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Im England der frühen Neuzeit konnte die schlichte Fähigkeit zu buchstabieren lebensrettend sein: Daran entschied sich nämlich, ob man der weltlichen Gerichtsbarkeit überantwortet wurde oder der geistlichen, die die Todesstrafe nicht kannte.
Greenblatt beschreibt in seinem Essay, der sich wie ein Wissenschaftskrimi liest, wie sich von dieser existentiellen Bedeutung aus der Literaturbegriff immer weiter verzweigte und wie aus einer "Buchstabenwissenschaft" Literaturwissenschaft im modernen Sinn wurde.
Ergänzt wird der Band durch eine Betrachtung zu einem der großartigsten Werke der Literaturwissenschaft, zu Erich Auerbachs Mimesis-Buch.
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Produktbeschreibung
Im England der frühen Neuzeit konnte die schlichte Fähigkeit zu buchstabieren lebensrettend sein: Daran entschied sich nämlich, ob man der weltlichen Gerichtsbarkeit überantwortet wurde oder der geistlichen, die die Todesstrafe nicht kannte.

Greenblatt beschreibt in seinem Essay, der sich wie ein Wissenschaftskrimi liest, wie sich von dieser existentiellen Bedeutung aus der Literaturbegriff immer weiter verzweigte und wie aus einer "Buchstabenwissenschaft" Literaturwissenschaft im modernen Sinn wurde.

Ergänzt wird der Band durch eine Betrachtung zu einem der großartigsten Werke der Literaturwissenschaft, zu Erich Auerbachs Mimesis-Buch.

Autorenporträt
Greenblatt, StephenStephen Greenblatt, geboren 1943 in cambridge (Mass.), ist John Cogan University Professor of the Humanities an der Harvard Universita und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er gilt als führender Theoretiker des New Historicism und zählt zu den bedeutendsten Forschern zu Leben und Werk William Shakespeares und des Elisabethanischen Zeitalters. eine große Studie über Shakespeare und seine Zeit, Will in the World (dt..: Will in der Welt, 2004), wurde ein Weltbestseller.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2000

Grabungen in Auerbachs Keller

Gerade Fragen sind die Daumenschrauben der Aufklärung. Entschlüpfen kann ihnen nur, wer mit einer umwegigen Erzählung nachölt. Dem weisen Nathan etwa - "Nicht die Kinder bloß speist man / Mit Märchen ab" - fällt die Ringparabel im rechten Augenblick ein, als er Leib, Leben und Vermögen zu verlieren droht. Statt die eine wahre Religion zu Protokoll zu geben, weicht er ins Fabulieren aus. So zieht der Paraboliker den Kopf aus der Schlinge und dröselt den Galgenstrick zum unaufhaltbar dünnen Fädchen auf. Jedes Beispiel dient dem Atemholen, jede Anekdote räumt Verschnaufpausen ein. Und der aufgeklärte Inquisitor vergißt darüber, daß er nur das eine Wort hören wollte.

Das neue Buch von Stephen Greenblatt verspricht auf dem Titel einen kurzen Prozeß (Stephen Greenblatt: "Was ist Literaturgeschichte?" Aus dem Englischen übersetzt von Reinhard Kaiser und Barbara Naumann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 101 S., br., 14,90 DM). "Was ist Literaturgeschichte?" lautet die Fangfrage, die nicht einmal Günter Jauch seinen wissenssatten und geldhungrigen Kandidaten zumutet. Sie zielt ins Herz der Theoriefinsternis, wo alle Gehirnzellen grau sind, berührt das letzte Welträtsel und kann deshalb so nur auf den Berliner Festspielen gestellt werden, die auch ihre Publikation im Suhrkamp Verlag fördern. Dieser Vortrag ist Teil einer Vortragsreihe, die sich laut Vorwort der "gänzlichen Illusionslosigkeit über das Zeitalter" anheimgibt: Hat dem Leser das apokalyptische Stündlein geschlagen? Ist die Literaturgeschichte schon das Weltgericht? Gibt es ein Leben nach dem Berliner Festspielende? Warum und zu welchem Ende studiert man dieses Buch?

Wer Greenblatt kennt, weiß, daß die ultimative Antwort auf all diese letzten Fragen von ihm nicht zu befürchten ist. Der Begründer des "Neuen Historismus" (Lokalausgabe Berkeley) und Experte für englische Renaissance hat in seinen früheren Arbeiten vorgeführt, daß ihm nichts fremder als ein solches Fragespiel ist. Und auch in diesem Falle ist der Buchtitel ein Holzweg, der in ein weitgehend unterhaltsames Dickicht führt, weit ab vom geraden Weg der Examenserkenntnis.

Greenblatt behauptet, daß Literalität in der frühen Neuzeit vor Leibesstrafen schützte. Wer vor Gericht Psalm 51, den "Galgenpsalm", laut und vernehmlich vorlesen konnte, zeigte Bildung und rettete sein Leben. Er wurde an ein geistliches Gericht überstellt, daß grundsätzlich keine Todesstrafe verhängte. Literalität war also kein Unschuldserweis, wohl aber Grund einer Strafmilderung. Abgeschafft wurde dieses Vorleseprivileg im Jahr 1705, als die Schulbildung zu weit um sich gegriffen hatte und den Henker zu langweilen drohte. Kurz zuvor aber hatte sich bereits ein anderer Inquisitor der Literatur angenommen. Francis Bacon wollte neben der Natur auch die Gelehrsamkeit auf die Folter legen und entwarf 1623 in seiner "Instauratio Magna" den Plan einer Literaturgeschichte. Die wichtigsten Bücher aller Epochen sollten ausgewählt und in ihrer genealogischen Verflechtung untersucht werden. Durch gelegentliche "Kostproben" sollte "der literarische Geist jedes Zeitalters gleichsam von den Toten herbeigezaubert werden".

Der ganze Vortrag, so weiß der Greenblatt-Leser, ist nur für diese schöne Stelle geschrieben. Sie zitiert nämlich den Einleitungssatz aus Greenblatts wichtigster Arbeit, den "Verhandlungen mit Shakespeare": "Es begann mit dem Wunsch, mit den Toten zu sprechen." Dieser Satz ist eine theoretische Dreistigkeit, doch einem kundigen Erzähler angemessen. Im "King Lear" hat Shakespeare sein Spiel mit der Geisterbeschwörung getrieben, irgendwo zwischen Schein und Sein, Aberglaube und Theater. Exorzistische Formeln wurden damals auf die Bühne geholt, man wiederholte rituelle Worte, machte sich lustig und hatte doch teil an ihrer Kraft. Shakespeare nutzte ihre "ontologische Ambiguität" und tanzte virtuos auf der Kippe, die von der Orthodoxie in die Subversion umschlug. Beides war ununterscheidbar, und beides wollte diese Ununterscheidbarkeit.

Greenblatt ist in diesem Moment näher an seinem Untersuchungsgegenstand, als es dem kühlen Kopf der Wissenschaft sonst gestattet ist. Der "Neue Historismus" verwandelt sich der Geistererscheinung an und läßt auch im unklaren, welchen Status der beschworene Autor besitzt: kein Text allein, den man kalten Herzens in seine poetischen Formen zerlegt, sondern ein lebendiger Gesellschaftskörper, an dessen Stoffwechsel man mit heißem Sinn teilhat. Greenblatts Anekdoten, die er mit verschwenderischer - und nicht immer sicherer (F.A.Z. vom 7. Februar 1996) - Philologie ausbreitet, sind selbst Beschwörungsgesten, die über ihre Wahrheit keine Auskunft geben. Das läßt an ihrem Unterhaltungswert nicht zweifeln, mindert aber die theoretische Einsatzfreunde. Deshalb ist der Titel des Buches, die Frage nach der Literaturgeschichte, eine Herausforderung - an den Leser; der Autor behandelt sie eher beiläufig.

Zusammengebunden wird der kleine Vortrag mit einem rätselhaft fehlplazierten Beitrag von Catherine Belsey, vielleicht eine methodologische Entgegnung, sicher aber eine langweilige. Ob Greenblatt in Francis Bacon einen Frühaufklärer vorstellt, der selbst Exorzismen betreibt, oder in Erich Auerbach einen Leser des Minimalistischen findet, der ein großes Museum des untergehenden Abendlandes einrichten wollte - immer ist der Salto mortale ins Ambigue die letzte Denkübung. Das ist gute dekonstruktive Schule, die mit der Historie ihr Repertoire verbreitert, kaum aber verändert hat. Man liest es gern und freut sich an "Zirkulation" oder "sozialer Energie", der man überall bei der Alltagsarbeit zuschauen kann. Was ist Literaturgeschichte? Greenblatt muß ein solches Sekundenquiz der Komödie zurechnen.

THOMAS WIRTZ

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Thomas Wirtz hat gut daran getan, sich auf seine Greenblatt-Kenntnisse zu besinnen und die Titelfrage nicht als "Sekundenquiz" aufzufassen: Der Buchtitel sei ein Holzweg, der mitnichten zur Examenserkenntnis führe, die Frage nach der Literaturgeschichte eine Herausforderung, die der Autor eher beiläufig behandle. Stattdessen, so Wirtz, gehe es in ein "weitgehend unterhaltsames Dickicht". Dickicht aber bedeutet das Gegenteil von Klarheit, in diesem Fall philologischer Klarheit, dessen sollte sich der Leser schon bewusst sein. Allein von den "Beschwörungsgesten" Greenblatts, "die über ihre Wahrheit keine Auskunft geben", und den regelmäßigen Salti des Autors ins Ambigue, spricht der Rezensent nicht ohne Sympathie: "Man liest es gern". Dergleichen auch von der "methodologischen Entgegnung" Catherine Belseys zu behaupten, die dem Vortrag beigegeben ist, fällt ihm allerdings nicht ein.

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