeschreibung
Die Bedeutung des politischen Skandals für die Normalität der Demokratie kann kaum überschätzt werden. Als Instrument der Herrschaftskontrolle und des Machtwechsels packt der Skandal spontaner und oft wirksamer zu als reguläre Wahlen. Er zeigt Politik als Aufstieg und Fall von Personen - und gewährt damit Einblick in unpersönliche Funktionsweisen und Dilemmata der Politik. Er erzeugt Empörung über die Verletzung von Normen - und schärft damit das Gefühl für deren Wichtigkeit und Richtigkeit. Er deckt Grenzüberschreitungen auf - und wird so zum Grenzwächter zwischen den Sphären der Politik, der Wissenschaft und des privaten Lebens. Skandale gelten als Beleg für einen Mangel an Moral. Sie selbst sind aber hochmoralische Ereignisse, ja Institutionen. Über Enthüllung, Entrüstung und Sühne entfesseln sie einen Sturmwind moralischer Gefühle, vor dem Wirtschaft und Politik in die Knie gehen. So bezeugen und bestärken Skandale die Macht der Moral, deren Fehlen sie beklagen. Gäbe es keine Skandale, müßten sie erfunden werden.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2002

Der Skandal, die segensreiche Katastrophe
Karl Otto Hondrich setzt auf die Macht der Kollektivmoral / Politische Selbstreinigung oder Politikersatz?
In der Bonusmeilen-Affäre verkam die in hoher Blüte stehende deutsche Skandalkultur zur Farce. Die ertappten Sünder taten Buße, ohne abzuwarten, ob das Publikum überhaupt zur Empörung über ihre Schummeleien geneigt war. Es reichte, dass die Bildzeitung „Skandal!” rief. Sofort übernahmen die Beschuldigten ihren Reuepart und spielten ihn zu Ende. Damit missachteten sie die Regeln der Skandalisierung, die sich, wie Karl Otto Hondrich ausführt, in vier Schritten vollzieht: moralische Verfehlung (als solche noch lange kein Skandal), Enthüllung, Entrüstung und Wiedergutmachung.
Nach Hondrich eröffnet die erste Entrüstung so etwas wie einen Moralwettbewerb, in dem ermittelt wird, welche kollektiven moralischen Gefühle schwer verletzt worden sind und wie ihnen Genugtuung verschafft werden kann. Wer als entlarvter Regelverletzer rasch zurücktritt, sich gar noch selbst bezichtigt, versucht demnach moralisch die Oberhand zurückzugewinnen und seine Verfolger zu beschämen. Falls das Publikum aber gar nicht richtig gekränkt ist, versteht es auch die Rücktritte nicht richtig.
Dieses moralisch so empfindsame und bisweilen unerbittlich richtende Publikum ist in seiner Mehrheit zugleich so abgebrüht, dass es auf Nachfrage hin vermutet, eigentlich hätten ja alle Politiker Dreck am Stecken; es komme eben nur darauf an, wo man gerade nachforsche. Ganz in diesem Sinn konnte man die Abfolge der jüngsten politischen Skandale in Deutschland als Konkurrenz der Retourkutschen deuten: Bist du empört über meinen Kohl, bin ich noch empörter über deinen Joschka Fischer und den Filz in NRW, und jedem Lager sein investigativer Journalismus.
Völlig falsch, sagt Hondrich. Die Fähigkeit der Parteien und Medien, Skandale zu inszenieren, werde grotesk überschätzt. „In neun von zehn Fällen, in denen eine hochrangige Verfehlung aufgedeckt und Skandal geschrieen wird, bleibt der von den Interessenten erwartete Flächenbrand der Entrüstung aus. In letzter Instanz entscheiden die von vielen geteilten moralischen Gefühle selbst darüber, wann sie sich aus ihrer alltäglichen Ruhe schrecken und ihre Macht spielen lassen.” Da ist sie, die „Supermacht der demokratischen Gesellschaft”, das kollektive moralische Empfinden.
In seinem neuen Suhrkamp-Band hat Hondrich Überlegungen aus der Zeit von 1984 (Flick) bis 2002 zu integrieren versucht. Seinen Lesern kündigt er eine „Entdeckungsreise zu den Quellen des soziomoralischen Lebens” an und spricht letzterem weitgehende Autonomie gegenüber Politik, Wirtschaft, Medien und Moden zu. Der eingehenden Darstellung bestimmter Skandalfälle (Tschernobyl, DDR, CDU, „Sündenbock” Jörg Haider) stellt er eine Skandaltheorie voran.
So entsteht der Eindruck eines deduktiven Stufengangs vom Allgemeinen zum Besonderen. Aber die Fallgeschichten veranschaulichen jeweils nur Bruchstücke der Theorie. Offenbar sollten ältere Befunde, wie revisionsbedürftig auch immer, für die Publikation gerettet werden. Dem Unternehmen ist das schlecht bekommen. Den Fällen Tschernobyl, DDR und Haider mangelt es am Merkmal, plötzlich aufgedeckte Missstände gewesen zu sein. Konkrete Einsichten werden daher jeweils durch Rückgriffe auf die Theorie angereichert.
In der Tradition von Durkheims Devianztheorie und systemtheoretisch plausibel weist Hondrich dem großen politischen Skandal eine gesamtgesellschaftlich nützliche Aufgabe zu. Er verbreitet dialektischen Optimismus; in der soziologischen Gesamtrechnung entfaltet jedes Übel letztlich reinigende Wirkung. Wie sorgt die hochkomplexe Gesellschaft dafür, dass Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, verwandtschaftliche Loyalität und Liebe mit ihren unvereinbaren Ansprüchen genügend Abstand voneinander halten? Wie vergewissert sie sich ihrer Normen und lernt, Wertekonflikte auf übergeordnete Handlungsrichtlinien hin zu schlichten? Wie bändigt das politische System in der Zeit zwischen den Wahlen die Anmaßung selbstherrlicher Karrieristen? Durch den Skandal, die segensreiche Katastrophe.
Aus dem Schattenreich
Hondrichs Analysen des gesellschaftlichen Kräftespiels überzeugen durch eine Sensibilität fürs Detail, die das Wissen von den großen Zusammenhängen fruchtbar ergänzt – etwa wenn er ausführt, warum moderne Gesellschaften ein „Schattenreich” der inoffiziellen, latenten Regelung ausdifferenzieren und abdunkeln müssen. Seine Zuversicht jedoch, dass die vom Skandal ausgelösten moralischen Konvulsionen bestimmte chronische Wertekonflikte westlicher Gesellschaften blitzartig beleuchten und ausagieren, überzeugt nicht. Denn der politische Skandal von heute – Anlass, Entrüstung, Sühne – hat ein privatistisches Korsett. Kriterium möglicher kollektiver Erregung sind das Einkommen, die Gesundheit und sonstige Vergleichsgrößen von Publikumsmonaden (Einzelhaushalten), also gerade nicht die Problemlagen von Kollektiven und Systemen.
Auf welche Weise könnte beispielsweise die Vergreisung Deutschlands, der schleichende Verlust seiner Zukunftsfähigkeit, Skandalthema sein? Wenn ruchbar wird, dass mit Hilfe korrupter Amtsträger öffentliche, für die Anschaffung von Panzern, Müllverbrennungsanlagen und Atommeilern ausgewiesene Mittel von Unternehmen mit Sinn für „politische Landschaftspflege” erbeutet wurden, enthüllt dies immer nur die vertraute Schlechtigkeit der Welt und nicht die Strukturkrisen der Verteidigungs-, Umwelt- und Energiepolitik. Bestenfalls resultiert daraus ein neues Parteiengesetz. Skandale sind unvermeidlich, unverzichtbar und allen gerade nicht Beteiligten herzlich willkommen, aber nicht die Selbstheilungsmechanismen des politischen Systems.
Außerdem unterschätzt Hondrich die entpolitisierende Leistung der skandalisierenden Medien. Diese sind über ihre Rolle als Berichterstatter und Hilfsorgane der Aufklärung weit hinausgewachsen. In der Aufbereitung der Sündenfälle für das Panoptikum menschlicher Schwächen vollendet sich die Symbiose einer Politik fortwährender Zustimmungsbeschaffung mit Bildschirmästhetik, Boulevardpopulismus und Konfliktdramaturgie. Hier ereignet sich in Permanenz und nahezu ungestört eine jener „Grenzverletzungen”, die Hondrich zufolge Skandale provozieren.
Je weniger demoskopische Bestätigung eine Partei mit ihren Konzepten und Initiativen erhält, desto lauter prangert sie persönliche Verfehlungen im gegnerischen Lager an. Treibende Kraft hinter der Epidemie der Spenden-, Bestechungs-, Missbrauchs- und Jugendsündenskandale im vereinten Deutschland ist nicht die „heimliche Supermacht der kollektiven moralischen Gefühle”, sondern politische Ratlosigkeit.
FRANK BÖCKELMANN
KARL OTTO HONDRICH: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002. 166 S., 9 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Frank Böckelmann zeigt sich nicht wirklich überzeugt von Karl Otto Hondrichs "Phänomenologie des politischen Skandals". Wie Böckelmann ausführt, hat der Skandal für Hondrich eine positive gesamtgesellschaftliche Funktion, insofern er eine politische Selbstreinigung bewirken soll. Die Fähigkeit der Medien und Parteien, Skandale zu inszenieren, wird nach Hondrich dabei "grotesk" überschätzt, erläutert Böckelmann. Entscheidend für die moralische Entrüstung seien hingegen die von vielen geteilten moralischen Gefühle, das kollektive moralische Empfinden. Gegen Hondrich führt Böckelmann mehrere Kritikpunkte an. Zum einen veranschauliche Hondrichs Darstellung von großen Skandalen seine vorangestellte Skandaltheorie nur bruchstückhaft. Den Skandalen Tschernobyl, DDR und Haider etwa mangele es am Merkmal, plötzlich aufgedeckte Missstände zu sein. Des weiteren unterschätzt Hondrich nach Ansicht des Rezensenten die "entpolitisierende Leistung der skandalisierenden Medien". Und schließlich hält Böckelmann nicht das kollektive moralische Empfinden - laut Hondrich die "Supermacht der demokratischen Gesellschaft" - für die "treibende Kraft" hinter der Epidemie der Spenden-, Bestechungs-, Missbrauchs- und Jugendsündenskandale im vereinten Deutschland, sondern schlicht und einfach die grassierende "politische Ratlosigkeit".

© Perlentaucher Medien GmbH
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