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Produktdetails
  • rororo Taschenbücher
  • Verlag: Rowohlt TB.
  • Seitenzahl: 90
  • Gewicht: 129g
  • ISBN-13: 9783499226830
  • ISBN-10: 3499226839
  • Artikelnr.: 26057785
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2000

Lesen Sie mich trotzdem!
Aber treten Sie mir nicht zu nahe . . .
Missbrauch der Shoah und Kapriolen der Sprache des Zorns: „Macht nichts” von Elfriede Jelinek
Dafür sorgt die Autorin auffällig unauffällig: dass ihre Figuren am Ende einen Wunsch frei haben. Sie könnten sich die Welt so vollkommen machen, wie das Wünschen sie gern hätte.
Doch es zeigt sich, dass ein im höheren Sinn Wirkliches der realen Welt nicht mehr denkbar ist, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die Wirklichkeit nur wirklich war. Das Fiktive ist ins Reale eingedrungen, das Mögliche vom Wirklichen aufgezehrt. Um seiner Rückgewinnung willen wünscht sich das Märchen, das aus Schneewittchens Munde spricht, eine restlos aufgeklärte Welt, nach der Märchen wieder erzählt werden könnten. Schneewittchen ist die Figur eines allegorischen Zwischenspiels, das Aspekte des Märchendramoletts von Robert Walser zu einem Endspiel des Fiktiven arrangiert. Schneewittchen stirbt am Mangel dessen, was sein und denkbar sein sollte.
Zu ihrer Linken und Rechten in den Seitenflügeln des Triptychons eine tote Burgschauspielerin, die Hauptfigur des Stücks Burgtheater, das nun, 15 Jahre nach der Uraufführung, zu Ende gespielt wird, und der Insasse eines Irrenhauses. Sie könnten jener Enzyklopädie der Toten entstammen, die durch exakte Aufzeichnungen jedweden Lebens das Verschwinden von Menschen aus dem Gedächtnis verhindert. Elfriede Jelinek hat auf die gleichnamige Erzählung von Danilo Kiš gelegentlich hingewiesen.
Die tote Burgschauspielerin, die in großer Nähe zu den Mächtigen des Dritten Reichs zum Star aufstieg und nun nach alter Sitte dreimal um das Burgtheater getragen wird, wünscht sich nichts weiter als das Ende der Vorstellung. In ihrem Fall ist der Tod ein gefallener Vorhang wie jeder andere. Das Spiel geht weiter, denn ihr Ruhm bleibt, ihre Macht über die Gefühle der anderen. Sie war seine leere Hülle, restlos ausgehändigt an ihr Publikum, dem sie nun in einer letzten Kommunion ihr totes Fleisch zuwirft.
Ihr gegenüber auf dem rechten Seitenflügel dasselbe Schauspiel eines Opfers. Der vernünftige Irrsinnsmensch trennt sich von seinem Selbst und dem, was es an Identität, Bedeutung, Geltung und Vermögen sein eigen nennt, seinem freien Willen, Geist, Verstand und naturwissenschaftlichen Genie. Die Verwandlung in eine provisorische Hülle seiner selbst ist eine List, die Verdinglichung eine Tarnung seiner jüdischen Existenz. Er mindert sich zum willenlosen Objekt, so entgeht er im Dritten Reich dem Zugriff seiner rassistischen Verfolger. Ihnen, den deutschen Herrenmenschen, schenkt er seinen Wunsch.
Die Wünsche beider entspringen einem Leben nach der Katastrophe, das die letzte aller Hoffnungen zunichte machte, den apokalyptischen Glauben an eine Wiedergeburt aus der Zerstörung. Die Katastrophe besteht vielmehr darin, dass es so weiter geht, dass die Täter Täter bleiben und die Opfer Opfer. Die Diva lebt, zum Fernsehserienliebling heruntergekommen, in ihren Töchtern fort. Die Opfer aber werden zum Gegenstand des Bedürfnisses nach Deutung und Sinnstiftung. Der Verfolgte, bemerkt die Autorin in ihrem Nachwort, betätige auf seinem Weg die Zeitschranke – und landet, heißt das wohl, mitten in einer 25 Jahre alten Gegenwart.
Das Vergessen, Verleugnen, Verbergen ist einem Plündern der Opfer gewichen. Seit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holocaust im Jahre 1979 hat das Bedürfnis des Publikums nach authentischen Opfergeschichten zu dem geführt, was der Historiker Ulrich Speck im Merkur als „Shoah-Business” bezeichnet, das Geschäft mit der Fiktion jüdischer Opferauthentizität. Auf die „Wilkomirski”-Fälschung, das Falsifikat jüdischer Identität, eines vorgetäuschten Opferschicksals, weist die Autorin ausdrücklich hin. Die hessische CDU denkt unsereins heute dazu.
Dem Fälschungsbetrieb setzt sie die Unnatürlichkeit des Natürlichen entgegen. Ihre Figuren sind so real wie nötig und so weit entfernt von jeder personalen Identität wie möglich. Die Burgschauspielerin heißt vermutlich Paula Wessely, der sanfte Irrenhausbewohner ist der Vater der Autorin, der seiner jüdischen Herkunft wegen im Dritten Reich gefährdet war, als Chemiker Unterschlupf fand und, „damit die Räder rollen konnten für den Sieg”, einen kriegswichtigen Klebstoff für Treibriemen erfand. Den Irrwitz seiner Existenz besiegelte er nach dem Krieg in einer Nervenheilanstalt.
Ein Werk der Auflösung
Die Entstellung der Person im Leben wird nun im Spiel zur Verstellung, zu einem Spiel mit Masken und Rollen. Gegeben werden der Erlkönig, Der Tod und das Mädchen und die Winterreise. Doch den Sinngebilden Goethes, Müllers und Schuberts setzt die Autorin ein Werk der Auflösung entgegen, dessen Technik an Penelopes nächtliche Trennarbeit erinnert. Die Texte werden aus ihren Realitätsbezügen gelöst und in einem selektierenden Umbauverfahren in ein Arrangement von Aspekten des ursprünglichen Sinnkonzepts verwandelt, am radikalsten der Erlkönig. Der mörderische Albtraum leiht sich die Stimme der Heroine aus der Zeit des Dritten Reiches und verwandelt sich in einen aktuellen Kommentar seiner selbst.
Bestimmbar sind die Rollen und Masken mit Hilfe des Signalrepertoires der Monologe, identifizierbar die Figuren als Treffpunkte von Vortexten und Doubletten literarischer Figuren und Dichtergestalten. Namentlich der Wanderer erscheint als figürliches Kaleidoskop aus Rollen, Stoffen und Themen. Die Gestalt Robert Walsers gehört dazu mit seinen Diener- und Spaziergängerfiguren, aber auch Heideggers Eigentlichkeitskitsch und die Populär- und Trivialkunst von Fernsehserien, Groschenheften, Schlagern und Werbung, im Fluchtpunkt der Bezüge das Wanderervolk der Juden und ihr Buch, die Bibel.
Die Autorin übernimmt den erzählerischen Grundriss und bestimmten Sinn der Winterreise, auf die sie in einer dichten Reihe von Zitaten verweist. Doch bei der Aktualisierung des Stoffes, seinem Vorrücken in der Zeit verschiebt sich das Geschehen in eine Übergangsform zwischen Fiktionalem und Realem. „Also wirklich ist mein Sterben irgendwie schon”, könnte der Wanderer mit der Frauenfigur aus dem Sportstück sagen, nur führt seine Lebensreise in eine Gegenwart, in der den alten Wörtern ihre Gegenstände abhanden kommen. Sie verlieren ihren Sinn. Weg, Wasser, Baum, Rinde, Herz machen sich selbständig und treiben Allotria bis zu dem Grade, dass sie sich gegenseitig auslöschen. Den frivolen Kapriolen fällt auch der Gegensatz von Leben und Tod zum Opfer und damit der alten Schicksalssinn, das Tragische und der Wunsch des Wanderers nach Ablösung.
Die methodische Absurdität seiner Sprache spiegelt ein Bewusstsein, das sich wie Walsers Simon Tanner „nur so um die Ecken und durch die Spalten des Lebens schleicht”. Der Ton höflichen Einverständnisses und raffinierter Einfalt gipfelt am Ende des Monologs in der Annullierung des Unterschieds zwischen Tätern und Opfern: „Sollen die deutschen Herren jetzt aus ihrer Wichtigtuerei herauskommen oder nicht? Wie wird es gewünscht? Kämen sie heraus, könnten sie ein Stückchen mit mir gehn, bitte gern, willst du mit mir gehn, oh wär das schön, das Land, in dem die Rosen blühn. Ein großes Unrecht, was ihren Köpfen angetan wird. ”
Der Wanderer spielt seine Rolle des mitten im Leben Verschollenen konsequent zu Ende, indem er der Schuldtilgung der Täter zuvor kommt – wäre da nicht die Autorin, die hörbar schon den Schlusssatz in Kipplage hebelt. Der Vater hat das letzte Wort, aber er behält es nicht. Dafür sorgen die hinterhältigen Harmonien ihrer Komposition: die Bildsymmetrie, das Gleichgewicht von Täter- und Opferfigur auf der horizontalen Achse.
So entschieden die Autorin ihre Texte relativiert und in Verweisstationen einander überschneidender Vortexte verwandelt, so wenig lässt sie es an Bestimmtheit fehlen, wo an den Rändern des Triptychons der Magnet ins Bild rückt, der die Figuren anzieht und abstößt und das Überlebensritual und den Vernichtungsakt in den Seitenflügeln des Triptychons lenkt. Die Inszenierung der Körper lenkt den Blick auf Berührungszonen, die den Textraum nach außen aufschließen und den unsichtbaren Dritten zeigen: Canettis Masse und Macht, die Steigerung von Macht durch die Masse. In der Darstellung Elfriede Jelineks freilich wird die gesellschaftliche Konfliktstätte historisch bestimmt und aus der Perspektive des verletzlichen Individuums besichtigt, voll wunderbar kapriolenden Zorns.
„Macht nichts”, sagt Elfi Elektra, die Figur der Autorin in Sportstück. „Lesen Sie mich trotzdem! Aber treten Sie mir nicht zu nahe, weil ich immer so zornig bin. . .” Wenn die Leser hierzulande der Einladung doch nur folgten. Dem unscheinbaren kleinen Buch mit der großen Stimme sind sie massenweise zu wünschen.
SIBYLLE CRAMER
ELFRIEDE JELINEK: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999. 92 Seiten, 18 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2000

Das Leben, ein Spottstück
Auch Hohn ist eine Form der Ironie: Elfriede Jelineks kleine Trilogie des österreichischen Todes · Von Christoph Bartmann

"Die Texte sind für das Theater gedacht", schreibt Elfriede Jelinek in ihrer Nachbemerkung zu diesem kleinen Band mit Prosatexten, "aber nicht für eine Theateraufführung. Die Personen führen sich schon selber zur Genüge auf." Es ist diese Sorte dekonstruktiver Kalauer, die den Jelinek'schen Text, sei es Theatermonolog oder Nachbemerkung, seit jeher zum Laufen bringt. Doppelbelegung ist bei ihr der semantische Regelfall, und wer bei "Belegung" zum Beispiel an Fremdenzimmer denkt, hat sich am Geist von Jelineks Produktivität keinesfalls versündigt; er ist ihr ganz nah. "Heute gibt es ja nichts Großes mehr", spricht die berühmte, aber tote Burgschauspielerin, "außer dem Skifahrer, der aufs Ziel zustößt, oder dem Rennfahrer, dem etwas anderes zustößt." An einer anderen Stelle ist folgende Sentenz zu lesen: "Jeder trägt sein Ablaufdatum, weil das Leben ein Abfahrtslauf ist." Das Leben, ein Sportstück? Hinter den Spruchweisheiten zeichnet sich vage eine Landschaft ab, Jelineks österreichische Todeslandschaft mit Wintersportlern, Sommerfrischlern und Burgschauspielern.

Der Inhalt der drei kleinen Wortanfälle ist schnell erzählt. In "Erlkönigin" wird eine Burgtheater-Doyenne nach alter Sitte dreimal im Sarg um das Burgtheater herumgetragen. "Die Knochen stehen überall heraus. Ab und zu schneidet sie sich ein Stück Fleisch heraus und wirft es ins Publikum." Die Burgschauspielerin deliriert währenddessen über ihr Verhältnis zur Macht; über die Macht, die sie spielend über die Zuschauer ausübt, und über die Machthaber, denen sie sich einstmals bereitwillig andiente.

Es folgt "Der Tod und das Mädchen", der Dialog zweier überlebensgroßer Wollfiguren, deren eine Schneewittchen darstellt, während die andere einen Jäger mimt. Es geht in diesem metaphysisch-dadaistischen Märchen-Intermezzo um das Gute, Wahre und Schöne unter besonderer Berücksichtigung der weiblichen Kosmetik und Kosmologie. "Was ist das für ein unerkannter Schein, den Sie mir da immer noch ins Gesicht halten? Das Lange und Dünne", fragt Schneewittchen am Ende den Jäger. Es ist ein Schießgewehr, und ein paar Sätze später ist Schneewittchen tot, ohne die sieben Zwerge getroffen zu haben, "auf die es so scharf ist, weil sie selber ziemlich scharf sein sollen". Den letzten Teil der Trilogie bildet "Der Wanderer". Ein alter, geisteskranker Mann, der Vater der Autorin, kann und will nichts mehr als "wandern wandern". Von Ferne winkt Heidegger mit seinem Stock.

Es sind ja keine brillanten, keine scherzhaften, sondern eher fast schmerzhafte Wortwitze, die Jelinek unterschiedslos ihren Sprechern und sich selbst in die Münder legt. Es scheint fast, als täte sie auf diese Weise Buße für die Gemeinheiten des alltäglichen Sprachgebrauchs. Sie sühnt diese nicht durch Enthaltsamkeit, sondern durch Prostitution. Die Münzen des Sprechverkehrs können ihr gar nicht abgegriffen genug sein. Es kann ja unter dem Regime des Geldes, des Phallus und der "Neuen Kronenzeitung" eine unentfremdete Sprache auch gar nicht geben.

Früher hätte man Elfriede Jelineks Kunst "ideologiekritisch" genannt. Sie ist es immer noch, auch wenn man dieselben Verfahren schon lange "Diskurskritik" nennt. Zum kritischen Denken gehört der Anspruch auf Erlösung, wenigstens aber auf Aufklärung. Ist Aufklärung durch Begriffe herzustellen, so erlangt man Erlösung allein durch Musik. Indem sich bei Jelinek die Sprache auf dem Niveau ihrer Sprecher selbst aufführt, beginnt sich das banale Sprachmaterial musikalisch zu organisieren.

Aus "Leid" wird, vermittels eines romantischen Zauberstabes, "Lied". "Wie zum Hohn", schreibt Jelinek, habe sie den Teilen der Trilogie Titel von Schubert-Liedern gegeben: "Erlkönigin" (das weibliche Suffix stammt von ihr), "Der Tod und das Mädchen" und "Der Wanderer". Der Hohn ist eine Form der Ironie, und Schmerz kann seine Quelle sein. Am Ende sind alle Theaterfiguren abgeräumt und es redet nur noch die Autorin. "Ich rede und rede", so wie der Vater wandert und wandert. Sie redet von Tätern und Opfern, sie redet von einem Krieg, den eine Macht führt, "die kein Ziel hat, sondern deren Ziel die Ermächtigung ihrer selbst ist", von der "Aufdringlichkeit der jeweiligen Moderne, die alles nivelliert hat", und wir wissen nicht genau, was wir da hören und wem wir da zuhören, aber auch das macht nichts, weil sich Jelineks beschädigte und beleidigte Sprache ganz wundersam in Musik verwandelt hat.

Elfriede Jelinek: "Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes". Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999. 92 S., br., 18,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Zwiespältig beurteilt Franz Haas diesen Band. So findet er, dass "dieser scheinbar ungeniessbare Sprachstil eine legitime Medizin gegen Gedächtnisschwund" ist. Haas geht in seiner Rezension mit deutlichem Befremden auf die Nachrufe zum Tode der Schauspielerin Paula Wessely ein, deren Rolle im Nationalsozialismus in diesen Nachrufen weitgehend unter den Teppich gekehrt wurde. Dass Jelinek mit Wessely in ihrer Erzählung "Erlkönigin" um so härter ins Gericht geht, "möge unsympathisch" erscheinen, so Haas. Dennoch findet er diesen korrigierenden Kontrast angesichts der hagiografischen Nachrufe durchaus angebracht. In sprachlicher Hinsicht hat Haas an diesem Band jedoch einiges auszusetzen. Die Monologe stellen "die Geduld auf schwerste Proben", findet er. "Halb Heidegger, halb Kronen-Zeitung" sei der Jargon, wobei seiner Ansicht nach die Grenzen zwischen Rhetorik und Kritik Jelineks fließend sind. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass Haas die Österreich-Kritik Jelineks zwar bisweilen mechanisch und penetrant, aber gleichermaßen angebracht findet. Das "Wortturnen" in ihren Texten kann er jedoch nicht wirklich ernst nehmen.

© Perlentaucher Medien GmbH