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Justizpolitik muß registrieren, wie sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft entwickelt, um angemessen darauf reagieren zu können. Wolfgang Hoffmann-Riem nimmt diese Herausforderung an. Auf ihr Modernisierungspotential hin untersucht werden ausgewählte Bereiche der Rechtsordnung, die Justizverwaltung und nicht zuletzt die Justizausbildung in Deutschland.

Produktbeschreibung
Justizpolitik muß registrieren, wie sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft entwickelt, um angemessen darauf reagieren zu können. Wolfgang Hoffmann-Riem nimmt diese Herausforderung an. Auf ihr Modernisierungspotential hin untersucht werden ausgewählte Bereiche der Rechtsordnung, die Justizverwaltung und nicht zuletzt die Justizausbildung in Deutschland.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.07.2001

Die zwei Hälften einer Apfelsine
Ein Verfassungsrichter denkt über die Zukunft der Justiz nach und gibt der Mediation eine große Zukunft
WOLFGANG HOFFMANN-RIEM: Modernisierung von Recht und Justiz – Eine Herausforderung des Gewährleistungsstaates, Suhrkamp, Frankfurt 2001. 364 Seiten, 27,90 Mark.
Wer wissen will, wie die Justiz der Zukunft aussieht, muss zuvor die Justiz der Gegenwart betrachten. Deren Rituale sind eingeschliffen. In der Regel stehen sich zwei Parteien unversöhnlich gegenüber; jede reklamiert , sagen wir, das Eigentum an einer Sache. Beide behaupten zum Beispiel: „Die Apfelsine gehört mir.” Der Richter muss sich ans BGB (das Bürgerliche Gesetzbuch) halten, er darf nur einem der Kontrahenten die Frucht zusprechen. Dieses kategorische Entweder-Oder schließt andere innovative Lösungen aus.
Raum für Phantasie bietet dagegen eine moderne Methode der Streitschlichtung, die immer mehr an Boden gewinnt. Ihr Name: Mediation. Sie dient als Beispiel einer neuen Konfliktkultur und ist Teil einer Untersuchung über die „Modernisierung von Recht und Justiz” aus der Feder von Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem. Der renommierte Hamburger Rechtsprofessor, der als Wissenschaftler die Theorie beherrscht und als ehemaliger Justizsenator der Hansestadt auch die Praxis kennt, bringt alle Voraussetzungen mit für eine Bestandsaufnahme, die zugleich den Blick ins neue Jahrtausend wagt. Den Ansätzen für eine Justizreform, welche die Justizministerin Herta Däubler-Gmelin vorgelegt hat, bringt der Autor Sympathie entgegen; er selbst aber greift in seinem Buch viel weiter.
Der Apfelsinenstreit dient ihm als Schulbeispiel der Mediation. Wenn sie gelingt, löst sich der Konflikt in Wohlgefallen auf. Einzige Voraussetzung ist ein Wechsel der Perspektive: Von der herkömmlichen Betonung der Rechtsposition („Ich bin der Eigentümer”) zur Definition der eigenen Interessen („Was will ich mit der Sache anfangen?”).
„Sieht man hinter den Konflikt”, so Hoffmann-Riem, könnte sich herausstellen, dass die eine Person womöglich „nur den Saft der Apfelsine braucht – wegen des Vitamins C zur Bekämpfung des Schnupfens – , die andere aber nur die Schale, da sie mit ihrer Hilfe Orangenplätzchen backen will”.
Eine vergleichbare Interessenlage dürfte vielen Streitigkeiten zugrunde liegen. Die Konfliktparteien überhaupt zusammenzubringen, gilt schon als erster Erfolg der Mediation. Wenn es dazu kommt, eröffnet die neue Schlichtungsmethode Möglichkeiten, die dem Prozess nicht zur Verfügung stehen: „durch Schaffung neuer Tauschpositionen, durch Kompensation negativer Wirkungen, durch Eröffnung weiterer Lösungsoptionen”.
Neutral und fair
Der Mediator soll, so Hoffmann-Riem, „Neutralität mit Fairness kombinieren”, er muss „gegebenenfalls den Machtschwachen schützen”. Letztlich strebt er nach Akzeptanz, und zwar möglichst „auf der Basis eines Ergebnisses, das von den Betroffenen selbst als interessengerecht ratifiziert wird”. Mit dem Beispiel, das zeigt, was Mediation vermag, beschreibt der Rechtsprofessor ein Verfahren, das eine große Zukunft hat. Denn so lässt sich Rechtsfrieden eher herstellen als durch unendliche Prozesse.
Mediation bezieht ihre innere Legitimation auch aus der Tatsache, dass sich die staatlichen Gerichte „regelhaft nur mit fehlgeschlagenen Rechtsbeziehungen” befassen. Hoffmann-Riem: „Nicht der Normalfall der Beachtung von Rechtsnormen, sondern der pathologische Fall ihrer (behaupteten) Verletzung prägt das gerichtliche Aufgabenfeld.” So gesehen, sei die Befassung der staatlichen Gerichte Ausdruck eines Versagens der gesellschaftlichen Eigenregulierung. Mediation bedeute nichts anderes als Eigenregulierung. Hoffmann-Riems Handicap: Einem, der die Justiz nach Möglichkeiten der Modernisierung abklopft, fallen notwendigerweise zunächst mehr Fragen als Antworten ein. Sind fünf Gerichtszweige wirklich vonnöten? Müssen privates und öffentliches Recht nebeneinander bestehen? Ist das Grundgesetz ein Fundament der Zukunft? Wie lässt sich „die wachsende Gefährdung durch Private” abwenden? Braucht das Land so viele Richter, nämlich 26 auf 100 000 Einwohner? (Dagegen 10 in Frankreich und nur 5 in den USA.)
Solche Fragen beschreiben samt und sonders ein komplexes Thema. Was sich Hoffmann-Riem vorgenommen hat, läuft demzufolge auf eine Sisyphusarbeit hinaus. Er entledigt sich der Aufgabe mit Akribie und Eleganz. Doch eines konnte er – nach Lage der Dinge – unmöglich zustande bringen: eine Zukunftsvision aus einem Guss.
Zu unterschiedlich sind die Geschwindigkeiten, mit denen die Justiz mal Entwicklungen verschläft und mal der Zeit vorauseilt. In manchen Bereichen liegen Lösungen nach dem Geschmack des Autors in weiter Ferne – etwa bei der Harmonisierung der Rechtswege. Manches, etwa die Verdrängung des nationalen Rechts durch supranationale Normen, ist längst Realität; nur haben sie die meisten noch nicht bemerkt.
Tatsächlich sind die Veränderungen „der sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Realität” unverkennbar, doch Hoffmann-Riem sieht weit und breit niemanden, der sich mit der Frage beschäftigt, wie leistungstauglich die Strukturelemente der Rechtsordnung eigentlich noch sind. Es sei eine Aufgabe zukünftiger Justizpolitik, hier neue Konzepte zu entwickeln. Vorarbeiten gebe es so gut wie keine. Noch schlimmer: „In Deutschland findet auch keine intensivere Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Aufsplitterung der Gerichtsbarkeiten statt.”
Abwehren und schmollen
Fehlanzeige ebenso bei der Aufnahme des Europarechts. Die deutsche Justizpolitik sei „meist eher durch eine Abwehr- und Schmollhaltung geprägt”. Europarechtliche Vorgaben würden „häufig nur mit erheblicher Verspätung in deutsches Recht umgesetzt”. Bei der Ursachenforschung freilich macht sich Hoffmann-Riem die Sache zu leicht. So hält er der Kritik an den Defiziten der demokratischen Legitimation entgegen: Die Deutschen könnten von den Europäern lernen, dass es sehr unterschiedliche Wege der Legitimationssicherung gibt. Tatsächlich ist da aber nur ein weißer Fleck: Mit Ausnahme der Europaabgeordneten sind alle anderen Funktionsträger der EU für ihre weit reichenden Befugnisse nur kümmerlich legitimiert.
Des Nachdenkens wert ist dagegen die Klage des Professors über tradierte deutsche Vorurteile. Während die meisten Europäer der Verwaltung einen verhältnismäßig großen Vertrauensvorschuss entgegen brächten, seien die Deutschen von einem grundsätzlichen Mißtrauen gegen die Verwaltung erfüllt. Hoffmann-Riem warnt davor, die Administration „weiter vorrangig als Gegner von Freiheit und die Gerichte vorrangig als Verbündete der privaten Kläger” zu betrachten. Auf diese Weise würden die Gerichte „zum Machtverstärker (auch) solcher Privaten, „die „selbst Gefährder der Entfaltungsfreiheit anderer sein können”.
Wann immer der Staat die „Freiheitsausübung der Schwachen” fördere, erweise er sich aus der Sicht der Starken als Gefahr für ihre Freiheit. Das bedeutet: Über den Gleichheitssatz und die Frage, unter welchen Umständen Ungleiches seiner Eigenart nach verschieden behandelt werden darf, muss immer wieder neu nachgedacht werden. Wo da Nachholbedarf besteht, hat der Autor an anderer Stelle angedeutet: Womöglich sei gar nicht der Staat überfordert, „sondern die herkömmliche Theorie des Staates”.
Bei einer Realitätsprüfung würde sich unter Umständen herausstellen, in wie vielen Bereichen Theorie längst obsolet geworden ist. Tatsächlich stoßen Bürger nicht selten auf Kodifikationen, die nicht in Parlamenten beschlossen worden sind: zum Beispiel auf interne Rechtsordnungen multinationaler Konzerne; oder sie begegnen Eigenorganisationen etwa in den Bereichen Tourismus, Sport oder Kultur.
In der Datenverarbeitung schließlich verlaufen die Technologiesprünge und Verwendungsstrategien „schneller als die behördlichen Anpassungsreaktionen”. Während amtliche und private Datenschützer bis in die jüngste Zeit den Staat als potenziellen Störer im Auge hatten, setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass „Missbrauchsrisiken und Manipulationsgefahren in erster Linie von Privaten” ausgehen.
Eine Zahl macht die Dimension deutlich: dass im Durchschnitt jeder Bürger in etwa neunhundert Dateien erfasst ist. Hoffman-Riem deutet auf neuartige Gefährdungen hin, die entstehen, wenn die neuen Technologien eine leichte Zusammenführung unterschiedlich gewonnener Daten erlauben und wenn durch Kombination unterschiedlicher Daten neues Wissen geschaffen werden kann - ein Alptraum, der die Modernisierung von Recht und Justiz, die der Autor anmahnt, als überfällig erscheinen lässt.
ROLF LAMPRECHT
Der Rezensent ist Politologe und arbeitet als freier Journalist in Karlsruhe.
Mediation rettet zwar nur selten Ehen, kann aber Kindern Scheidungskriege ersparen. Psychologen und Sozialarbeiter votieren schon lange dafür; jetzt stellt sich auch die Justiz auf neue Formen der Konfliktlösung ein.
Foto: Ute Grabowsky
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine neue Konfliktkultur? Ein Bundesverfassungsrichter sagt, wie es gehen könnte. Und nimmt sich damit mächtig was vor, meint Rolf Lamprecht. Das Buch, schreibt er, greift schließlich noch über die öffentlich diskutierte Justizreform hinaus. Doch nicht umsonst ist der Autor in Theorie und Praxis bewandert: "Er entledigt sich der Aufgabe mit Akribie und Eleganz" - die neue Methode der Mediation wird schließlich am Schulbeispiel des Apfelsinenstreits plausibel. Kleine Wermutstropfen: "Eine Zukunftsvision aus einem Guss" kommt dabei ("nach Lage der Dinge") nicht heraus. Und bei der Suche nach den Ursachen für den Modernisierungsbedarf "macht sich Hoffmann-Riem" die Sache zu leicht.

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